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AUFRUF/040: Unterstützung für Pinar Selek (P.E.N.-Zentrum Deutschland)


P.E.N.-Zentrum Deutschland - Mai 2010

Höchster türkischer Gerichtshof fordert lebenslänglich für
Schriftstellerin und Menschenrechtsaktivistin PINAR SELEK


Zwölf Jahre nachdem sie von dem Vorwurf frei gesprochen wurde, 1998 im Auftrage der PKK einen Bombenanschlag auf einen Basar in Istanbul verübt zu haben, ist die türkische Schriftstellerin, Soziologin und Menschenrechtsaktivistin Pinar Selek erneut in höchster Gefahr. Eine Strafkammer des Obersten Gerichtshofes der Türkei will sie aufgrund derselben Anklage und trotz längst und mehrfach erwiesener Unschuld zu einer lebenslänglichen Gefängnisstrafe verurteilen.

Pinar Selek ist zur Zeit Stipendiatin im Writers-in-Exile-Programm des deutschen P.E.N.-Zentrums. Der deutsche P.E.N. protestiert mit aller Entschiedenheit gegen diesen neuerlichen Versuch, eine Schriftstellerin und mutige Streiterin für die Rechte von Minderheiten in der Türkei für immer zum Schweigen zu bringen.

Wir bitten alle Journalisten, Essayisten und Publizisten unseres Landes, Pinar Selek, die unter dem Schutz des deutschen P.E.N. steht, zu unterstützen, indem sie ihren Fall der Öffentlichkeit bekannt machen.

Für das P.E.N.-Zentrum Deutschland
Christa Schuenke
Vizepräsidentin und Writers-in-Exile-Beauftragte


Eine Darstellung der Fakten des Falls Pinar Selek finden Sie unten.


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Aufruf zur Unterstützung von Pinar Selek

Die türkische Schriftstellerin und studierte Soziologin Pinar Selek, derzeit Stipendiatin im Writers-in-Exile-Programm des deutschen P.E.N.-Zentrums, setzt sich leidenschaftlich sowohl für die Interessen sozial benachteiligter Gruppen als auch für die Rechte ethnischer Minderheiten ein, etwa der Kurden und der Armenier. Sie ist Autorin von Sachbüchern mit soziologischer Thematik, schreibt Kinderbücher und arbeitet zur Zeit an einem Roman. Im Berliner Orlanda Verlag erscheint in wenigen Tagen die deutsche Übersetzung ihres Buches Zum Mann gehätschelt - zum Mann gedrillt, das sich mit dem Einfluss des türkischen Militärs auf die Familie befasst.

Ende der neunziger Jahre wurde Pinar Selek wegen angeblicher Propagandaarbeit für die PKK verhaftet, saß zweieinhalb Jahre in U-Haft und wurde schwer gefoltert. Erst im Gefängnis, Monate nach ihrer Festnahme, konfrontierte man sie mit dem Vorwurf, im Auftrage der PKK einen Bombenanschlag auf den Istanbuler Gewürzbasar verübt zu haben. Das Verfahren zog sich über acht Jahre hin. Nachdem zahlreiche Gutachter bestätigt hatten, dass die Explosion auf dem Basar nicht auf eine Bombe, sondern auf eine defekte Gasflasche zurückzuführen war, und nachdem der Hauptzeuge der Anklage eingeräumt hatte, seine Pinar Selek belastenden Aussagen unter der Folter gemacht zu haben, wurde sie 2006 freigesprochen. Anfang letzten Jahres ging der Fall jedoch wegen angeblicher Formfehler vor die oberste Instanz. Dort wurde der Freispruch kurzerhand wieder aufgehoben, wogegen der Oberstaatsanwalt desselben Gerichtshofs indes Widerspruch einlegte, der aber abgewiesen wurde. Am 8. Februar 2010 haben wir erfahren, dass die berüchtigte 9. Strafkammer des Obersten Kassationsgerichts in Ankara Pinar Seleks Verurteilung zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe fordert.

