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BERICHT/1196: Zur Verleihung des Aachener Friedenspreises 2011 (Martin Forberg)


"Der Krieg beginnt hier - also lasst ihn uns hier stoppen!"

von Martin Forberg, 2. September 2011

AFP-Vorsitzender Karl-Heinz Otten, Jürgen Grässlin, Jürgen Wagner, Claudia Haydt und die stellvertretende AFP-Vorsitzende Veronika Thomas-Ohst - Foto: © 2011 arbeiterfotografie.com

AFP-Vorsitzender Karl-Heinz Otten, Jürgen Grässlin, Jürgen Wagner,
Claudia Haydt und die stellvertretende AFP-Vorsitzende Veronika
Thomas-Ohst
Foto: © 2011 arbeiterfotografie.com

"Der Krieg beginnt hier - also lasst ihn uns hier stoppen!" Das ist das Motto der Tübinger Informationsstelle Militarisierung (IMI), die am 1. September 2011 den diesjährigen Aachener Friedenspreis erhielt - gemeinsam mit dem Freiburger Rüstungsexportgegner Jürgen Grässlin.
Die Auszeichnung fand am Abend in der Aula Carolina, der Schulaula des Kaiser-Karls-Gymnasiums, statt, die in Aachen außerhalb der Unterrichtszeit als Veranstaltungsraum genutzt wird. Schon am Nachmittag kamen beide Preisträger auf einer Kundgebung aus Anlass des Antikriegstages, die gemeinsam vom Deutschen Gewerkschaftsbund und dem Aachener Friedenspreis in der Aachener Innenstadt organisiert wurde, zu Wort.

"Die Mitgliederversammlung rückte bei der Wahl in diesem Jahr die Themen Militarisierung, Rüstung und Rüstungsexporte in den Fokus ihrer Entscheidung", so der Vorsitzende des Aachener Friedenspreises, Karl Heinz Otten, in seiner Rede, die er während der abendlichen Veranstaltung hielt. (1)

Und Rolf Gössner, Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte, machte in seiner - mehrfach von starkem Beifall unterbrochenen - Ansprache zu Ehren der Friedensaktivisten aus Baden und Schwaben deutlich, warum jetzt genau die richtige Zeit ist, Kriegsvorbereitungen und Waffenhandel in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken. Schließlich haben die geplanten deutschen Panzerexporte nach Saudi-Arabien und der vorgesehene Aufbau einer Panzerfabrik in Algerien die Öffentlichkeit erst vor einigen Wochen aufgewühlt. Und einen Tag vor der Preisverleihung in Aachen ging die Nachricht durch die Medien, dass Jürgen Grässlin die Firma Heckler & Koch (H&K) angezeigt hat, weil deren Gewehre in Libyen in den Waffenarsenalen des Gaddafi-Regimes auftauchten.

Rolf Gössner: "Die skandalösen Genehmigungen durch den Bundessicherheitsrat, die den eigenen menschen- und völkerrechtlichen Grundsätzen zuwiderlaufen, zeigen, wie überaus aktuell und brisant diese Problematik ist - aber auch wie verhängnisvoll und existentiell für potentiell Betroffene, für Oppositionelle, für Menschenrechts- und Demokratiebewegungen in den jeweiligen Zielländern."

Die "deutschen Exporte von Kriegswaffen und Rüstungsgütern" hätten sich "in den letzten Jahren sogar verdoppelt", so Gössner. Ohnehin ist die Bundesrepublik mittlerweile der drittgrößte Exporteur von Kriegsgerät auf der ganzen Welt - und die Nummer Eins in Europa. Das ist im Grunde nicht nur eine erschreckende Rekordleistung, sondern zugleich Anzeichen für eine enorme kriminelle Energie: Preisträger Jürgen Grässlin betonte in seiner Dankesrede, dass "Waffenhandel Beihilfe zu Mord" sei, - "und im Falle der Kleinwaffen Beihilfe zu Massenmord". Denn der Autor mehrerer kritischer Bestseller hat in einem seiner bewegendsten Bücher ("Versteck Dich, wenn sie schießen") (2) besonders die verheerende Wirkung von Pistolen, Maschinenpistolen und Gewehren der baden-württembergischen Firma Heckler & Koch (H&K) dokumentiert: "In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts starben mehr als 1,51 Millionen Menschen durch Kugeln aus einer H&K-Waffe, in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends mussten Abertausende weiterer Gräber ausgehoben werden. Bis heute gibt es Hunderttausende körperlich verstümmelter und geistig traumatisierter Menschen, die mehr dahinvegetieren, als dass sie ein menschenwürdiges Leben führen. Sie haben den Beschuss mit G3-Schnellfeuergewehren oder MP5-Maschinenpistolen überlebt."(3)

