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BERICHT/1023: Schweiz - Interview mit dem Leiter der Beratungsstelle für Militärverweigerung (friZ)


friZ - Zeitschrift für Friedenspolitik 2/09 - Juni 2009

"Wer macht das sonst, wenn nicht wir?"

Von Detlev Bruggmann


Mit der Zürcher Beratungsstelle für Militärverweigerung und Zivildienst (BfMZ) ist in den vergangenen Monaten auch die älteste und grösste Einrichtung dieser Art in der Schweiz in arge Nöte geraten. Die friZ sprach mit Piet Dörflinger, dem BfMZ-Leiter, über die Hintergründe der Krise und über die Zukunftsaussichten.


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BRUGGMANN: Kannst Du uns die aktuelle Situation der Beratungsstelle Zürich schildern?

DÖRFLINGER: Auf der Nachfrageseite sieht es ähnlich aus wie in den letzten Jahren. Das heisst, wir haben im laufenden Geschäftsjahr etwa so viele Beratungsanfragen wie in den vergangenen Jahren. Konkret: Von August 2007 bis Juli 2008 verzeichneten wir 4300 Beratungen - von August 2008 bis Ende Mai 2009 waren es ebenfalls bereits 3567. Auch thematisch verzeichnen wir keine grosse Veränderung. Trotz des Wegfalls der Gewissensprüfung (s. unten) für den Zivildienst, hat sich der Schwerpunkt der Beratungen nur leicht verlagert. Im Vergleich zum Vorjahr gab es eine kleine Zunahme der Beratungen zum Thema Zivildienst (plus 235) - und sogar zum Thema Zivildienstzulassung führten wir 40 Beratungen mehr als im Vorjahr durch!

Sehr schlecht sieht es dagegen finanziell aus, hier ist die Situation ganz anders als in früheren Jahren. Wir verzeichnen dieses Jahr einen massiven Einbruch bei den Spenden, quasi von einem Tag auf den anderen.


BRUGGMANN: Wann ist der Einbruch erfolgt?

DÖRFLINGER: Unsere Einnahmen sind schon seit einigen Jahren rückläufig. Einen so massiven Einbruch wie dieses Jahr haben wir aber noch nie erlebt: Normalerweise konnten wir mit unserer Fundraising-Aktion zu Ostern jeweils die Finanzierung der Beratungsstelle für das laufende Jahr zu einem wesentlichen Teil sichern. Dieses Jahr ist praktisch nichts hereingekommen, wir konnten gerade die Ausgaben für Druck und Versand decken.


BRUGGMANN: Was heisst das für die Beratungsstelle Zürich?

DÖRFLINGER: Es fehlen uns nicht nur einfach gut 30.000 Franken, sondern wir sind gezwungen, den Betrieb Ende Juni einzustellen, wenn bis dann nicht mehr Geld auf unser Konto fliesst. Im Moment gibt es noch einige Unbekannte, was die Zukunft betrifft. Trotz allem bin ich nach wie vor vorsichtig optimistisch. Ohne diese Einstellung hätten wir schon viel früher aufgeben müssen. Die Arbeit der BfMZ war nie mit einer "normalen" betriebswirtschaftlichen Angsthaltung möglich.


BRUGGMANN: Aber Du glaubst nicht, dass es so weiter gehen wird, wie bisher mit der Beratungsstelle Zürich?

DÖRFLINGER: Nein, so wie bisher wird es nicht weitergehen. Darum sind wir schon seit längerem damit beschäftigt, die verschiedenen Bereiche unserer Organisation kritisch zu hinterfragen. Wir sind auch daran, verschiedene Szenarien durchzudenken, in welcher Form die Beratungsstelle weitergeführt werden könnte: Beratungsangebot, Stellenreduktion, eingeschränkte Erreichbarkeit, beschränkte Öffnungszeiten - es gibt kein Tabu.


Zwei Hauptgründe für die Krise

BRUGGMANN: Was ist der Grund für den dramatischen Einbruch?