Pinar Selek ist in den vergangenen zehn Jahren in der Türkei zu einer Ikone der Demokratiebewegung geworden. Es ist unübersehbar, dass demokratiefeindliche Kräfte innerhalb der türkischen Justiz ihren Einfluss nutzen wollen, um eine mutige Autorin mundtot zu machen. Gerade wurde sie in der Türkei mit dem diesjährigen Duygu-Asena-Preis des türkischen P.E.N.-Zentrums ausgezeichnet, den sie leider nicht persönlich entgegennehmen konnte.

Pinar Selek braucht in diesen Tagen, da die Urteilsverkündung bevorsteht, die Unterstützung der Öffentlichkeit nicht nur in der Türkei, sondern weltweit. Im Verlauf des Prozesses haben sich Persönlichkeiten wie Orhan Pamuk, Yasar Kemal, Noam Chomsky und Claudia Roth für Pinar Selek eingesetzt. Die progressive türkische Presse nimmt sich der Angelegenheit zur Zeit verstärkt an. Eine Liste mit den Namen unzähliger Verbände und Organisationen im In- und Ausland findet sich auf der Website von Pinar Selek http://www.pinarselek.com, ebenso eine weitere Liste mit den Namen zahlreicher bekannter Personen. Das deutsche P.E.N.-Zentrum hat Schriftsteller, Künstler, Politiker und andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens gebeten, Pinar Selek mit ihrem Namen zu unterstützen. Unterzeichnet haben den Aufruf des P.E.N-Zentrums Deutschland bis jetzt Günter Grass, Wolfgang Thierse, Norbert Lammert, Fatic Akin, Cem Özdemir, Claudia Roth, Heiner Geißler, Christa Wolf, Rüdiger Safranski, Fatih Akin, Klaus Staeck, Wolfgang Kohlhaase, Martin Mosebach, Tilman Spengler, Wieland Förster, Joachim Sartorius, Heidemarie Wieczorek-Zeul, Necla Kelek, Gregor Gysi, Peter Härtling, Hans-Ulrich Treichel, Daniela Dahn, Renan Demirkan und viele andere. Das deutsche P.E.N.-Zentrum protestiert damit gegen den zu befürchtenden Willkürakt der türkischen Justiz.

Wenn auch Sie Pinar Selek mit Ihrem Namen unterstützen möchten, genügt eine E-Mail an christaschuenke@mac.com

Hier können Sie sich online dem Aufruf anschließen:
http://www.ps-signup.de/


Links zum Thema:
http://www.pinarselek.com/public/page.aspx?id=21
http://www.pen.org.tr/tr/node/1389
http://www.turquieeuropeenne.eu/article4180.html
http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ku&dig=2010/04/13/a0019&cHash=7ec99ddf93
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1160077/


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PINAR SELEK: OPFER DES UNRECHTS

Es ist der 9. Juli 1998. Infolge einer Explosion in dem historischen Gewürzbasar in Istanbul sterben mehrere Menschen.

Spezialeinheiten der Polizei fertigen nach Untersuchungen am Ort des Geschehens an aufeinander folgenden Tagen drei Berichte an. In allen diesen drei Berichten wird festgestellt, dass die Explosion nicht auf eine Bombe zurückzuführen sei. In allen Zeitungen und Fernsehkanälen wird berichtet, dass es sich um die Explosion einer Flüssiggasflasche gehandelt habe.

Nach einigen Tagen wird die Soziologin Pinar Selek beim Verlassen der Kunstwerkstatt, die sie im Rahmen eines Projektes mit Straßenkindern gegründet hatte, von der Polizei festgenommen. Zu diesem Zeitpunkt arbeitet sie an einer Untersuchung über das Kurdenproblem sowie über die Gründe des daraus resultierenden Krieges. Zu diesem Zweck hatte sie Methoden der "oral history" eingesetzt und zahlreiche Interviews mit Betroffenen geführt. Bei der Festnahme werden auch die Unterlagen zu dieser Untersuchung beschlagnahmt. Unter Folter wird Selek gezwungen, die Namen ihrer Interviewpartner herauszugeben. Als sie das verweigert, wird gegen sie wegen "Beihilfe und Unterstützung einer terroristischen Organisation" Haftbefehl erlassen.

