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BERICHT/220: Weltwirtschaftskrise und weltweite Rüstung (ZivilCourage)


ZivilCourage Nr. 5 - November 2008
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK

Weltwirtschaftskrise und weltweite Rüstung

Von Winfried Wolf


Seit Anfang September erleben wir das offene Aufbrechen einer Krise, die im Frühsommer letzten Jahres als Finanzkrise begann, die sich mit größter Wahrscheinlichkeit zu einer neuen Weltwirtschaftskrise entwickeln und die sich als die schwerste Krise in der bisher 300-jährigen Existenz der kapitalistischen Gesellschaftsordnung erweisen könnte. Wer davon ausgeht, dass damit der Kapitalismus im allgemeinen erschüttert oder die Dynamik von Kapitalismus und Kriegen im besonderen deutlich reduziert werden würde, könnte böse überrascht werden. Historisch folgte auf die Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1932 bekanntlich eine völlig andere Entwicklung: weltweite Aufrüstung, Faschismus, die Konterrevolution in Spanien und der Zweite Weltkrieg. Auch knapp 80 Jahre später droht der offenen Krise eine beschleunigte Entdemokratisierung und eine Spirale von Gewalt, Rüstung und neuen Kriegen zu folgen.

Auch heute noch stößt man - auch in Teilen der Linken - auf ein verbreitetes Verständnis der Finanzmarktkrise als einer Angelegenheit der "fat cats", der im vorausgegangenen Blasen-Boom fett gemästeten Finanzwelt-Katzen, besser: der dicken Kater der Finanzaristokratie. Klar, welcher Durchschnittsbürger macht schon Geschäfte mit Bear Stearns, Morgan Stanley, mit den Lehman Brüdern oder mit der IKB? Doch das Amusement über das Leiden der Banker auf hohem Niveau ist dem einigermaßen nüchternen Normalo spätestens bei der Veröffentlichung der jüngsten Statistiken vergangen: In den USA stieg die offizielle Arbeitslosenquote zwischen März und August von 5,1 auf 6,1 Prozent (die reale liegt rund doppelt so hoch). Nach Einschätzung der meisten Experten steht das Land vor einer schweren Rezession.

In Deutschland musste die Bundesregierung Mitte Oktober eingestehen, dass sich die Wirtschaft spätestens seit diesem Herbst am Rande einer Rezession befindet und dass es 2009 im besten Fall ein Nullwachstum, wenn es nicht eine neue Wirtschaftskrise gibt. Vergleichbares gilt für die Europäische Union als Ganzes. EU-weit und in der BRD dürfte auf den - meist künstlich bewirkten - Rückgang der offiziellen Arbeitslosenzahlen ab Dezember ein deutlicher, möglicherweise sogar ein explosionsartiger Anstieg der Arbeitslosenzahlen folgen.

Die Finanzmarktkrise hat längst die reale Wirtschaft erreicht. An jedem Tag werden weltweit mehrere Zehntausend Arbeitsplätze vernichtet. Nach dem Zusammenbruch oder "technischem k.o." großer Banken und Versicherungen (Bear Stearns, Lehman Brothers, Indymac, Fannie Mac und Freddie Mac, AIG, Dexia, Fortis, IKB) droht auch ein Zusammenbruch großer Unternehmen. General Motors, der zweitgrößte Autokonzern der Welt und das neuntgrößte Unternehmen der Welt, und Ford, das dreizehntgrößte Unternehmen der Welt, sind ernsthaft vom Konkurs bedroht. Allein GM und Ford zählen eine halbe Million Beschäftigte.

Nein, das ist keine Krise der reichen Leute. Der Princeton-Ökonom Alan Krueger spricht und schreibt von einer "demokratischen Krise". Was zynisch klingt, hat einen wahren Kern: Die Krise trifft vor allem die große Mehrheit der Bevölkerung. Das gilt auch für diejenigen, die kein Vermögen haben, die keine Steuern zahlen, auch für Menschen ohne Konto und ohne Dach überm Kopf.

