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RUSSLAND/109: Dagestan - Protest der Kumüken nicht eskalieren lassen!


Presseerklärung vom 11. Juni 2012

Explosiv: Hunderte Demonstranten harren seit Wochen in Zeltlager aus

Protest der Kumüken in Dagestan für mehr Selbstbestimmung nicht eskalieren lassen!



Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) hat am Montag an die russische Regierung in Moskau und die dagestanische Regionalregierung appelliert, die anhaltenden Proteste der turksprachigen muslimischen Kumüken in der unruhigen Republik Dagestan nicht länger zu ignorieren. "Noch besteht die Chance, die Probleme der Kumüken, die gewaltlos für mehr Selbstbestimmung und den Erhalt ihrer Sprache und Kultur demonstrieren, friedlich zu lösen. Bitte nehmen Sie schnell den Dialog mit ihnen auf", hieß es in Schreiben der Menschenrechtsorganisation an den russischen Präsidenten Wladimir Putin und den Präsident der Republik Dagestans, Magomedsalam Magomedow. "Dagestan steht bereits am Rand eines Bürgerkrieges, bitte lassen Sie den Protest der Angehörigen dieser Volksgruppe nicht auch noch eskalieren. Jeder zusätzliche Streit geht zu Lasten der Zivilbevölkerung."

Bei mehreren Anschlägen und Attentaten, für die der islamistische terroristische Untergrund verantwortlich gemacht wird, starben in Dagestan seit Mai 2012 mindestens ein Dutzend Menschen. Seit Anfang 2012 wurden mehr als 20 Personen in der russischen Teilrepublik als vermisst gemeldet. Polizei und Militär reagieren mit Antiterroroperationen, d.h. mit willkürlicher Gewalt, Verhaftungen, Folter und dem Verschwindenlassen auch Unschuldiger. Terroristen und Sicherheitsapparat untergraben jegliche politische Initiative zur Lösung des Konflikts.

Weil sie sich vernachlässigt, diskriminiert und von anderen Volksgruppen aus ihrem Gebiet verdrängt fühlen, haben Hunderte Kumüken Ende April nördlich von Machatschkala, der Hauptstadt Dagestans, eine Zeltlager aufgebaut. Sie fordern einen eigenen Landkreis und Selbstbestimmung, um ihre Sprache und Kultur erhalten zu können. Bisher wurde diese Protestaktion von Politik und Medien systematisch ignoriert. Doch sie birgt bedrohlich viel sozialen Sprengstoff, warnt der unabhängige Experte für ethnische Minderheiten und internationale Beziehungen, Ramazan Alpautow: "Die moderaten Aktivisten im Lager verhindern, dass Jugendliche in das Camp gelangen. Ansonsten hätte sich die Bewegung womöglich schon radikalisiert." Alpautow ist selbst Kumüke und war bis vor kurzem für das russländische Regionalministerium tätig.

Die Kumüken stellen mit 431.700 Angehörigen die drittgrößte Volksgruppe in Dagestan. Anders als die noch zahlreicheren Awaren und Darginer bewohnen sie traditionell nicht die Bergregionen der Republik, sondern die Tiefebene zwischen Kaspischem Meer und dem Vorgebirge. Ihre Anzahl hat sich seit den 1940-er Jahren verfünffacht und es steht ihnen nicht mehr genug eigenes Land zur Bewirtschaftung zur Verfügung. Während des Zweiten Weltkrieges wurden Teile des kumükischen Volkes nach Tschetschenien deportiert, weil auf ihrem Land erst Ölvorkommen vermutet wurden und schließlich dort Kolchosenwirtschaft betrieben werden sollte. Die vertriebenen Kumüken wurden in Quartieren angesiedelt, aus denen zuvor Tschetschenen Richtung Zentralasien deportiert worden waren. Als die Tschetschenen 1957 zurückkehren durften, verdrängten sie die Kumüken wieder. Doch diese konnten nicht zurückkehren, weil ihre Häuser und ihr Land anderen Eigentümern übertragen worden waren. Dieses Unrecht ist bei den Kumüken bis heute unvergessen und wurde zum kollektiven Trauma.

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Quelle:
Presseerklärung Göttingen/Berlin, den 11. Juni 2012
Herausgeber: Gesellschaft für bedrohte Völker e. V.
Postfach 20 24, D-37010 Göttingen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juni 2012