DÖRFLINGER: Ich persönlich sehe zwei Dinge im Vordergrund: Zum einen ist die Arbeit der Beratungsstelle nicht mehr so spektakulär wie früher. Es braucht nach wie vor Grundlagenarbeit, aber den früheren spektakulären Kampf für die Menschenrechte - "aufgeschlossener junger Mann versus böser Staat", "für den Zivildienst, gegen die Wehrpflicht" - gibt es heute nicht mehr.


BRUGGMANN: Ist der Zivildienst also zu etwas Normalem geworden?

DÖRFLINGER: Viel normaler auf jeden Fall, aber rein zahlenmässig ist der Zivildienst trotzdem nur eine Randerscheinung geblieben. Die BfMZ macht aber nicht nur Zivildienstberatung. Zu uns kommen auch viele Männer, die im Militärdienst in der Not sind, das ist nach wie vor ein wichtiger Aspekt unserer Arbeit. Aber auch hier sind die Fälle nicht mehr so spektakulär.


BRUGGMANN: Heisst das auch, dass sich die Zustände im Schweizer Militär in den letzten Jahren verbessert haben?

DÖRFLINGER: Nein, das hängt nicht so sehr vom Verhalten des Militärs selbst ab, sondern von den Werten, die in der Gesellschaft gelebt werden.


BRUGGMANN: Die Not des Einzelnen im Militär ist heute also unverändert gross?

DÖRFLINGER: Die subjektive Situation der Militärdienstleistenden ist unverändert, ja. Das Schweizer Militär ist vielleicht in gewissen Bereichen "netter" geworden, aber die jungen Leute von heute sind auch aufgeklärter und kritischer. Das führt unter dem Strich zu etwa gleich vielen Menschen, die aus dem Militärdienst raus wollen. Ihre persönliche Auseinandersetzung interessiert aber heute weniger als vor zehn oder zwanzig Jahren, Militärprobleme sind gesellschaftlich weniger brisant. Vielleicht erachten es deshalb weniger Menschen als notwendig, für unsere Arbeit zu spenden.


BRUGGMANN: Was ist der andere Hauptgrund für Eure Probleme?

DÖRFLINGER: Ich denke, dazu kommt die allgemeine Tendenz von abnehmender Lust zu langfristiger Verbindlichkeit. Und damit hängt vielleicht auch die sinkende Zahlungsmoral zusammen, die wir auch bei unseren Mitgliedern und Klienten feststellen. Im Geschäftsjahr 2007/ 2008 mussten wir zum Beispiel 20.000 Franken an ausstehenden Rechnungen trotz Zahlungserinnerung abschreiben. Weitergehende Massnahmen wie Mahnungen machen bei unserer Klientel aber aus politischen Überlegungen wenig Sinn.


Die Finanzierung der Beratungsstelle

BRUGGMANN: Wer trägt die Beratungsstelle? Sind bei Euch zahlende Mitglieder, SpenderInnen und Nutzniessende identisch?

DÖRFLINGER: Die Mitgliederbeiträge machen einen Drittel bis die Hälfte und die Spenden den grösseren Teil unserer Einnahmen aus, nur ein kleiner Beitrag sind die Beratungshonorare. Ein wesentlicher, wenn leider auch rückläufiger Teil unserer Spenden stammt nach wie vor aus kirchlichen Kreisen.

Unsere Mitglieder sind ganz unterschiedliche Menschen, wobei die engagierten alten "kalten Krieger" auch immer weniger werden. Meistens sind unsere Mitglieder zugleich gute Spender. Wir haben heute rund 850 Mitglieder, eine Zahl, die seit einigen Jahren in etwa gleich geblieben ist. Zwar hat es in den letzten Jahren etliche Austritte gegeben - zum Beispiel nach der Abschaffung der Gewissensprüfung für den Zivildienst -, wir konnten aber jeweils im Rahmen unserer Beratungstätigkeit wieder etwa gleich viele "Kunden" als Neumitglieder gewinnen. Dadurch hat sich auch das Profil unserer Mitglieder verändert, und vermutlich waren die langjährigen und tendenziell älteren Mitglieder auch bessere Spender.

Bei den Kunden sinkt leider die Bereitschaft, nach einer persönlichen Beratung für unsere Dienstleistung zu bezahlen. Daran müssen wir gezwungenermassen etwas ändern.