Beispiel USA: Im Mutterland des Kapitalismus - zugleich bis heute die Herzkammer der kapitalistischen Weltwirtschaft - basiert ein großer Teil der sozialen Fürsorge auf den Aktivitäten von Non-Profit-Organisationen. Diese finanzieren sich zu einem erheblichen Teil über Spenden, die sie wiederum vor allem von "der Wirtschaft" erhielten. Sebastian Moll berichtete in der "taz" am 4. Oktober ausführlich über die diesbezügliche Lage in New York City; hier nur drei Beispiele aus seiner Reportage:

"So hatte etwa die Non-Profit-Organisation Citymeals, die Mahlzeiten an die Armen der Stadt verteilte, jährlich 500.000 US-Dollar von Bear Stearns erhalten. Die Harlem Children's Zone, eine Förderorganisation für Ghettokinder, hatte drei Millionen Dollar von Lehman Brothers bekommen ... Opportunies for a better Tomorrow, eine Organisation für benachteiligte Kinder und Erwachsene, hatte pro Jahr 75.000 Dollar von Lehman erhalten."

Beispiel EU und BRD: Einen solch brandgefährlichen Ersatz des Sozialstaats durch private karitative Organisationen, wie er die USA charakterisiert, gibt es in Deutschland noch nicht. Absehbar aber ist, dass die Krise der Realwirtschaft mit ihren sprunghaft rückläufigen Steuereinnahmen und mit dem erneuten Aufbau einer größeren öffentlichen Verschuldung in neue drastische Sparmaßnahmen im sozialen Bereich münden wird. Seit mehr als eineinhalb Jahrzehnten gibt es im "sozialstaatlichen" Europa einen flächendeckenden Abbau des Sozialstaats und der Daseinsvorsorge. Im Gesundheitssektor. Im Verkehrsbereich. In der Kultur und bei den Bildungseinrichtungen. Die Krise und die konkrete Art und Weise, wie die Regierenden auf die Krise reagieren, müssen diese Tendenzen multiplizieren und intensivieren. Viele Kommunen haben sich selbst an spekulativen Geschäften wie "Cross Border Leasing", riskanten Geldanlagen etwa bei Lehman Brothers usw. beteiligt. Die kommunale Finanzkrise spitzt sich zu, zumal dann, wenn die Länder sich am neuen 500-Milliarden-Banken-Rettungsplan beteiligen müssen.

Bereits beim bisherigen Stand können drei erste Lehren aus der Finanzkrise und aus der beginnenden Weltwirtschaftskrise gezogen werden:

Erstens. In dieser Krise wird die Verlogenheit der Herrschenden dokumentiert, die uns jahrzehntelang sagten: "Für dies und das, für all den 'Sozialklimbim' fehlt leider das Geld". All dies Geld ist nunmehr plötzlich in Hülle und Fülle und scheinbar unbegrenzt da - freilich für diejenigen, die ohnehin damit gesegnet sind und die nun vor einem selbst verschuldeten Absturz gerettet werden sollen.

Erinnern wir uns, dass Hartz IV mit dem Fehlen von ein paar Dutzend Milliarden Euro im Staatshaushalt begründet wurde. Rufen wir ins Gedächtnis, dass die Gewährung nicht zurück zu zahlender Stipendien anstelle von Bafög auf Kreditbasis ein paar Hundert Millionen Euro im Jahr kosten würde. Machen wir uns klar, dass ein paar Dutzend Milliarden US-Dollar ausreichen würden, um in den USA allen Menschen eine Standard-Krankenversicherung zu Gute kommen zu lassen, also auch den knapp 40 Millionen Personen, die derzeit keinerlei Krankenversicherung haben. Verdeutlichen wir uns, dass man mit einem Fonds von 50 bis 70 Milliarden Euro in Deutschland die allgemeine Reduktion der Arbeitszeit auf 28 Stunden bei vollem Lohn- und Gehaltsausgleich reduzieren und damit gleichzeitig die Massenerwerbslosigkeit beseitigen könnte.

All diese Anforderungen zur Herstellung einer größeren sozialen Gerechtigkeit wurden in den letzten 15 Jahren abgelehnt mit dem Argument, es gebe "keine finanziellen Spielräume"; Geld sei nicht (mehr) vorhanden; man müsse sparen. Inzwischen erleben wir, dass ein Vielfaches dieser Summen plötzlich diesseits und jenseits des Atlantiks vorhanden ist, wenn es darum geht, nicht die sozial Schwachen abzusichern, sondern die materiell Starken zu füttern.

