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BERICHT/257: Obamas Beendigung der geplanten "Raketenabwehr" (ZivilCourage)


ZivilCourage Nr. 5/6 - Dezember 2009
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK

Abkehr oder Verlagerung
Obamas Beendigung der geplanten "Raketenabwehr"

Von Marion Küpker


Noch in der Vor-Obama Ära unterzeichnete die polnische Regierung einen Vertrag zur Stationierung von zehn US-Abfangraketen auf einem Stützpunkt in Polen. In Tschechien sollte die dazugehörige Radaranlage gebaut werden. Russland, aber auch die tschechische und polnische Bevölkerung protestierten heftig gegen diesen so genannten Raketenabwehrschild, darunter allein 130 tschechische BürgermeisterInnen.

Der pro-westlich eingestellte russische Militärexperte Pavel Felgenhauer: "Russland befürchtet, dass die Atomraketen, die in Polen in der Nähe Russlands aufgestellt werden sollen, auch Erstschlagsfähigkeiten haben und Moskau zerstören könnten, bevor russische Vergeltungsraketen in der Luft wären; deshalb glaubt man nicht, dass sie tatsächlich zur Raketenabwehr, sondern für einen atomaren Erstschlag gedacht sind."

Russland kann nicht abwarten, ob die Rakete einen konventionellen Sprengkopf trägt, oder ein Atompilz über der russischen Hauptstadt aufsteigt. Auch die Vereinigten Staaten würden umgekehrt das Schlimmste annehmen und mit atomarer Aufrüstung antworten.

Vor diesem politischen Hintergrund wird Obamas aktueller Verzicht auf diese Raketenabwehr, der im September in den Medien veröffentlicht wurde, von vielen begrüßt und als Schritt hin zur nuklearen Abrüstung betrachtet - wären da nicht weitergehende Informationen!

Mitte August fand in Alabama die jährliche U.S. Space and Missile Defense Conference (Konferenz zur US-Weltraum und Raketenabwehr) statt. Die Nachrichtenagentur Reuters meldete, dass der Vizepräsident des US-Rüstungskonzerns Boeing, Greg Hyslop, gleichzeitig auch Chefmanager der Abteilung für Raketenabwehr, verkündete, seine Gesellschaft entwickle aktuell eine ca. 21.500 Kilogramm schwere Abfangrakete, die bei Bedarf schnell zu Nato-Basen in Europa geflogen und auf einem Anhänger in Stellung gebracht werden könnte.

Das Haushaltsbüro des US-Kongresses veröffentlichte eine Studie zu den verschiedenen Optionen für einen Raketenabwehrschild in Europa. Darin heißt es, dass landgestützte mobile Raketen in Deutschland auf dem US-Militärstützpunkt Ramstein und in der Türkei auf der Basis Incirlik stationiert werden sollen und seegestützte vor den Küsten Rumäniens im Schwarzen Meer, Polens in der Ostsee und Italiens im Mittelmeer. Die Radaranlagen im aserbaidschanischen Katar sowie Flyingdales in England würden das System unterstützen und könnten zwischen 2015 und 2018 fertig gebaut sein.

Die Tageszeitung "Gazeta Wyborcza" berief sich auf den US-Raketenschild-Lobbyisten Riki Ellison und meldete, dass Mitarbeiter von Obama sich dafür einsetzen, dass die Abfangraketen auf Schiffen sowie in Israel, der Türkei und auf dem Balkan aufgestellt würden. Auch die "New York Times" meldete, die Türkei und der Balkan seien als Alternativen im Gespräch.

Der US-Journalist Rick Rozoff beschreibt das MEADS (Medium Extended Air Defense Systems - Luftverteidigungssystem mittlerer Reichweite) als ein transportables Raketen- und Flugabwehrsystem, das Bodentruppen auch an die Front begleiten kann, um sie gegen Luft- und Raketenangriffe zu schützen. Zum Ausbau der so genannten Raketenabwehr in Europa hat die Obama-Regierung für das nächste Jahr fast 600 Millionen Dollar zur Finanzierung für MEADS gefordert. MEADS ist ein von den Vereinigten Staaten, Deutschland, Italien und der Nato gemeinsam finanziertes Programm für taktische Abwehrraketen, mit dem die in Europa bereits vorhandenen Systeme Patriot und Nike Hercules unter Nato-Management aufgewertet werden sollen. Die USA übernehmen 58 Prozent, Deutschland 25 Prozent, Italien und andere Nato-Mitglieder 17 Prozent der Kosten. MEADS soll zur Luftverteidigung gegen ballistische Raketen, Marschflugkörper und Flugzeuge dienen.