Einen Monat nach ihrer Verhaftung wird sie als Urheberin der Explosion im Istanbuler Gewürzbasar präsentiert. Selek selbst erfährt im Gefängnis von dieser Beschuldigung gegen sie zufällig aus einer Nachrichtensendung des Fernsehens. Zuvor waren ihr weder bei der Polizei, noch bei dem Gericht, welches den Haftbefehl gegen sie erlassen hatte, Fragen zu diesem Thema gestellt worden.

Grundlage dieser Beschuldigung war die Aussage einer Person namens Abdülmecit Öztürk, der bei der Polizei ausgesagt hatte, "zusammen mit Pinar Selek eine Bombe in dem Gewürzbasar platziert" zu haben.

Selek wird in das Verfahren einbezogen, welches inzwischen vor der 12. Strafkammer des Istanbuler Amtsgerichts wegen der Explosion im Gewürzbasar eröffnet worden war. Die Staatsanwaltschaft beschuldigt nun Selek, "zusammen mit Abdülmecit Öztürk im Auftrag einer terroristischen Organisation (der PKK) eine Bombe in den Gewürzbasar gelegt zu haben und darüber hinaus Mitglied der besagten Organisation zu sein".

Während der Verhandlung vor dem Gericht werden die gegen Selek angeführten Beweismittel von ihren Verteidigern entkräftet. Der Mitangeklagte Abdümecit Öztürk, auf Grund dessen Aussage Selek überhaupt beschuldigt wurde, erklärt bereits am ersten Verhandlungstag, dass seine diese Aussage unter Folter zustande gekommen sei. Ein auf eigene Initiative des Gerichtes veranlasstes Gutachten kommt zu dem Schluss, dass "die Explosion mit absoluter Sicherheit nicht auf eine Bombe zurückzuführen" sei.

Nach zweieinhalb Jahren wird Pinar Selek aus der Untersuchungshaft entlassen, das Verfahren gegen sie wird aber fortgeführt. Obwohl sie selbst keine Verfahrensbeteiligte im juristischen Sinne sind, fordern das Justiz- und Innenministerium ohne rechtliche Grundlage mehrmals Akteneinsicht bei dem verhandelnden Gericht. Auf Intervention dieser beiden Ministerien werden immer wieder neue Gutachten in Auftrag gegeben. Trotz des erheblichen Drucks wird in 6 unterschiedlichen Gutachten von renommierten Universitäten festgestellt, dass die Explosion mit Sicherheit nicht von einer Bombe verursacht worden sei. Lediglich in einem, vom Innenministerium in Auftrag gegebenen, Gutachten wird die Meinung geäußert, dass "die Explosion auf eine Bombe zurückgeführt werden könnte".

Währenddessen formiert sich eine Solidaritätskampagne für Pinar Selek. Hunderte von Intellektuellen und Friedensaktivisten, die von der Unschuld Seleks überzeugt sind, nehmen zu ihrer Unterstützung an den Verhandlungsterminen teil, darunter auch bekannte Schriftsteller und Wissenschaftler wie Yasar Kemal, Orhan Pamuk, Oya Baydar, Vedat Türkali und Prof. Baskin Oran.

Das Verfahren endet 2006 mit einem Freispruch für Pinar Selek, weil sämtliche Behauptungen über die Verursachung der Explosion durch eine Bombe sich als unzutreffend erwiesen haben und damit entkräftet werden.

Der Staatsanwalt, der die Anklage erhoben hatte, legt gegen das Freispruchsurteil der 12. Strafkammer des Istanbuler Amtsgerichts Berufung bei dem Kassationsgericht ein. Der zuständige 9. Strafsenat des Kassationsgerichts hebt das Freispruchsurteil aus formalrechtlichen Gründen auf. Die 12. Strafkammer des Istanbuler Amtsgerichts besteht auf seinem Freispruchsurteil. Der 9. Strafsenat des Kassationsgerichts hebt das Freispruchsurteil ein zweites Mal auf, diesmal aus inhaltlichen Gründen. Als Begründung dient die belastende Aussage des Mitangeklagten Abdülmecit Öztürk, welche er vor dem Gericht zurückgezogen hatte. Derselbe Senat bestätigt zugleich den gegen Abdülmecit Öztürk ausgesprochenen Freispruch, obwohl alleine dessen belastende Aussage zum Tatvorwurf gegen Pinar Selek geführt hatte und der zudem in dieser Aussage behauptet hatte, "zusammen mit Pinar Selek eine Bombe gelegt" zu haben. Der 9. Strafsenat lässt die sechs Gutachten unberücksichtigt, die alle eine Bombe als Grund der Explosion ausschließen.