All das Geld war natürlich immer da. Der Klassencharakter der Gesellschaft zeigt sich auch darin, wann dieses Geld "nicht da" ist - und wann es im Überfluss auftaucht und wie und wo es dann eingesetzt wird. Eine vergleichbare Situation gab es übrigens 1992. Damals wurde unter Kanzler Kohl ein rigider Sparkurs - Rentenklau inklusive - proklamiert. Dann kam der Irak-Krieg. Quasi über Nacht erklärte sich die Bundesregierung bereit, diesen mit rund 20 Milliarden DM mit zu finanzieren.

Zweitens. Zwei Jahrzehnte lang wurde uns gepredigt: Im Rahmen der Globalisierung hätten die Nationalstaaten und die nationalen Regierungen ihre Macht verloren; es dominierten allein die Finanzmärkte. Es herrsche der Turbokapitalismus, der "Finanzmarkt getriebene Kapitalismus". Auch auf militärischem Gebiet sei nicht mehr der Nationalstaat entscheidend. Vielmehr gäbe es nun die Herrschaft der privaten oder konzerneigenen Armeen. Tatsächlich erleben wir in diesen Wochen das Gegenteil: Die Finanzmärkte kontrahieren und schrumpeln, der Staat zeigt seine Muskeln.

Die bürgerlichen Regierungen - seien es solche, die, wie in den USA, Frankreich oder Italien, von Konservativen gestellt werden, seien es solche wie die britische oder spanische, denen Sozialdemokraten vorstehen, sei es die deutsche Bundesregierung, die von einer großen Koalition aus Konservativen und Sozialdemokraten getragen wird - alle diese Regierungen kennen nur noch ein Credo: Der Staat springt rettend in die Bresche. Die Bosse der Banken und Versicherungen, die bisher Gift und Galle spuckten, wenn von staatlicher Regulierung die Rede war, die jede Form der Verstaatlichung zu Teufelszeug erklärten, diese Finanzhaie betteln nun - nach anfänglichem Zögern - darum, dass der Staat ihnen doch beistehe, ja, dass der Staat teilweise Anteile an ihren Instituten übernehme. Wobei letzteres meist mit dem Zusatz versehen ist, es mögen dann aber stimmrechtslose und zeitlich befristete Beteiligungen sein. Man will weiter schalten und walten nach eigenem privaten Gusto und den Staat dann wieder aus den Unternehmen komplimentieren, wenn die größten Risiken in öffentliches Eigentum übertragen wurden.

Es ist die US-Regierung, die Bear Stearns, Fannie Mae und Freddie Mac und die weltweit größte Versicherung, AIG, rettete - bzw. die sich weigerte, den Lehman Brothers ebenfalls einen Rettungsring zuzuwerfen. Es war die deutsche Bundesregierung bzw. es waren Landesregierungen, die die deutschen Finanzinstitute IKB, SachsenLB, WestLB, BayernLB stützten und die Hypo Real Estate faktisch übernahmen.

Drittens. Seit Jahrzehnten wird uns gesagt "freedom and democracy", Freiheit und Demokratie, die Selbstbestimmung der Bevölkerung und die Freiheit des Kapitals, gingen Hand in Hand. Die aktuelle Krise der Finanzmärkte verdeutlicht jedoch, dass Entscheidungen, die Hunderte Millionen Menschen enorm belasten, von ein paar Dutzend Menschen gefällt werden. Immer wieder stellt sich dabei heraus, dass die Top-Banker dabei direkten Einfluss auf die Regierenden nehmen und diesen ihre "Rettungspläne" diktieren. Es herrscht die nackte Wirtschaftsdiktatur.

Fast alle Entscheidungen über die Pläne zur Stabilisierung der Finanzwelt werden in einem kleinen abgeschotteten Kreis von Personen mit engsten Beziehungen zum Finanzkapital gefällt. Die Parlamente bleiben entweder außen vor oder sie haben diese Pläne im Eilverfahren - im Fall des Bundestags in drei Tagen - durchzuwinken. Auch die Regierungen können die aktuellen Entscheidungen meist nur abnicken.

US-Präsident George W. Bush ist seit Mitte September weitgehend von der Bildfläche verschwunden. Wenn er sich denn äußert, dann in Form eines Rezitators: Ihm werden Texte vorgelegt, die er weitgehend tonlos - da unverstanden, weil an deren Zustandekommen unbeteiligt - wiedergibt. Das war nicht anders, als vor einem Jahr die SachsenLB über Nacht "gerettet" und an die baden-württembergische LBBW notverkauft werden musste. Das Parlament in Dresden konnte den Deal, der mit Milliarden Euro Steuergeldern finanziert werden muss, nur abnicken. Der sächsische Regierungschef Milbradt gab den Rezitator.