BRUGGMANN: Heisst das, dass man sich bei Euch gratis beraten lassen kann?

DÖRFLINGER: Nein, jede persönliche Beratung kostet auf jeden Fall 50 Franken. Wer Mitglied wird, bezahlt 75 Franken pro Jahr und hat dafür das Anrecht auf eine unbeschränkte Anzahl an Beratungen. Bei den telefonischen Anfragen ist es schwieriger Geld zu verlangen, besonders für kurze Auskünfte. Und bei Anfragen per E-Mail ist es fast unmöglich.


BRUGGMANN: War früher die Bereitschaft der Ratsuchenden grösser, auch Mitglied der BfMZ zu werden?

DÖRFLINGER: Ja. Es wurde auch öfter von sich aus gefragt: "Wie kann ich Euch unterstützen?" Heute sprechen wir jeden standardmässig auf eine Kostenbeteiligung oder Mitgliedschaft an und merken diesbezüglich immer grössere Zurückhaltung. Auch in der Telefonberatung: Unsere Eröffnung, dass kurze Auskünfte gratis sind, ein ausführliches Gespräch dagegen 25 Franken kostet, führt oft zur Replik: "Nein, ich brauche nur eine kurze Auskunft...", noch bevor überhaupt klar ist, worum es geht.


BRUGGMANN: Liessen sich die jungen Männer denn früher finanziell weniger abschrecken?

DÖRFLINGER: Vor Jahren waren unsere Beratungen unentgeltlich, das heisst, für persönliche Beratungen haben wir einen freiwilligen Betrag von 30 Franken verlangt. Im Jahr 2003 haben wir diesen Betrag fest eingeführt und ihn dann 2008 auf 50 Franken erhöht. Ich vermute, dass ein grosser Teil unserer Telefon- und E-Mail-Anfragen auf diese Gebühr zurückzuführen ist.


BRUGGMANN: Geht die Zahl der persönlichen Beratungen zurück?

DÖRFLINGER: Nein, seit 2005/06 nimmt sie sogar leicht zu. Bei den persönlichen Beratungen haben wir eigentlich eher das Problem, dass wir zuwenig freiwillige BeraterInnen haben, um genügend Termine anbieten zu können. Thematisch lässt sich zudem auch bei unserer Klientel eine gewisse Entwicklung beobachten: Weg vom weltanschaulich motivierten Kampf für eine gerechte Sache, hin zur einfachen Inanspruchnahme einer Dienstleistung. Die Lebensplanung, die Karriere und finanzielle Fragen sind in den Beratungsgesprächen wichtiger als ideologische Motive.


BRUGGMANN: Aber heisst das nicht auch, dass Eure Klientel tendenziell finanziell besser gestellt ist als früher?

DÖRFLINGER: Schwer zu sagen. Falls dem aber so wäre, macht sich das bisher in unserer Kasse auf jeden Fall nicht bemerkbar! Vielleicht tragen wir aber auch selbst dazu bei: Unsere Homepage ist sehr ausführlich und enthält viele unentgeltliche Informationen. Bis anhin überwiegen für uns jedoch die Vorteile: Die Homepage nimmt uns die Beantwortung vieler einfacher Fragen ab und ist ein unerlässlicher Werbeträger. Meistens figurieren wir auf den vordersten drei Google-Plätzen, wenn jemand Stichworte zu Militär- oder Zivildienst eingibt. Das ist nur mit einem seriösen Informationsangebot und einer regen Nutzung der Homepage zu erreichen. Und die Bekanntheit der Homepage erleichtert uns natürlich auch unsere zweite Aufgabe, die Öffentlichkeitsarbeit.


Die Folgen der Schliessung der BfMZ

BRUGGMANN: Wie wichtig ist die Beratungsstelle heute? Was passiert, wenn es Euch nicht mehr gibt?