Dass die als "Ersatz" geplanten mobilen US-Abwehrraketen auf Schiffen (die es schon gibt) und auf Fahrzeugen (die bereits im Modell existieren) viel gefährlicher sind als die gestoppte stationäre "Raketenabwehr" leuchtet ein, da letztere als Ziel viel einfacher auszumachen ist.

Auf dem deutschen Nato-Atomwaffenstützpunkt Büchel ist die Bundeswehr stolz auf ihre neue Angriffswaffe: Die "Taurus-Marschflugkörper", die ebenfalls von dort aus zum Einsatz kommen können.

Der "Taurus", die modernste Abstandswaffe der Welt, wurde im Jahre 2005 von dem deutsch-schwedischen Konzern Taurus Systems GmbH (EADS-Lenkflugkörpersysteme und Saab Bofors Dynamics) entwickelt, und 600 Stück wurden für Deutschland produziert. Die bunkerbrechende Taurus-Rakete fliegt nach dem Ausklinken vom "Tornado" eigenständig unter dem Radar hindurch bis zu 500 Kilometer weit zum Ziel, wo sie vier Meter Stahlbeton durchdringen kann. Um in unterirdische Bunker eindringen zu können, führt sie am Ziel ein so genanntes High-pop-up-Manöver durch, d.h. sie fliegt senkrecht nach oben, um dann im Sturzflug "effektiv" einzudringen. Um hierzu in der Lage zu sein bedarf es eines Materials mit besonders hoher Dichte, wie es Uran darstellt. Laut Tommy Rödl, Sprecher des bayerischen DFG-VK-Landesverbands, kann der "Taurus" sogar mit einem Atomsprengkopf bestückt werden. Bereits der Einsatz der konventionellen "Taurus"-Waffe verbunden mit dem Raketenabwehrsystem würde die Möglichkeit eines Nato-Angriffskriegs gegen Russland stark erhöhen: Die feindlichen unterirdischen Atomwaffenbunker könnten u. U. so vor dem Gegenangriff zerstört werden.

Dass die Pläne der USA und der Nato zur Errichtung eines Raketenabwehrschildes mit entsprechenden Radarstationen in Europa nicht entworfen wurden, um die Vereinigten Staaten und Westeuropa vor imaginären iranischen Interkontinentalraketen mit nicht existierenden Atomsprengköpfen zu schützen, musste sogar General James Cartwright, der stellvertretende Chef des US-Generalstabs, im September auf der Raketenabwehr-Konferenz eingestehen.

Der bekannte Journalist John Pilger schreibt in einem am 1. Oktober in "New Statesman" veröffentlichten Artikel:

"Die Behauptung, vom Iran gehe eine atomare Bedrohung aus, ist eine Lüge": "Erinnern wir uns an die berüchtigte Titelseite des Guardian vom 22. Mai 2007: 'Irans heimlicher Plan für eine Sommeroffensive zur Vertreibung der US-Truppen aus dem Irak'. Ihr Autor Simon Tisdall berief sich auf Behauptungen aus dem Pentagon über einen iranischen 'Kriegsplan', nach dem die US-Streitkräfte im September 2007 angegriffen und aus dem Irak vertrieben werden sollten; das war eine Falschmeldung, die nie dementiert wurde. Im offiziellen Jargon heißt diese Art Propaganda 'Psy-Ops', das ist das militärische Kürzel für 'Psychologische Operationen'. Im Pentagon und in Whitehall sind sie zu einem wichtigen Bestandteil einer diplomatischen und militärischen Kampagne geworden, die den Iran blockieren, isolieren und schwächen soll; eine angeblich vom Iran ausgehende 'atomare Bedrohung' wird von Barack Obama und Gordon Brown systematisch aufgebauscht und von der BBC und anderen Medien als objektive Nachricht nachgeplappert und verbreitet."

"Am 16. September gab Newsweek bekannt, dass die wichtigsten US-Geheimdienste dem Weißen Haus berichtet hätten, der 'atomare Status' des Irans habe sich seit der National Intelligence Estimate vom November 2007 nicht verändert; damals wurde mit 'ziemlicher Sicherheit' festgestellt, dass der Iran 2003 sein vermutetes (Atomwaffen-)Programm eingestellt habe. Auch die International Atomic Energy Agency/IAEA hat das immer wieder bestätigt."