Und das ist nicht anders in diesen Tagen und Wochen: Hinter der Bundeskanzlerin als Rezitatorin steht ein kleiner Kreis von Bankern und Finanzleuten, die wiederum eng mit dem vernetzt sind, was hierzulande als "Hochfinanz" bezeichnet wird. Die "Süddeutsche Zeitung" spricht am 13. Oktober von einem sechsköpfigen "Komitee zur Rettung der deutschen Banken", bestehend aus dem Bundesbank-Chef Axel Weber, dem Präsidenten der Finanzaufsicht Bafin, Jochen Sanio, dem Deutsche-Bank-Chef, Josef Ackermann, dem Finanzminister Peer Steinbrück mit seinem Staatssekretär Jörg Asmussen und dem Abteilungsleiter Wirtschaft im Kanzleramt, Jens Weidmann. Diese "Sechserbande" erarbeitet seit Mitte September alle Krisenpläne. Dieser kleine Männerkreis entwickelte vor allem den 500-Milliarden-Euro-Plan, der, zu Wochenbeginn am 13. Oktober von der Kanzlerin vorgestellt, noch Ende derselben Woche von Bundestag und Bundesrat beschlossen und vom Bundespräsidenten mit Gesetzeskraft verkündet wurde. Noch nie in der deutschen Geschichte gab es eine derart weitreichende Finanzoperation zugunsten der Reichen, Besitzenden und Spekulierenden und noch nie in der Geschichte deutscher bürgerlicher Demokratie wurde ein derartig eingreifender Plan binnen einer Woche durch alle gesetzgebenden Instanzen gepeitscht.

Dieses strikt antidemokratische Grundverständnis ist derzeit weltweit zu beobachten. Es wird in "Section 8" des US-amerikanischen 700-Milliarden-Dollar-Plans zur Rettung der US-Finanzinstitute besonders verdeutlicht; dieser Plan wurde im übrigen von Finanzminister Henry ("Hank") Paulson erarbeitet, einem Mann, der mehr als zwei Jahrzehnte führend für die größte US-amerikanische Investmentbank Goldman Sachs tätig war und hundertfacher Dollarmillionär ist. Danach können alle "Entscheidungen des Finanzministeriums in Verfolgung dieses Gesetzes (...) von keinem Gericht und von keiner Regierungsbehörde eingesehen oder angefochten werden." Das heißt, Entscheidungen über eine der größten Umverteilungsaktionen in der US-Geschichte, die zu einem drastischen Anstieg der US-Staatsschuld führen und mit der 300 Millionen Menschen auf Jahrzehnte belastet werden, werden von einer kleinen Gruppe von Menschen, die in enger Verbindung mit den Top-Finanzinstituten stehen, entschieden. Was dabei wer wie entschieden hat, soll von niemandem angefochten werden können. In den Worten des Ökonomen Nouriel Roubini von der New York University, der bereits 2006 den Finanzkrach vorhergesagt hatte: "Da sagt dieser Paulson: 'Glaubt mir, ich werde alles richtig machen, wenn ich die absolute Kontrolle bekomme.' Aber wir leben doch nicht in einer Monarchie!"

Tatsächlich sind die Regierungsform und die Handlungsweise, die in der gegenwärtigen Krise vorherrschen, absolutistisch und autokratisch. In der Zeit des Absolutismus wurde die Macht der Alleinherrscher von Gott, einer nicht hinterfragbaren Instanz, abgeleitet. Die moderne Begründung für den aktuellen Absolutismus besteht in Verweisen auf "Sachzwänge", die "schnelle Entscheidungen" erforderten und die "objektiv nicht in Frage gestellt werden" könnten. Ein ergänzender Verweis auf Gott kann allerdings auch hier nicht schaden. Auf die Frage eines Kongressabgeordneten, was passieren würde, wenn Paulsons Banken-Rettungs-Plan im Parlament abgelehnt werde, antwortete Paulson: "Dann Gnade uns Gott!"

Doch die Dremokratie, die Herrschaft der Geschwindigkeit, als Gegensatz zur Demokratie, die auch ausreichend Zeit für Entscheidungen verlangt, ist eine bewusst herbeigeführte. Bis vor wenigen Jahren mussten weltweit Hypothekenkredite in den Büchern und Bilanzen der die Kredite vergebenden Institute bleiben; sie durften nicht weiterverkauft und schon gar nicht mit dubiosen anderen Papieren gebündelt und verschnürt und internationalisiert werden. Indem man diese Regulierung aufgab und den Hypothekenmarkt umfassend deregulierte, schuf man erst das Diktat von Markt und Geschwindigkeit.