DÖRFLINGER: Dann wird es eine markante Zunahme an Disziplinarstrafverfahren, Bussen und Bundesverwaltungsgerichtsfällen geben, sowohl beim Militär- wie beim Zivildienst. In beiden Bereichen mehrere hundert Fälle zusätzlich pro Jahr, schätze ich. Dementsprechend würde der Aufwand für die zuständigen Behörden bei Bund und Kantonen steigen. Langfristig brächte die Schliessung eine schlechtere Aufklärung punkto Dienstpflicht: Mehr junge Menschen könnten wichtige Entscheidungen für die Jahre zwischen 18 und 34 nicht oder nur unzureichend treffen, was unter Umständen weitreichende Konsequenzen für ihre Ausbildung und ihr Einkommen hat.


BRUGGMANN: Welche Folgen hätte das Ende der Beratungsstelle für den Zivildienst?

DÖRFLINGER: Es gäbe deutlich weniger Zivildienstleistende, weil zugelassene Zivis aus Ohnmacht angesichts absurder Bedingungen die Flinte ins Korn werfen würden. Der Ruf des Zivildienstes würde dementsprechend schon sehr bald darunter leiden.


BRUGGMANN: Was bedeutet die Abschaffung der Gewissensprüfung politisch? Ist damit das Thema Zivildienst für Euch abgeschlossen?

DÖRFLINGER: (lacht): Nein, bestimmt nicht! Die Bedingungen für den Zivildienst sind nach wie vor abschreckend. Und obwohl gesellschaftliche Verantwortung nicht als Pflicht verordnet werden kann - sie muss aus Überzeugung entstehen - sehe ich den Zivildienst als eine Art Übergangsmöglichkeit, um gesellschaftliches Engagement zu honorieren. Er ist eine patente Chance, Erfolg erfahren zu dürfen. Dafür müsste man den Menschen die Möglichkeit geben, sich sozial zu engagieren, und sie dafür gerecht entlöhnen, man müsste sie loben und fördern, statt sie zu diskriminieren, wie das heute beim Zivildienst der Fall ist. Das hätte grosse Auswirkungen auf ihr Selbstverständnis und ihr späteres Wirken in der Gesellschaft. Der Zivildienst hat also noch sehr viel mehr zu bieten und muss deshalb weiter gefördert werden.


BRUGGMANN: Und diese Förderung ist weiterhin Aufgabe
und Inhalt einer unabhängigen Beratungsstelle?

DÖRFLINGER: Das ist die Frage, die wir uns zurzeit stellen: Wer macht das sonst, wenn nicht wir? Antwort: Im Moment gibt es kaum jemand anderes, der das macht. Die Behörden fördern den Zivildienst nicht, weil sie keinen Auftrag dafür haben. Sie dürfen sogar aus politischen Gründen keine Werbung für den Zivildienst machen, wie der Bundesrat wiederholt klar gemacht hat. Er sieht sonst das Primat der Wehrpflicht in Gefahr...

Handlungsbedarf besteht aber auch beim Zivildienst selbst, dessen Ausgestaltung in der Schweiz nach wie vor diskriminierend ist: Der Zivildienst dauert nicht nur anderthalb mal länger als der Militärdienst, sondern sogar zwingend 390 bis 430 Tage. Dagegen muss heute kaum noch jemand seinen Militärdienst über die ganze Dauer von 260 Tagen leisten, eine Mehrheit der Militärangehörigen wird vor Erfüllung der Dienstpflicht ausgemustert oder altershalber entlassen. Auch finanziell und sozial gelten für Zivildienstleistende nicht die gleichen Rechte: Wer seinen Zivildienst unter prekären finanziellen Bedingungen leistet, muss unter Umständen Sozialhilfe beanspruchen, die später zurückzuzahlen ist. Mit anderen Worten: Er muss sich verschulden, um diesen Dienst zugunsten der Allgemeinheit leisten zu dürfen! Militärangehörigen in gleicher Lage steht dagegen ein ausgewachsener Sozialdienst zur Verfügung, der Zugang zu verschiedenen Geldtöpfen für solche Fälle hat.


BRUGGMANN: Und es gibt niemanden, der sich ausser Euch für diese Anliegen stark macht?

DÖRFLINGER: Kaum. Es gibt zwar einzelne Organisationen, die sich für die Themen Militärverweigerung oder Zivildienst interessieren und die auch im Zivildienstkomitee (s. unten) mitmachen. Das sind engagierte MitstreiterInnen, aber eher sporadisch, z.B. für grössere politische Kampagnen.


