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MITTELAMERIKA/115: Das Menschenrechtszentrum "Tiachinollan" schließt sein Büro in Ayutla


peace brigades international - Internationale Friedensbrigaden
pbi Rundbrief 01/09

"Die Situation ist äußerst ernst"

Das Menschenrechtszentrum "Tlachinollan" schließt sein Büro in Ayutla


Als VIDULFO ROSALES und ALEJANDRA GONZÁLES vom mexikanischen Menschenrechtszentrum "Tlachinollan" im Juni 2009 nach Deutschland reisten, gab es einen wichtigen Grund: zwei Monate zuvor mussten sie ihr Büro in Ayutla de los Libres im Bundesstaat Guerrero schließen. Die Drohungen gegen ihre MitarbeiterInnen und gegen Organisationen, die von ihren AnwältInnen unterstützt werden, waren zu stark geworden. MAIK MÜLLER, der ein Jahr als pbi-Freiwilliger in Guerrero arbeitete, sprach mit Vidulfo Rosales über die Hintergründe.


MAIK MÜLLER: Ihr habt im April 2009 euer Büro in Ayutla geschlossen. Wie kam es dazu?

VIDULFO ROSALES: Die Schließung ist das Resultat der zunehmenden Drohungen, die wir seit 2008 erhalten. Unsere Arbeit wurde durch die Regierung diffamiert. Nach der Ermordung von Rául und Manuel wurde die Lage immer schwieriger. Plötzlich war das ganze Team von Tlachinollan Zielscheibe von Bedrohungen. Unser Büro in Ayutla wurde von Sicherheitskräften überwacht. Wir schätzen die Situation als äußerst prekär ein. Besonders seit den Ereignissen vom 20. März 2009, als acht unserer MitarbeiterInnen während einer Autofahrt durch Schüsse in die Luft bedroht wurden. Daran wurde deutlich, dass unser gesamtes Personal in Lebensgefahr ist.

Aber was uns dazu bewegte, das Büro zu schließen, war die totale Untätigkeit der Regierung. Trotz internationalen Drucks wurden keine wirklichen Ermittlungen durchgeführt oder jemand für die Angriffe zur Rechenschaft gezogen. Die Drohungen gegen uns und gegen unsere Familienangehörigen nehmen nicht ab, sondern zu. Solange es im Fall Rául und Manuel keine Anklage gibt, werden wir nicht nach Ayutla zurückkehren können. Das wäre ein zu hohes Risiko für uns. Wir wissen, dass es wichtig ist, das Büro wieder zu eröffnen. Daher treiben wir den Fall Rául und Manuel voran. Bei der Landesstaatsanwaltschaft gab es bereits acht Anzeigen wegen früherer Attacken auf Rául, die allesamt ergebnislos waren. Deshalb wollen wir, dass nun die Bundesstaatsanwaltschaft die Ermittlungen übernimmt.

MAIK MÜLLER: Was bedeutet die Schließung des Büros für euch und für die Menschen in der Region?

VIDULFO ROSALES: Die Situation ist bedauernswert. Seit 25 Jahren wurde in Mexiko kein Menschenrechtsbüro mehr geschlossen. Das allein zeigt, wie ernst die Situation ist. Wir arbeiten in 40 Gemeinden, in denen wir Menschenrechtsverletzungen dokumentieren, Beratung und Workshops anbieten. Von der Schließung sind somit etwa 10.000 Menschen betroffen. Sie sind sehr besorgt und verwundbarer, da der Schutz durch unsere MenschenrechtsverteidigerInnen nun wegfällt.

MAIK MÜLLER: Wie ist die Stimmung unter den Organisationen und bei euch?

VIDULFO ROSALES: Wir sind alle sehr besorgt. Ebenso andere Organisationen, da sich die Drohungen nicht nur gegen uns richten, sondern sich auf andere Organisationen ausweiten. Wir werden alles tun, um diesen Entwicklungen entgegenzuwirken und die Situation öffentlich zu machen - auch auf internationaler Ebene.

Unsere Sorge wird dadurch verstärkt, dass die Landesregierung der Zivilgesellschaft die Möglichkeit nimmt, am politischen Leben teilzunehmen. Zwischen 2005 und 2006 wurde von den indigenen Gemeinden ein Programm erarbeitet: mehrere Organisationen haben Vorschläge zur Verbesserung der Menschenrechtslage und der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte der Indigenas erarbeitet. Die Regierung hat alle Initiativen und Vorschläge abgelehnt und den eingeleiteten Dialog beendet. Die Fronten verhärteten sich, was bei einigen Bewegungen zu einer Radikalisierung geführt hat. Wir befürchten, dass sich die Situation in Guerrero weiter zuspitzen wird und in gewaltsamen Aktionen entlädt. Das Wiederauftauchen bewaffneter Gruppen hat für die Zivilgesellschaft und besonders für die Indigenas negative Auswirkungen. Da die Militärs die bewaffneten Gruppen nicht lokalisieren können, richten sich ihre Aktivitäten und Übergriffe nicht gegen die Guerilla, sondern gegen die Zivilbevölkerung.