Historische "Ausblicke" - Gefahr der Rechtsentwicklung: Dabei stehen wir erst am Anfang der Krise. Und damit auch erst am Anfang der sozialen Folgen derselben. Wenn der US-Finanzminister Henry Paulson vor der Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, am 25. September auf die Knie fiel und bettelte, diese möge doch für eine Kongress-Mehrheit für den 700-Milliarden-Dollar-Plan sorgen, so lässt sich dies zunächst unter der Rubrik "gutes Amusement" verbuchen. Die Demokratin Pelosi reagierte in diesem Fall auf den Republikaner Paulson mit dem Satz: "Ich wusste gar nicht, dass sie katholisch sind!" Tatsächlich durfte dann der US-Kongress (er hatte in einer ersten Abstimmung den Paulson-Plan vor allem mit republikanischen Stimmen abgelehnt!), solange unter dem Druck der Märkte abstimmen, bis eine demokratisch-republikanische-Mehrheit erzwungen war.

Doch das Amusement hält sich in Grenzen. Denn es geht ja keineswegs nur ein US-Finanzminister in die Knie. "Das System wankt" - mit dieser schlichten Zeile war der Leitartikel der "Börsen-Zeitung" am 30. September überschrieben. O-Ton des vor allem von der "Hochfinanz" gelesenen Kapitalblattes: "Noch ist das Finanzsystem zwar nicht gefallen. Doch es wankt. Und es droht, die Realwirtschaft zu erschüttern." In dem etwas breiter angelegten Großbürgerblatt "Frankfurter Allgemeine Zeitung" fand sich am 4. Oktober ein Artikel, der das Ende der Ära Bush mit der Finanzmarktkrise in einem Zusammenhang sieht und weitreichende politische Konsequenzen, eine drohende allgemeine Rechtsentwicklung, beschreibt. "Der Entzug dieses Fluchtpunktes (des "Urvertrauens in die demokratischen Garantien"; d. Verf.) ist, wie man an Russland und China sieht, keineswegs das Ende des Kapitalismus. Es droht vielmehr die dauerhafte Spaltung und Regression von Demokratie und Kapitalismus."

Der bereits zitierte Artikel in der "Börsen-Zeitung" bringt auch gleich einen direkten Bezug auf die fatale deutsche Geschichte: "Denn - es hilft ja nichts, sich selbst und der Öffentlichkeit etwas vorzumachen - man ist geneigt, 1931 zu assoziieren: Liquiditätskrise der Danatbank, Run auf die Banken, Notregime für das Kreditgewerbe ... politische und wirtschaftliche Destabilisierung."

Das Aufbrechen der neuen weltweiten Krise findet vor dem Hintergrund von Aufrüstung und neuen Kriegen statt. Da gibt es weiter den Irak-Krieg, auch wenn er aktuell in der Öffentlichkeit kaum mehr beachtet wird. Für die Menschen in der Region wird er weiterhin als ein Krieg des Westens um die Kontrolle über die Rohstoffe in der Region des Mittleren und Nahen Ostens gesehen - und dies zu Recht. Da gibt es den Krieg in Afghanistan. So gut wie alle westlichen Regierungen und beide US-Präsidentschaftskandidaten plädieren dafür, diesen Krieg zu intensivieren. Inmitten der Debatten über die Eindämmung der neuen Finanz- und Weltwirtschaftskrise ließ die CDU/CSU-SPD-Regierung die Ausweitung des deutschen Militäreinsatzes am Hindukusch beschließen - obgleich mehr als zwei Drittel der Bevölkerung diesen Einsatz ablehnen.

Eine Reihe einzelner Maßnahmen und Beschlüsse verdeutlichen die zunehmende Militarisierung der deutschen Politik. Da wurde in diesem Jahr erstmals das Gelöbnis deutscher Soldaten zum Sengen und Brennen vor dem Reichstagsgebäude abgenommen. Da trat inmitten der Krisenbekämpfungsdebatten, am 11. Oktober, der "Stiftungserlass" zur Verleihung des neu gegründeten "Ehrenkreuzes der Bundeswehr für Tapferkeit", sprich: das "Eiserne Kreuz Reloaded", in Kraft.