Letzter "Mohikaner"?

BRUGGMANN: Dieses Jahr haben sich die Beratungsstellen in St. Gallen und in Bern aufgelöst. Die Beratungsstelle Zürich ist die letzte verbleibende in der Deutschschweiz. Weshalb gerade Zürich?

DÖRFLINGER: Ich denke, das war letztlich eine Frage der Grösse. Zürich war immer die grösste Beratungsstelle und hatte dementsprechend das günstigere Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag.


BRUGGMANN: Welche Folgen hat die Schliessung der anderen Beratungsstellen für die BfMZ?

DÖRFLINGER: Die Ratsuchenden werden sich in Zukunft an uns wenden, beziehungsweise sie werden sich auf unserer Homepage informieren. Wobei die Beratungsstelle Zürich immer schon einen gewissen Anteil an Kontakten von ausserhalb hatte, schon wegen unseren längeren Öffnungszeiten und der besseren Erreichbarkeit. Aber die persönlichen Beratungen fanden dann in der Regel in der jeweiligen Region statt.


BRUGGMANN: Erbt Ihr ausser den Ratsuchenden auch zahlende Mitglieder von den geschlossenen Beratungsstellen?

DÖRFLINGER: Hoffentlich. Bisher lässt sich das noch schwer feststellen. Wir vermuten, dass vor allem die Anfragen per Telefon und per E-Mail zunehmen werden.


Ein bisschen Wunschdenken

BRUGGMANN: Zum Schluss ein bisschen Wunschdenken: Wie würdest Du gerne in fünf Jahren in der Beratungsstelle Zürich arbeiten?

DÖRFLINGER: Eine Beratungsstelle ist nur legitimiert, wenn es wirklich Probleme gibt, sie muss nicht a priori erhalten bleiben. Unter dieser Grundvoraussetzung würde ich mir wünschen, dass es in fünf Jahren eine starke Lobby für den Zivildienst gibt, zum Beispiel in Form eines ausgebauten Zivildienstkomitees, in dem sich alle Beteiligten stärker engagieren. Das würde es erlauben, die Lobbyarbeit auf mehr Hände und Köpfe zu verteilen, was unsere Infrastruktur und das Stellenbudget entlasten würde. Vielleicht könnte die Beratungsstelle auch kleiner werden, weil ein Teil der heutigen Beratungen dank besserer Aufklärung bis dahin wegfällt?


BRUGGMANN: Wie und wo könnte diese bessere öffentliche Information stattfinden?

DÖRFLINGER: Auf verschiedenen Ebenen: Zum einen könnte eine starke Zivildienstlobby bessere Öffentlichkeitsarbeit machen. Aber ganz klar müssten die Behörden mehr tun, wozu sie ja eigentlich schon heute verpflichtet wären: Gibt eine Behörde einer Bürgerin oder einem Bürger Auskunft, dann hat diese zumindest korrekt zu sein - das ist heute beim Thema Zivildienst noch lange nicht immer der Fall. Zum Beispiel muss jeder dienstpflichtige Schweizer mit 17 oder 18 einen obligatorischen Orientierungstag besuchen, der heute von den Militärbehörden des jeweiligen Kantons in sehr unterschiedlicher Qualität durchgeführt wird. Aufgrund dieser Informationen treffen dann die jungen Männer oft weitreichende Entscheidungen, die sich im Nachhinein als falsch herausstellen. Deshalb ist es höchste Zeit, dass an diesen Anlässen wirklich korrekt, fair und umfassend über alle Möglichkeiten zur Gestaltung der Dienstpflicht orientiert wird. Hier sind in erster Linie die Kantone gefordert.


BRUGGMANN: Wer, ausser den politisch Engagierten und den direkt betroffenen Dienstpflichtigen, hat denn noch ein Interesse am Weiterbestand der Beratungsstelle?

DÖRFLINGER: Da gibt es eine ganze Reihe: Zivildienst-Einsatzbetriebe, die auf Zivi-Nachwuchs angewiesen sind (dadurch auch alle Nutzniesser ihre Dienstleistungen), Behörden und Gerichte und letztendlich auch die SteuerzahlerInnen.