Jürgen Grässlin, Preisträger des Aachener Friedenspreises 2011 - Foto: © 2011 Aachener Friedenspreis

Jürgen Grässlin, Preisträger des
Aachener Friedenspreises 2011
Foto: © 2011 Aachener Friedenspreis
Und in Grässlins Aachener Dankesrede ist zu lesen: "Ich bin ihm persönlich begegnet dem Waffentod: bei den vielfachen Recherchereisen durch zerstörte Dörfer in Türkisch-Kurdistan, auf den Friedhöfen mit ihren ungezählten Grabsteinen aus der Zeit des Bürgerkriegs, in Krankenhäusern und Flüchtlingshäusern von Diyarbakir, auf den Exekutionsplätzen in Somaliland, beim Behindertentreffen in Berbera, in der Hilfsstation des Somaliländischen Halbmondes in Hargeisa und in vielen Zelten und Hütten, in denen sich das Grauen vergangener Gewalttaten bis heute in den Gesichtern der Überlebenden widerspiegelt." Immer wieder hat Grässlin Menschen getroffen, die zu Opfern der Präzisionsgewehre und Maschinenpistolen der Firma Heckler & Koch geworden sind - über 220 von ihnen hat er befragt und ihre Lebensgeschichten aufgeschrieben. In dem Buch kommen einige von ihnen zu Wort. Und in Zukunft werden auf Einladung der "Aktion Aufschrei - Stoppt den Waffenhandel!" (4) über drei Jahre hinweg Menschen aus Ländern, die von den Folgen deutscher Waffenexporte betroffen sind, in Deutschland darüber sprechen. "Zeugenreisen" nennt die "Aktion Aufschrei" diese Kampagne. In Aachen hat deren Sprecher Jürgen Grässlin auch für die zentrale Forderung der Initiative geworben: das Grundgesetz - Artikel 26 (2) - soll erweitert werden um den Satz: "Der Export von Kriegswaffen und Rüstungsgütern ist grundsätzlich verboten".

Grässlin sieht die Zeit für einen "lauten Aufschrei" gekommen: "Noch fühlt er sich wohl, der Waffentod bei seinen Besuchen in Berlin bei der Bundesregierung, in Oberndorf - seiner Heimatstadt - bei Heckler & Koch, in Unterschleißheim und am Bodensee bei der EADS, in München bei Krauss-Maffei Wegmann, in Nürnberg bei Diehl, in Düsseldorf bei Rheinmetall, in Bremen bei Lürssen und an vielen weiteren Orten mit vielen weiteren Waffenschmieden Deutschlands. Noch fühlt er sich wohl - wir werden das ändern: AUFSCHREI!"

Dieser Aufschrei richte sich auch "gegen Waffenhandel mit menschenrechtsverletzenden Regierungen in Angola, Brasilien, Indien, Indonesien, Israel, Malaysia, Pakistan, Nigeria, Saudi-Arabien, Thailand und den Vereinigten Arabischen Emiraten - um nur einige von vielen zu nennen!"

Die ebenfalls mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnete Tübinger Informationsstelle Militarisierung (IMI) versteht sich als Verbindungsglied zwischen Friedensbewegung und Wissenschaft. Sie gibt mehrere Publikationen heraus, die sich mit einer breiten Palette von Themen beschäftigen: Die prägnanten IMI-Standpunkte stehen neben ausführlicheren IMI-Analysen sowie den tiefer schürfenden IMI-Studien und dem "AUSDRUCK", der IMI-Zeitschrift. (5)

Selbstverständlich geht es hier auch um Rüstungsexporte. Daneben aber werden von IMI weitere zentrale Probleme angesprochen. Rolf Gössner hat sie in seiner Laudatio benannt: "Friedens- und Konfliktforschung, Umstrukturierung der Bundeswehr, Militarisierung der Bundesrepublik und in Europa, NATO und Flüchtlingspolitik - oder besser: Flüchtlingsabwehrpolitik der 'Festung Europa', die jedes Jahr zahlreiche Tote fordert." Hier wird auch die europäische Grenzschutzagentur FRONTEX zum Thema gemacht - eine Broschüre der IMI ("FRONTEX - Widersprüche im erweiterten Grenzraum") gibt "einen Überblick über die bisher erfolgten Einsätze der Agentur, über ihre Rolle bei Abschiebungen, ihre Zusammenarbeit mit Geheimdiensten und deren teilweise fehlenden Rechtsgrundlagen. In der Broschüre werden aber auch Ansatzpunkte für eine Kritik geliefert werden, die weit über juristische und menschenrechtliche Argumentationen hinausgeht und sie dokumentiert Aktionen, die gegen die Agentur stattgefunden haben oder geplant sind" - so die Informationen auf der IMI-Internetseite. (6)