"Die gegenwärtige Propaganda wird ergänzt durch die Ankündigung Obamas, die Vereinigten Staaten verzichteten darauf, Raketen in der Nähe der russischen Grenze aufzustellen. Damit soll kaschiert werden, dass sich die Anzahl der in Europa zu stationierenden US-Raketen erhöhen wird, weil (mehr als) die Raketen, auf die angeblich verzichtet wurde, auf Schiffen stationiert werden sollen. Mit diesem Spiel soll Russland dazu gebracht werden, sich der US-Kampagne gegen den Iran anzuschließen oder sie wenigstens nicht zu behindern. Obama verkündete: 'Präsident Bush hatte Recht damit, dass die ballistischen Raketen des Irans eine schwere Bedrohung [für Europa und die Vereinigten Staaten] darstellten'. Diese Behauptung, der Iran könnte einen selbstmörderischen Angriff auf die Vereinigten Staaten erwägen, ist einfach absurd." "Hinter Obamas Kraftprobe mit dem Iran steckt noch ein anderer Plan. Die Medien auf beiden Seiten des Atlantiks sollen die Öffentlichkeit auf einen endlosen Krieg einstimmen. General Stanley McChrystal, der Oberkommandierende der US- und Nato-Streitkräfte in Afghanistan, braucht nach einer Meldung des US-TV-Senders NBC 500.000 Soldaten und mindestens fünf Jahre für einen Sieg. Ziel dieses Krieges ist die 'strategische Sicherung' der Gas- und Ölfelder des Kaspischen Meeres, Zentralasiens, des persischen Golfs und des Iran - mit anderen Worten: die Herrschaft über Eurasien. Aber dieser Krieg wird von 69 Prozent der Briten, von 57 Prozent der US-Amerikaner und von fast allen anderen Menschen abgelehnt. Es wird nicht leicht sein, 'uns alle' davon zu überzeugen, dass der Iran der neue Dämon ist."

Im September berichtete der Internet-Blog SaarBreaker in dem Artikel "Militärübung startet trotz regionaler Spannungen zwischen Israel und Iran", dass etwa 1.000 dem European Command (Eucom in Stuttgart) unterstehende US-Soldaten im Oktober zu der groß angelegten Übung "Juniper-Cobra" zur Raketenabwehr nach Israel in die Negev Wüste verlegt werden sollen.

Die US-Soldaten aus allen vier Teilstreitkräften (Air Force, Army, Navy und Marine Corps) werden mit einer gleichen Anzahl Soldaten der israelischen Streitkräfte auch an mit Computern simulierten Kriegsspielen teilnehmen, die sicherstellen sollen, dass die beiden Staaten in einer Krise gemeinsam agieren können.

Bezüglich der neuen Raketenabwehrpläne berichtete die "Jerusalem Post", dass Vertreter der Vereinigten Staaten und Israels sich zu informellen Gesprächen getroffen hätten, bei denen es um die Stationierung von Elementen des Systems in Israel ging.

Im April haben bereits etwa 100 in Europa stationierte US-Soldaten in Israel an einer Raketenabwehr-Übung teilgenommen, in die zum ersten Mal ein im Besitz der USA befindliches Radarsystem einbezogen war, das im Oktober 2008 auf der Nevatim Air Base in der Negev-Wüste aufgebaut wurde. Bei Raketenstarts im Iran soll das X-Band-Radar Israel rechtzeitig warnen.

Die als Übung getarnte Verstärkung der Raketenabwehr Israels könnte eine vorbeugende Maßnahme für den Fall sein, dass der Iran auf den zu erwartenden israelischen Luftangriff auf seine Atomanlagen mit Raketen antwortet.

Da die Pläne der USA und der Nato für einen Raketenabwehrschild in Europa untrennbar mit dem beabsichtigten globalen Raketen-Abfangnetz und der Militarisierung des Weltraums verknüpft sind, müssen wir auf diese gefährliche Entwicklung unser besonderes Augenmerk legen!


Marion Küpker ist Koordinatorin der GAAA und Internationale Koordinatorin der DFG-VK gegen Atom- und Uranwaffen.


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Quelle:
ZivilCourage Nr. 5/6 - Dezember 2009, S. 20-21
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK
Herausgeberin: Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
KriegsdienstgegnerInnen e.V. (DFG-VK e.V.),
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Februar 2010