Bezeichnend war schließlich, dass die große Koalition Anfang Oktober als eines ihrer nächsten Vorhaben beschloss, noch in dieser Legislaturperiode die gesetzlichen Grundlagen für einen erweiterten Einsatz der Bundeswehr im Inneren zu schaffen (vgl. den Beitrag von Frank Brendle in diesem Heft auf der folgenden Seite [im Schattenblick unter: www.schattenblick.de -> Infopool -> Bürger/Gesellschaft -> Friedensgesellschaft: BERICHT/215: Lizenz zum Staatsstreich (ZivilCourage)]). Offiziell ist die Rede davon, dass die Bundeswehr im Fall von Katastrophen und "Terrorangriffen" im Inneren eingesetzt werden darf. Kaum verhohlen wird bereits diskutiert, dass der entsprechende Gesetzes-Artikel und die damit verbundenen Grundgesetz-Änderungen auch großzügiger ausgelegt, dass dann die Bundeswehr bei "Großveranstaltungen" und inneren Unruhen eingesetzt werden kann. Der Beschluss der großen Koalition erfolgte just zum Auftakt der neuen weltweiten Krise.

Dass der Plan wegen Bedenken aus der SPD-Fraktion zunächst aufgeschoben wurde, ändert nichts an den grundsätzlichen Absichten von CDU/CSU und SPD-Fraktionsspitze.

Wir erinnern daran: Es war die große Koalition der Jahre 1966 bis 1969, die die ersten gesetzlichen Grundlagen für einen Einsatz der Bundeswehr im Inneren beschloss. Die damalige CDU/CSU-SPD-Koalition unter Kurt-Georg Kiesinger (CDU) und Willy Brandt (SPD) beschloss 1968/69 die "Notstandsgesetze", die erstmals einen Bundeswehr-Einsatz im Inneren unter spezifischen Bedingungen erlaubten - womit ein allgemeiner Konsens der BRD aufgegeben wurde, wonach aufgrund der Erfahrungen mit dem Faschismus die Bundeswehr nie und nimmer im Inneren eingesetzt werden darf. Die damaligen Kommentatoren sahen Ende der 1960er Jahre in diesen Verfassungsänderungen eine Art regierungsamtliches Resumee der ersten westdeutschen Nachkriegsrezession, zu der es 1966/67 gekommen war. Auch hier gab es also einen Zusammenhang zwischen Wirtschaftskrise und Militarisierung - just so, wie er bei den aktuellen Vorhaben der Bundesregierung existiert.

Auch der Sparkurs, den die Bundesregierungen in jüngerer Zeit betrieben haben und den Finanzminister Steinbrück (der jetzt plötzlich die Spendierhosen anhat), personifiziert, steht in einem engen Zusammenhang mit der Finanzmarktkrise und mit Rüstung und Militarisierung. Mit den unzähligen Kürzungsmaßnahmen und Sparhaushalten zu Lasten der Bevölkerung wurden gewaltige Beträge der öffentlichen Hand entzogen - u.a. durch "Steuerreformen" und Steuersenkungen. Damit wurde die Massennachfrage reduziert, wodurch sich Krisentendenzen verschärften und Arbeitsplätze abgebaut wurden.

Gleichzeitig blieben die gewaltigen "eingesparten" Summen bei den großen Konzernen und Banken oder sie gelangten in spezifische Kapitalsammelstellen. Ein großer Teil dieser Gelder wurde dann in spekulative Geschäfte investiert - was zu den verschiedenen Spekulationsblasen und damit zum Ausgangspunkt der aktuellen Krise führte. Ein anderer Teil wanderte in den Rüstungssektor, dem er seit vielen Jahren Extraprofite beschert. Die wachsende Arbeitslosigkeit und die verbreitete Armut u.a. durch Hartz IV wiederum leisteten einen Beitrag dafür, dass sich immer mehr Menschen gegen entsprechende Bezahlung für Bundeswehrauslandseinsätze bereitfinden.

Ausgaben für Rüstung und für Banken-Rettung - drei Forderungen:

Die unvorstellbaren Summen, die aktuell für die Rettung der Banken ausgegeben werden sollen, lauten wie folgt: In den USA beträgt das Bankenrettungspaket rund 700 Milliarden US-Dollar, in Deutschland sind es rund 500 Milliarden Euro oder 675 Milliarden Dollar. Zusammen werden also allein in diesen zwei Ländern bis zu 1.400 Milliarden US-Dollar zu Rettung von Finanzinstituten ausgegeben. Diese unvorstellbaren Summen sollen den angeschlagenen Finanzinstituten weitgehend ohne Gegenleistung gewährt werden.