BRUGGMANN: Wäre auch eine direkte Finanzierung via Bund oder Kantone denkbar?

DÖRFLINGER: Dafür gibt es erst ein paar unfertige Ideen. In vielen anderen Bereichen, in denen Menschen mit dem Beschaffen von Informationen oder mit Behördengängen überfordert sind, wird eine Beratungsstelle eingerichtet - entweder von den Behörden selbst oder von einem unabhängigen Trägerverein mit öffentlichen Mitteln. Ziel ist es jeweils, Probleme zu vermeiden oder zu entschärfen und somit auch Geld, Ärger und Leid zu sparen. Gleiches lässt sich auch für unseren Bereich denken. Konkret sehe ich dafür im Bereich Militär das VBS und für den Zivildienst das Volkswirtschaftsdepartement schon seit Jahren in der Pflicht, aber das steht politisch heute noch in den Sternen...


BRUGGMANN: Aber für Euch wäre das vorstellbar, vom Staat finanziell unterstützt zu werden?

DÖRFLINGER: Sofern unsere Unabhängigkeit gewährleistet bleibt, ist es denkbar. Das wäre sicher eine Gratwanderung. Konkret könnte ich mir aber eine Entschädigung vorstellen für unseren effektiven Aufwand in jenen Fällen, in denen wir bei einem Behörden- oder Vorgesetztenstreit als Schlichtungs- oder Ombudsstelle präventiv fungieren. Damit werden wir in gewissen Kreisen nicht auf Gegenliebe stossen, aber aus meiner Sicht sollten sich jene Organe, die für - zum Teil sogar absichtlich - diskriminierende Bedingungen verantwortlich sind, auch an der Schadenbehebung beteiligen müssen. Es ist umgekehrt auch nicht in Ordnung, dass wir teure Spendengelder sammeln und Unmengen von Gratisarbeit leisten müssen, um quasi Bundesstellen zu subventionieren! Dort, wo der Bund in der Pflicht wäre und relativ einfach Abhilfe schaffen könnte in Sachen Dienstpflicht... Für die Form und den Umfang einer solchen "staatlichen Kostenbeteiligung" haben wir aber auch kein Patentrezept.


BRUGGMANN: Kannst Du ein Beispiel für eine solche Ombudsfunktion nennen?

DÖRFLINGER: Angenommen, zu uns kommt jemand, der wegen seiner Dienstplanung mit den Behörden im Clinch liegt, zum Beispiel, weil er weder seine Kinder im Stich lassen, noch von seiner Lebenspartnerin verlangen kann, dass sie ihre Arbeitsstelle für seinen Dienst opfert. Wenn sich so jemand entschliesst, den Dienst ganz zu verweigern, artet das im Normalfall in mehrere militärische oder zivile Strafverfahren aus. Schalten wir uns in solchen Fällen dazwischen, können wir als unabhängige Experten in aller Regel eine für alle weitaus günstigere Lösung finden.


BRUGGMANN: Sehen die Bundesstellen das auch so? Seid Ihr für sie nicht viel mehr Sand im Getriebe? DÖRFLINGER: Sicher gibt es beim VBS noch immer solche "Kalte Krieger"-Stimmen. Aber mittlerweile gibt es auch dort viele aufgeschlossene Köpfe, die wissen, was wir machen. Und aufgrund meiner Erfahrung bin ich optimistisch: Wunder sind möglich, auch das VBS kann sich bewegen! Inzwischen gibt es ja auch in der Schweiz Offiziersgesellschaften, die sich explizit für den Zivildienst einsetzen. Und einige bürgerliche PolitikerInnen haben sich bei der Abschaffung der Gewissensprüfung explizit für die Entdiskriminierung des Zivildienstes stark gemacht.


BRUGGMANN: Aber das Militär wehrt sich doch, wo immer möglich, gegen Einmischung von ziviler Seite?

DÖRFLINGER: Sicher, das VBS hat auch bereits vor Jahren selbst eine Ombudsstelle eingerichtet, musste sie aber wegen mangelndem Vertrauen seitens der Hilfesuchenden wieder einstellen! Um eine unabhängige und faire Aufklärung sicherzustellen, wäre eine solche Stelle auf jeden Fall besser ausserhalb des VBS anzusiedeln.