Während des Berufungsverfahrens legt der Oberstaatsanwalt am Kassationsgericht Widerspruch bei dem Großen Strafsenat des Kassationsgerichts gegen das vom 9. Strafsenat ausgesprochene Aufhebungsurteil ein, weil dieses nicht in ausreichendem Maße begründet sei und deshalb das Urteil des Amtsgerichts Istanbul bestätigt werden müsse. Der Oberstaatsanwalt führt in seinem Widerspruch sehr deutlich aus, dass die bloße Aussage Abdülmecit Öztürks ohne weitere unterstützende Beweise nicht ausreiche, um Pinar Selek zu beschuldigen.

Über den Widerspruch des Oberstaatsanwalts wird vor dem Großen Strafsenat des Kassationsgerichts verhandelt. Der Große Strafsenat lehnt den Widerspruch ab und beschließt, den Fall zur Wiederverhandlung an die 12. Strafkammer des Istanbuler Amtsgerichts zu verweisen.

Nunmehr sind folgende Möglichkeiten denkbar:
1. Die 12. Strafkammer des Amtsgerichts Istanbul fügt sich dem Aufhebungsbeschluss des Großen Senats des Kassationsgerichts und verhandelt neu über die Anklage. In diesem Fall wird die Staatsanwaltschaft eine lebenslange Haftstrafe unter erschwerten Bedingungen gegen Pinar Selek beantragen.
2. Die 12. Strafkammer des Amtsgerichts Istanbul besteht auf seinem Freispruchurteil. In diesem Fall wird vor dem Großen Strafsenat des Kassationsgerichts über den Fall verhandelt und endgültig entschieden.

WARUM PINAR SELEK?
Die Antimilitaristin, Feministin, Friedensaktivistin und Soziologin Pinar Selek ist eine der wenigen Intellektuellen in der Türkei, die engen Kontakt zu Gruppen unterhält, die vom System ausgegrenzt werden. Selek lehnt jegliche Art von Gewalt und Ausgrenzung ab, führt einen bereits lange andauernden Kampf gegen die gewaltsame und für die friedliche Lösung aller Probleme der Türkei, allen voran des Kurdenproblems, sowie für die Demokratisierung der Türkei.

Selek ist nicht nur eine Friedensaktivistin, sondern auch eine der bekanntesten Persönlichkeiten der feministischen Politik. Die von Selek mitbegründete Genossenschaft für Frauensolidarität Amargi entwickelt nicht nur feministische Politik, sondern ist auch eine der führenden NGOs, die nach Lösungen aller gesellschaftlichen Probleme der Türkei sucht. Der genossenschaftseigene Verlag veröffentlicht Publikationen für Frauen. Pinar Selek ist Chefredakteurin der von der Amargi herausgegebenen, in Fragen der feministischen Politik hoch angesehenen und als Referenzpublikation geltenden Zeitschrift "Amargi Feminist Dergi". Selek begnügt sich nicht nur mit der praxisbezogenen Arbeit auf diesem Gebiet, sondern unterstützt diese Bemühungen auch durch ihre soziologischen Untersuchungen und mit ihren Büchern.

Buchveröffentlichungen:
Ya Basta (Übersetzung - 1996)
Maskeler, Süvariler, Gacilar (2001)
Barisamadik (2004)
Su Damlasi (Märchen für Kinder - 2008)
Sürüne Sürüne Erkek Olmak (2008, deutsche Übersetzung erscheint demnächst)
Siyah Pelerinli Kiz (Märchen für Kinder)


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Quelle:
P.E.N.-Zentrum Deutschland, Mai 2010
Kasinostraße 3, D-64293 Darmstadt
Telefon: 06151-23120, Fax: 06151-293414
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Internet: www.pen-deutschland.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Mai 2010