Rolf Gössner meint: "Insgesamt nimmt IMI eine wohltuend klare, kritisch-ablehnende Haltung zur deutschen Beteiligung an Angriffskriegen, zum Einsatz der Bundeswehr im Inneren und zum Abbau der Bürger- und Menschenrechte im Zuge des staatlichen Antiterrorkampfes ein."

Ein besonderer Schwerpunkt ist - neben anderen Kriegs- und Konfliktregionen wie Afghanistan, versteht sich - Nordafrika und hier der Zusammenhang von Flüchtlingsabwehrpolitik, demokratischem Aufbruch in den arabischen Staaten und neuen imperialen Strategien der NATO und ihrer Mitgliedstaaten.

Mitarbeiter von IMI, der Informationsstelle Militarisierung e.V. - Foto: © 2011 Aachener Friedenspreis

Von links: Claudia Haydt, Tobias Pflüger, Andreas Seifert, Michael
Haid, Christoph Marischka, Jürgen Wagner, Jonna Schürkes
Foto: © 2011 Aachener Friedenspreis

Claudia Haydt, die in Aachen für IMI die Dankrede gehalten hat, schrieb darüber in einer Reportage über die tunesische Revolution, die ebenfalls auf der Internetseite der Informationsstelle zu finden ist: "Die Europäische Union hatte in den letzten Jahren mit nahezu jeder Diktatur in der Region Rückführungsabkommen abgeschlossen. Dafür hatte die EU militärische Ausrüstung zum Kampf gegen diese Flüchtlinge geliefert und systematisch ignoriert, dass Flüchtlinge in den Lagern einiger nordafrikanischer Staaten nachweislich vergewaltigt und misshandelt wurden. Die EU hatte die Drecksarbeit für die Abschottung der 'Festung Europa' gerne nach außen delegiert und sich dies auch einiges kosten lassen."

In ihrer Rede in Aachen hat Claudia Haydt imperiale Interessen und deutsche Militärpolitik zueinander in Beziehung gesetzt:

"Je ungerechter die globale ökonomische Ordnung wird, umso wichtiger wird es für den reichen Norden sein, seine Vorstellungen der ökonomischen Ordnung und seine Bedingungen für den Zugang zu Märkten und Ressourcen auch militärisch abzusichern. Dazu möchte de Maizière die Bundeswehr als 'besondere Nationalmannschaft' einsetzen. Für die IMI ist klar, wir wollen keine Militärmacht und keine Großmacht Deutschland!"

Die IMI-Analysen sind also in jedem Fall durch ein konkretes politisches Selbstverständnis inspiriert, das sich vor allem auf die deutschen Verhältnisse bezieht. "Der Hauptfeind steht im eigenen Land" - auf dieses Motto des Kriegsgegners Karl Liebknecht, auf diesen "Aufschrei" aus dem Jahr 1915, damals hinein geworfen in die "patriotisch aufgeladene Stimmung des Ersten Weltkrieges", bezog sich Claudia Haydt:

"Auch wenn man die martialische Sprache nicht teilen muss, so liegt für die IMI in jedem Fall die Hauptaufgabe im eigenen Land und leider gibt es genau hier viel zu tun. Wir leben heute in einem Land, das bis zu zehntausend Soldaten weltweit für Kriege und Besatzungsregime entsendet. Das bedeutet, dass in den letzten 15 Jahren etwa 300.000 Soldaten im Ausland eingesetzt wurden."