Eine echte "Schule der Nation"

BRUGGMANN: Was könnten Kantone und Gemeinden gewinnen, wenn sie sich stärker für den Zivildienst einsetzen?

DÖRFLINGER: So lange unser Staat auf einer Dienstpflicht beharrt, ist der Zivildienst eine Möglichkeit, in vielen Bereichen nachhaltig zu wirken. Der Zivildienst trägt wesentlich zur Bildung eines sozialen Bewusstseins bei: Je mehr Menschen das Privileg erhalten, im Rahmen des Zivildienstes soziale Verantwortung zu erleben und praktisch umzusetzen, desto mehr werden sie diese auch in ihrem späteren Leben in Beruf und Privatleben nicht vergessen. Das ist eine Investition in unser aller Zukunft, deren Ergebnis sich heute nicht beziffern lässt. Davon bin ich fest überzeugt, sonst würde ich meine Arbeit nicht machen können. Vielleicht verhält es sich ja ähnlich wie beim Umweltschutz, da brauchte es auch Jahrzehnte, um den Menschen begreiflich zu machen, dass wir vorsorglich handeln müssen.

Für mich ist der Zivildienst heute ein Stein in der Bildungslandschaft, ein wesentlicher Bestandteil der Bildung von mündigen und verantwortlichen MitbürgerInnen - eine echte "Schule der Nation", um es provokativ auszudrücken! Das ist auch genau der Teil der Arbeit für den Zivildienst, der nicht sonderlich spektakulär ist. Es gelingt uns leider nur bedingt, diese Arbeit zu vermitteln und in Spendengelder umzusetzen. Mit dem Kampf eines Hungerstreikenden gegen die Wehrpflicht in früheren Jahren war das einfacher.


BRUGGMANN: Was kann die Schweiz von Nachbarländern lernen, die schon länger und in grösserem Umfang einen Zivildienst kennen?

DÖRFLINGER: Ein bisschen Entkrampfung schadet niemandem! Positiv finde ich das Beispiel unseres Nachbarlandes Deutschland, wo der Zivildienst mittlerweile eine Selbstverständlichkeit ist. Dort muss sich niemand mehr schämen, weil er den Militärdienst verweigert. Das führt inzwischen sogar zu überraschenden Rechtsentwicklungen, etwa wenn neuerdings das Normale des "im Krieg töten dürfen" zur Diskussion gestellt wird. Ausserdem gibt es in Deutschland schon seit längerem neben dem Zivildienst auch ein freiwilliges Sozial- und Umweltjahr, das bereits recht häufig beansprucht wird.

Aber zugegeben, es wurden auch grobe Fehler gemacht beim Zivildienst. So hat Deutschland etwa den Berufsstand Pflegewesen quasi zerstört, eine Katastrophe für alle Beteiligten. Es gibt volkswirtschaftliche Studien, die belegen, dass der Einsatz von zig Tausenden von "Zivis" im Pflegebereich unter dem Strich gar nicht billiger ist, sondern eher teurer, wenn man die gesellschaftlichen Gesamtkosten betrachtet.


Piet Dörflinger ist seit Januar 2006 Stellenleiter der Zürcher Beratungsstelle für Militärverweigerung und Zivildienst. Das Gespräch fand Mitte Juni 2009 statt, die Fragen stellte Detlev Bruggmann.


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BfMZ: Die Lage bleibt dramatisch

Die Beratungsstelle für Militärverweigerung und Zivildienst (BfMZ) startete im November 1981 an der Köchlistrasse in Zürich und war die erste professionell betriebene Einrichtung ihrer Art in der Schweiz. Erster angestellter Berater für Militärverweigerer war Ruedi Hotz. Jetzt kämpft die BfMZ als letzte verbliebene Beratungsstelle der Deutschschweiz mit grossen finanziellen Schwierigkeiten. "Wenn nicht innert Kürze Geld auf unser Postcheckkonto eingeht, müssen wir den Laden dicht machen und den Verein auflösen, weil wir die laufenden Rechnungen und die ohnehin schon geringen Löhne nicht mehr bezahlen können", hiess es Anfang Juni in der letzten Ausgabe der "zivilcourage", dem Publikationsorgan der BfMZ. Als Reaktion auf den Hilferuf der Beratungsstelle und auf verschiedene Medienberichte sind bis Ende Juni 2009 einige Nothilfespenden eingegangen. Damit kann die BfMZ voraussichtlich noch zwei bis drei Monate überleben. Weitere Spenden werden dringend benötigt:
BfMZ, Postfach 9777, 8036 Zürich, Postcheckkonto 80-30876-3