MAIK MÜLLER: Berichtet die Presse über die Situation in Guerrero und Ayutla?

VIDULFO ROSALES: Es gibt in Guerrero nur zwei unabhängige Zeitungen, die kritisch über das Thema Menschenrechte berichten. Alle anderen Zeitungen werden vom Staat kontrolliert. Die beiden kritischen Medien werden durch staatliche Stellen kriminalisiert. In der bundesweiten Presse werden die Probleme in Guerrero, im Gegensatz zu Oaxaca und Chiapas, nicht erwähnt. Viele Menschen wissen nicht, was in den verschiedenen Landesteilen geschieht.

MAIK MÜLLER: Mit wem habt ihr euch in Europa getroffen und was sind eure Ziele?

VIDULFO ROSALES: Wir tragen unsere Sorgen bei den Außenministerien und bei ParlamentarierInnen verschiedener Länder vor. Das Bild von Mexiko ist häufig sehr positiv, da Mexiko sehr kooperativ in der internationalen Zusammenarbeit ist und eine gute Außendarstellung betreibt. Wir hoffen darauf, dass die Probleme in Gesprächen mit der mexikanischen Regierung klar und deutlich angesprochen werden.

In London haben wir erreicht, dass einige englische ParlamentarierInnen mit ihren mexikanischen KollegInnen sprechen werden, um die angespannte Situation in Ayutla auf die Agenda zu bringen. Das Parlament in Mexiko hat sich bereits zur Situation geäußert. Auch englische AnwältInnen werden sich bei einer von pbi organisierten Delegationsreise ein Bild von der Situation in Guerrero machen. Spanien wird bald die EU-Präsidentschaft übernehmen. Die spanischen ParlamentarierInnen sind mittlerweile sehr gut informiert über die Situation in Guerrero. Das spanische Außenministerium hat zugesagt, die Umsetzung der vom UN-Menschenrechtsrat ausgesprochenen und von Mexiko angenommenen Empfehlungen zu beobachten. Unsere Erfahrung hat gezeigt, dass diese Art der Unterstützung von außen zu einer Verbesserung der Situation beitragen kann.

MAIK MÜLLER: Habt ihr auch in Deutschland etwas erreichen können?

VIDULFO ROSALES: Ja, die MitarbeiterInnen des Außenministeriums in Deutschland waren sehr offen. Wir werden den Kontakt weiter pflegen und die deutsche Botschaft weiterhin über die Situation informieren. Ein Mitarbeiter der deutschen Botschaft hat im April zusammen mit KollegInnen anderer EU-Staaten Guerrero einen Besuch abgestattet und ist auch nach Ayutla gekommen. Auch beim Deutschen Anwaltsverein verliefen die Gespräche gut.

Aber die effektivste Unterstützung, die wir haben, kommt von Partnerorganisationen aus Europa, zu denen ja auch pbi gehört. Über unsere Partner haben wir die Möglichkeit, Druck aufzubauen. Wir sind neben unserer täglichen Arbeit und den Sorgen vor Ort nur zum Teil in der Lage, die notwendigen Kontakte mit den verschiedenen Regierungsstellen aufrecht zu halten. Auch deswegen ist die Unterstützung von pbi und anderen Organisationen so wichtig für uns. Gemeinsam mit ihnen können wir die Themen bearbeiten, die uns alle beschäftigen. - pbi


Das Menschenrechtszentrum Tlachinollan setzt sich für die Rechte von indigenen Gemeinden in der Region Montaña (Mexiko) ein und bietet ihnen rechtliche und psychologische Unterstützung. Sein Hauptsitz ist in Tlapa im Bundesstaat Guerrero. In Ayutla befindet sich das zweite Büro. Aufgrund wiederholter Drohungen werden die Mitglieder von Tlachinollan von pbi begleitet.


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Quelle:
pbi Rundbrief 01/09, S. 10-11
Herausgeber: pbi Deutscher Zweig e.V.
Harkotstr. 121, 22765 Hamburg
Tel.: 040/38 90 437, Fax: 040/38 90 437-29
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Januar 2010