Die erste daraus resultierende Forderung muss lauten: In dem Maß, wie der Staat und wie die Steuerzahlenden der skrupellosen Finanzbranche unter die Arme greifen, müssen die entsprechenden Institute in direktes öffentliches Eigentum überführt werden. Nur so gibt es die Chance, dass eine Wiederholung des Desasters ausgeschlossen und eine wirksame Kontrolle im Finanzsektor erreicht werden kann.

Nun kann man die genannten Summen mit allerlei vergleichen; sie entspricht zum Beispiel rund acht Prozent des Bruttoinlandproduktes der beiden Länder. In unserem Zusammenhang drängt sich jedoch ein anderer Vergleich auf: Die Summe der Bankenrettungsprogramme entspricht auch - rein zufällig(?) - den Rüstungsausgaben. 2007 wurden laut des schwedischen Forschungsinstituts Sipri weltweit 1.340 Milliarden US-Dollar für Rüstung ausgegeben. Im aktuellen Krisenjahr soll der Betrag nochmals höher liegen. Konkretisiert nur auf Nordamerika (USA und Kanada) und Europa: In diesen zwei Regionen des Kapitalismus werden aktuell rund 1.500 Milliarden US-Dollar zur "Rettung der Banken" investiert. In denselben Regionen werden 800 Milliarden US-Dollar oder gut halb so viel für Rüstung ausgegeben. Im ersten Fall handelt es sich um einen einmaligen Betrag. Im zweiten Fall jedoch um einen jährlich wiederkehrenden Betrag.

Unsere zweite Forderung muss lauten: Nicht die Steuerzahler dürfen zur Kasse gebeten werden. Notwendig ist eine Konversion der Rüstungsausgaben; die staatlichen Ausgaben für Krieg und Zerstörung müssen für ein Konjunkturprogramm der westlichen Industrieländer zum nachhaltigen Umbau der Wirtschaft umgemünzt werden. Damit wiederum könnte man den öffentlichen und demokratischen Einfluss in der gesamten Wirtschaft ausbauen.

Schließlich und drittens eine Forderung, die derzeit niemand stellt, die jedoch tagesaktuell ist: Die kapitalistische Wirtschaftsweise muss grundsätzlich in Frage gestellt werden. Ja, sie wird in diesen Wochen objektiv - durch die Ereignisse - in Frage gestellt. Derzeit ist immer wieder die Rede davon, dass "das Vertrauen gestört" sei. In der Finanzwelt müsse "das Vertrauen wieder hergestellt" werden. Das ist absurd, eine Argumentation wie im Tollhaus. Tatsächlich wird derzeit Tag für Tag das Vertrauen in eine Wirtschaftsweise zerstört, die nach den Gesetzmäßigkeiten eines Spielcasinos funktioniert und bei der die wenigen Spieler als Einsatz das Wohlergehen von Hunderten Millionen Menschen geben. Nun sollen mit den Banken-Rettungsprogrammen und mit dem Geld der Steuerzahlenden dieses System ein weiteres Mal gerettet und den Spielern gesagt werden. Faites votre jeux - Auf ein weiteres Mal!"

Wann, wenn nicht jetzt, steht die Forderung auf der Tagesordnung: Ya basta - es reicht! Eine andere Welt ist möglich. Doch dafür ist eine grundsätzlich andere Ökonomie als die kapitalistische nötig!


"Die Ausländer liefern uns ihre Waren, und dafür kriegen sie von uns Papier mit den Bildern unserer toten Präsidenten."
(Brad Setzer, US-Währungsfachmann)


Winfried Wolf ist Mitglied der DFG-VK und Chefredakteur von lunapark21 - Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie (1).


(1) lunapark21 - Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie -
erscheint mit fünf Heften im Jahr.
Die aktuelle Ausgabe Dezember 2008 ist gerade erschienen.
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Internet: www.lunapark21.net



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Quelle:
ZivilCourage Nr. 5 - November 2008, S. 4-8
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK
Herausgeberin: Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
KriegsdienstgegnerInnen e.V. (DFG-VK e.V.),
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Erscheinungsweise: zweimonatlich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Dezember 2008