Gewissensprüfung

Seit dem 1. April 2009 wird für die Zulassung zum Zivildienst in der Schweiz keine Gewissensprüfung mehr verlangt. Bis dahin mussten Zivildienstwillige ein schriftliches Gesuch mit einer ausführlichen Erläuterung ihres Gewissenskonflikts einreichen und anschliessend bei der Zivildienstkommission zu einer persönlichen Anhörung erscheinen. Heute reicht das Einreichen eines einfachen Formulars, das im Internet bei der Vollzugsstelle für Zivildienst (www.zivi.admin.ch/) herunter geladen werden kann. In der Schweiz können somit alle stellungspflichtigen Männer einen zivilen Ersatzdienst anstelle des Militärdienstes leisten, sofern sie bereit sind den Tatbeweis der anderthalbmal längeren Dauer auf sich zu nehmen.


Zivildienstkomitee

Das Schweizerische Zivildienstkomitee ist eine Arbeitsgemeinschaft von Organisationen, die sich aktiv für einen echten Zivildienst im Sinne der Gewissensfreiheit einsetzen. Darunter befinden sich zum Beispiel die Gemeinschaft Schweizer Zivildienstleistender, der Schweizerische Friedensrat, die Gruppe Schweiz ohne Armee, Amnesty International, Permanence Service Civile (Genf) und der Gruppo ticinese per il servizio civile (Bellinzona). Das Komitee fördert die Zivildienstidee in der Öffentlichkeit mit geeigneten Kampagnen, führt jährlich einmal eine Tagung durch und erstellt Vernehmlassungen zu Gesetzesvorschlägen, die den Zivildienst betreffen. Die Geschäftsführung des Zivildienstkomitees liegt bei der Beratungsstelle für Militärverweigerung und Zivildienst in Zürich.


Zivildienst

Die Dauer des Zivildienstes ist in der Schweiz insgesamt an Tagen um das 1,5-fache länger als die des Militärdienstes. Die wöchentlichen Arbeitszeiten richten sich jedoch danach, wie sie im Einsatzbetrieb üblich sind. Ein einzelner Einsatz dauert mindestens 26 Tage, längere Einsätze sind die Regel. Die Einsatzaufteilung kann in den ersten sechs Jahren weitgehend selbst bestimmt werden, danach muss eine Einsatzplanung vorlegt werden.

Der Zivildienst wird in der Regel in der Wohnortregion geleistet, die Zivildienstleistenden wohnen also in der Regel zuhause und erhalten dafür einen Wohnkostenzuschuss. Zivildienst kann aber auch ausserhalb des Wohnorts und unter Umständen sogar im Ausland geleistet werden. Grundsätzlich sucht sich jeder Zivildienstleistende seinen Einsatzbetrieb selbst aus und legt ihn der Vollzugsstelle für den Zivildienst zur Genehmigung vor.


Literatur:

Ruedi Winet: Etwas Sinnvolles tun. Handbuch zum Zivildienst.
Herausgegeben von der Beratungsstelle für Militärverweigerung und Zivildienst, Zürich, und dem Schweizerischen Zivildienstkomitee. 5., überarbeitete Auflage, 2004, 184 Seiten.
Erhältlich im Buchhandel oder für 20 Franken bei: BfMZ, Postfach, 8036 Zürich; Telefon 044 450 37 37, Fax 044 450 41 46; E-Mail: beratungsstelle@zivildienst.ch


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Quelle:
friZ - Zeitschrift für Friedenspolitik 2/09, Juni 2009, S. 14-20
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. September 2009