Das Ziel, praktisch politisch zu handeln, hat sich die IMI bereits selbst in die Wiege gelegt: Anlass der Gründung der Informationsstelle Militarisierung war 1996 die Bildung des Kommandos Spezialkräfte (KSK) der Bundeswehr im baden-württembergischen Calw. Einige staatliche Stellen haben später das Engagement von IMI und IMI-Mitgliedern auf ihre Art "gewürdigt": so erhob die Staatsanwaltschaft Tübingen im Jahr 2000 Anklage gegen den damaligen IMI-Geschäftsführer Tobias Pflüger, der zugleich einer der Initiatoren der Informationsstelle war - wegen Aufrufs zur Fahnenflucht: Er hatte während des völkerrechtswidrigen Kosovokrieges von 1999 öffentlich an Soldaten appelliert, zu desertieren.

Im Jahr 2007 schließlich wäre IMI beinahe die Gemeinnützigkeit entzogen worden - das Tübinger Finanzamt äußerte Zweifel daran, dass die Informationsstelle im Rahmen der Verfassung agiere. Dazu Rolf Gössner in seiner Laudatio vom 1. September: "Wer aber hat IMI die Zweifel an der Verfassungstreue eingebrockt? Es war unser skandalträchtiger Inlandsgeheimdienst, der auf den euphemistischen Tarnnamen 'Verfassungsschutz' hört - obwohl es sich genau genommen um einen Fremdkörper in der Demokratie handelt, der weder transparent noch wirklich kontrollierbar ist."
Das drohende "Aus" für die IMI konnte abgewendet werden - ebenso wie Klagen von Repräsentanten der Daimler AG gegen den Rüstungsaktivisten Jürgen Grässlin letztlich erfolglos blieben.

Veronika Thomas-Ohst, stellvertretende Vorsitzende des Aachener Friedenspreises, und Tobias Pflüger auf der von DGB und Aachener Friedenspreis veranstalteten Antikriegstags-Demo in Aachen - Foto: © 2011 arbeiterfotografie.com

Veronika Thomas-Ohst, stellvertretende Vorsitzende des Aachener
Friedenspreises, und Tobias Pflüger auf der von DGB und Aachener
Friedenspreis veranstalteten Antikriegstags-Demo in Aachen
Foto: © 2011 arbeiterfotografie.com

"Gemeinsamkeit ist Stärke", betonte Claudia Haydt in Aachen: "Das gilt, wenn wir mit Arbeitsloseninitiativen gegen die Rekrutierung der Bundeswehr in Arbeitsagenturen, mit Lehrerinnen und Schülerinnen gegen Bundeswehrpropaganda in Schulen, die Flüchtlingsinitiativen gegen die Abschottung der EU-Außengrenzen und Frontex oder mit Globalisierungskritikern gegen Strategien der G8-Staaten kämpfen."

Gerade in diesen Tagen, Wochen und Monaten, in denen gesellschaftliche Basisbewegungen, in Europa, - auch in Deutschland - , im Nahen und Mittleren Osten und anderen Ländern der Welt eine neue Konjunktur erleben, haben möglicherweise Initiativen gegen Rüstungsproduktion und Waffenexporte, für den sozialverträglichen Umbau der Kriegsindustrie, gegen den neu-alten Militärfetischismus und für eine tatsächliche Friedenssicherung eine gute Zukunft.



Anmerkungen:

(1) Links zu den Reden, die bei der Verleihung des Aachener Friedenspreises 2011 am 1. September gehalten wurden:

- http://www.aachener-friedenspreis.de/uploads/media/Rede_Vorsitzender_AFP_2011.pdf
- http://www.aachener-friedenspreis.de/uploads/media/Laudatio_Goessner_2011.pdf
- http://www.aachener-friedenspreis.de/uploads/media/Rede_J%C3%BCrgen_Gr%C3%A4sslin_2011.pdf
- http://www.aachener-friedenspreis.de/uploads/media/Rede_Claudia_Haydt__IMI__2011.pdf

Im Folgenden entfallen Einzelnachweise für Zitate aus diesen Reden.

(2) Jürgen Grässlin: »Versteck dich, wenn sie schießen. Die wahre Geschichte von Samiira, Hayrettin und einem deutschen Gewehr«, Droemer Verlag München 2003
(Gesamttext als pdf-Datei unter: http://www.juergengraesslin.com/27266-S001-480-kleiner.pdf)

(3) Grässlin: »Versteck dich, wenn sie schießen. Die wahre Geschichte von Samiira, Hayrettin und einem deutschen Gewehr«, S.434

(4) http://www.aufschrei-waffenhandel.de/Zeugenreisen.102.0.html

(5) http://www.imi-online.de/publikationen.php

(6) http://www.imi-online.de/2009.php?id=2002


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Quelle:
© 2011 by Martin Forberg
mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. September 2011