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NORDAMERIKA/021: Indianer fordern Maßnahmen gegen Krise in ihren Gemeinschaften


Presseerklärung vom 29. Juni 2007

Nationaler Aktionstag am 29. Juni 2007

Kanadas Indianer fordern wirksame Maßnahmen gegen die Krise in ihren Gemeinschaften


Mit einer Fülle von friedlichen Mahnwachen, Demonstrationen, Pressekonferenzen und anderen öffentlichkeitswirksamen Aktionen wollen die kanadischen Indianer am heutigen "Nationalen Aktionstag" auf ihre dramatisch schlechte Situation aufmerksam machen. "Sie fordern wirksame Maßnahmen gegen die Krise in ihren Gemeinschaften, denn angesichts der großen Armut, des grassierenden Rassismus und ungeklärter Landrechtsprobleme nehmen Hoffnungslosigkeit und Verbitterung gerade unter jungen Leuten zu", berichtete die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) am Freitag.

Nach Angaben der Assembly of First Nations (AFN), des Dachverbands der Indianischen Nationen Kanadas, leben die Indianer unter Dritte-Welt-Bedingungen. So schlecht seien ihre Wohnverhältnisse mit viel zu vielen Menschen auf engstem Raum, ihre gesundheitliche Verfassung oder ihre Versorgung mit sauberem Trinkwasser. Die Suizidrate sei unter indianischen Jugendlichen sechsmal höher als bei ihren nicht-indianischen Altersgenossen. Armutskrankheiten seien verbreitet. Die Zahl der an Tuberkulose erkrankten Indianer beispielsweise läge um das Acht- bis Zehnfache über dem nationalen Durchschnitt, die der Diabeteskranken um das Zwei- bis Dreifache, die der AIDS-Kranken sogar um das Sechsfache.

"Der kanadischen Regierung unter Stephen Harper werfen die Indianer vor, Vereinbarungen zur Verbesserung ihrer Lage nicht einzuhalten", sagte die GfbV-Referentin für indigene Völker, Yvonne Bangert. Die im AFN zusammengeschlossenen Häuptlinge der indianischen Gemeinschaften waren mit der Vorgängerregierung übereingekommen, dass der Lebensstandard der Ureinwohner u.a. in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Wohnungswesen, Infrastruktur und Wirtschaft bis 2016 dem der übrigen kanadischen Bevölkerung angeglichen wird. Dieser so genannte Kelowna-Prozess wird seit Amtsantritt von Harper 2006 nicht fortgesetzt.

Aufgerufen zu dem heutigen Aktionstag hat die AFN, die die mehr als 600 indianischen Völker Kanadas vereint. Mit ausdrücklich friedlichen Aktionen will sie um die Solidarität der kanadischen Bevölkerung werben. Offiziell leben in Kanada knapp 1.320.000 Ureinwohner, von denen die Indianer oder First Nations mit fast 960.000 die größte Gruppe bilden.


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First Nations haben Grund zur Klage

Stolen Sisters:
Mindestens 500 indianische Frauen und Mädchen sind in den vergangenen 20 Jahren in Kanada Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen oder ganz einfach "verschwunden". Darauf hat die GfbV anlässlich des UN-Tags zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen im November 2006 hingewiesen. Sie unterstützt die Kampagne der Vereinigung der indianischen Frauen Kanadas (Native Women's Association of Canada NWAC) und von ai-Kanada "Sisters in Spirit". Die Frauen werden doppelt diskriminiert, als Indianerin und als Frau.

Lubicon Cree ohne Rechte:
Entgegen der ausdrücklichen Empfehlungen der Vereinten Nationen sind die heute etwa 500 Lubicon Cree im Norden Provinz Alberta noch immer nicht als First Nation anerkannt. Ureinwohnerrechte können sie nicht in Anspruch nehmen. Obwohl die Verhandlungen zwischen ihnen und der Bundes- sowie der Provinzregierung noch nicht abgeschlossen sind, vergibt die Regierung von Alberta Abbaulizenzen über das umstrittene Land, das in dieser auch als Kanadas Öl-Dorado bezeichneten Region u.a. durch ergiebige Teersandvorkommen interessant ist.

Der "Ipperwash-Zwischenfall":
Erst nach zwölf Jahren hat ein offizieller Untersuchungsbericht nun endlich eingeräumt, dass verschleppte Landrechtsverhandlungen, das überstürzte Handeln der Provinzregierung von Ontario und das kulturell unsensible Verhalten der Polizei 1995 zum Tode des Chippewa-Indianers Dudely George geführt hatten. George war im Zuge einer friedlichen Landbesetzung von einem Scharfschützen der Polizei angeschossen worden und verblutete, weil die Sicherheitskräfte eine rechtzeitige medizinische Versorgung verhinderten. Bis heute gibt dieser Zwischenfall Anlass zur Verbitterung der Indianer Ontarios.

Verschwundene Kinder:
Schmerzhaft für viele indianische Familien ist bis heute die Erfahrung sexueller, physischer und psychischer Gewalt in staatlichen Internatsschulen, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts bis Mitte der 1990-er Jahre betrieben werden. Die Kinder wurden notfalls mit Gewalt aus den Familien herausgeholt und zum Besuch dieser in kirchlicher Trägerschaft stehenden Schulen gezwungen. Viele Kinder überlebten ihre Schulzeit nicht, starben an Infektionskrankheiten oder durch Suizid, und wurden ohne Wissen ihrer Angehörigen auf dem Schulgelände vergraben. Die Organisation "Freunde der Verschwundenen" fordert von den Kirchen, sich zu dieser Verantwortung zu bekennen. Sie möchte die Kinder exhumieren und von ihren Familien in den Heimatgemeinden beisetzen lassen.

"Allgemeinen Erklärung zu den Rechten indigener Völker":
Im November 2006 lehnte die UN-Vollversammlung u.a. mit der Stimme Kanadas die Verabschiedung der "Allgemeinen Erklärung zu den Rechten indigenen Völker" zum Entsetzen der Assembly of First Nations ab. Diese Erklärung spricht den Ureinwohnern weltweit u.a. Selbstbestimmung, Recht auf Mitwirkung in staatlichen Institutionen, Anspruch auf staatsbürgerliche Rechte, Schutz der sprachlichen, kulturellen und spirituellen Identität, oder auch das Recht auf Bildung zu. Eine zentrale Forderung des Nationalen Aktionstages ist es daher, dass die Regierung Harper ihre Blockadehaltung aufgibt und die Allgemeine Erklärung unterstützt.


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Quelle:
Presseerklärung Göttingen vom 29. Juni 2007
Herausgeber: Gesellschaft für bedrohte Völker e. V.
Postfach 20 24, D-37010 Göttingen,
Tel.: 0551/49906-0, Fax: 0551/58028
E-Mail: info@gfbv.de
Internet: www.gfbv.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Juni 2007