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STANDPUNKT/068: Schutz, Schutzpflicht und ... (Forum Pazifismus)


Forum Pazifismus Nr. 16 - IV/2007
Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit

Schutz, Schutzpflicht und die alte Frage nach der notwendigen Gewalt
Der ökumenische Rat der Kirchen im Bann der Zauberformel R2P

Von Thomas Nauerth


Der die Formel "responsibility to protect" ("Verantwortung zu schützen") bei 'www.google.de' eingibt, entdeckt ein neues Paradigma: "Das Konzept der Schutzpflicht wurde von der Internationalen Kommission über Intervention und Staatensouveränität in deren Bericht vom Dezember 2001 entwickelt. Damit verlagerte sich die Diskussion von der Perspektive der Intervenierenden hin zur Perspektive der Menschen in Not, wobei gleichzeitig Souveränität als Status definiert wurde, der mit bestimmten Pflichten einhergeht, anstatt als absolute Macht. Dieses innovative Konzept stellt die Bedürfnisse und Rechte der Zivilbevölkerung und die Pflichten des Souveränitätsträgers in den Mittelpunkt, nicht nur dessen Rechte. Somit rückt die Verlagerung von der Intervention hin zum Schutz die Bürgerinnen und Bürger ins Zentrum der Debatte", so die Beschreibung des neuen Paradigmas in einem Papier des Ökumenischen Rates der Kirchen.

Unter 'www.responsibilitytoprotect.org' wird versucht, auf der politischen Ebene diese neue Doktrin populär zu machen: 'join the R2P Network!' Es geht um Responsibility to Prevent, Responsibility to React und Responsibility to Rebuild. Priorität liegt dabei auf der Präventionsverantwortung. Wie es sich marketingmäßig gehört hat der Slogan "responsibility to protect" eine schicke Abkürzung bekommen: R2P. Hunderte von Organisationen weltweit haben bereits ihre Unterstützung bekundet. Die Bundeswehr hat anscheinend noch nicht unterschrieben, obwohl es so gut zur neuen Lage passen würde.(1) Denn dass man am Hindukusch Deutschland verteidigt, hat wohl selbst der damalige Verteidigungsminister nicht geglaubt. Er hatte bloß keine andere Vokabel. Hier im R2P-Network könnte er Vokabel und Konzept gratis bekommen, nicht verteidigt wird Deutschland, sondern Deutschland nimmt seine Verantwortung zum Schutz (von wem oder was auch immer) wahr.

Ganz am Ende der Liste der unterzeichnenden Organisationen findet sich dann auch der World Council of Churches, der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK).

Der ÖRK hat aber nicht nur unterzeichnet, er hat auch nachgedacht. Ergebnis dieser Nachdenklichkeit ist ein Papier, die Erklärung zur Schutzpflicht ("Responsible to Protect"), angenommen auf der neunten Vollversammlung des ÖRK vom 14.- 23. Februar 2006 in Porto Alegre (Brasilien).(2) Mit diesem Papier wird die Notwendigkeit und die Legitimität militärischer Gewalt ganz neu in die ökumenische Debatte eingebracht. Auch einige friedenskirchliche Theologen, gemeinhin Gewaltfreiheit und Pazifismus verpflichtet, nähern sich über R2P wieder eher traditionellen großkirchlichen, Gewalt eben als ultima ratio, letztes Mittel legitimierenden Positionen. Es ist daher hohe Zeit dieses Papier des ÖRK einmal kritisch gegenzulesen.


ÖRK verzichtet auf Aufstellung eigener Milizen

Was man zu lesen bekommt, ist ein eigenartiger Text. Es findet sich kaum eine stringente Argumentation, die Zauberformel R2P scheint selbstevident, und es wird nicht so recht deutlich, wie der Text überhaupt argumentieren möchte. Soll es theologisch sein, oder soll es doch eher mit vernünftigen, politischen Überlegungen - gerichtet an alle Menschen guten Willens - geschehen? Die theologischen Einsprengsel sind spärlich und wenig zusammenhängend. Immerhin, an einer Stelle wird sozusagen schwerstes theologisches Geschütz (die militärische Metapher scheint bei diesem Text nicht ganz unangemessen) in Stellung gebracht: Matthäus 25, jenes Gleichnis vom Gericht, in dem Jesus jede gute Tat an einem beliebigen Menschen als gute Tat ihm gegenüber wertet:

"In den Schwächsten wird Christus für uns sichtbar (Mt 25,40). Die Pflicht, sie zu schützen ist ökumenische Pflicht" [4].

Die Pflicht, die Schwächsten zu schützen hat allerdings bislang (glücklicherweise!) nicht dazu geführt, dass der ÖRK erwägt, eine eigene militärische Interventionstruppe aufzustellen. Hieran wird deutlich, dass zu unterscheiden ist zwischen der Legitimität einer Pflicht (hier: die Schwachen zu schützen) und der Legitimität der dafür eingesetzten Mittel. Ein ganz privates Beispiel. Als Familienvater habe ich selbstverständlich und unbestritten Schutzpflicht für Frau und Kinder. Trotzdem verbietet es mir der deutsche Staat mit guten Gründen, dieser Schutzpflicht durch bestimmte Mittel nachzukommen, ich darf mich nicht bewaffnen, auch wenn der berühmte Fall - nachts im Park und meine Frau wird angegriffen - ebenso denkbar ist, wie der Einbruch eines drogenverwirrten bewaffneten Junkies in unser Haus. Ich habe zu schützen mit all meiner Kraft und meinen Fähigkeiten, aber eben gerade nicht mit allen Mitteln. Der Staat, oder die Gesellschaft verbietet mir die freie Wahl der Mittel nicht etwas aus Gedankenlosigkeit, sondern aus der Erfahrung heraus, dass freie Wahl der (Gewalt)mittel in einer Gesellschaft insgesamt deutlich mehr Schaden anrichtet als jede Begrenzung. Sollte also einmal der Fall eintreten, dass ein Gewehr mich bzw. meine Familie hätte schützen können, dann ist der private Schaden, der durch das Fehlen des Gewehrs entstanden ist, sozusagen gesamtgesellschaftlich zu verrechnen mit dem Gewinn, der der Gesellschaft aus der Beschränkung der Mittel erwächst.

Die Pflicht, die Schwächsten, in denen Christus sichtbar wird, zu schützen, hat demnach immer Grenzen, hat auch für den ÖRK Grenzen. Die ÖRK-Kirchen wollen dieser Pflicht nicht mit Gewalt nachkommen, jedenfalls nicht mit eigener Gewalt.


Kirche ruft Staat zur Gewalt

Die ÖRK Kirchen wollen ihrer Pflicht zum Schutz nachkommen durch Einfordern wirksamer Prävention, durch Beteiligung an solcher Prävention(3), aber letztlich bei gescheiterter Prävention auch durch Aufrufe "an die internationale Gemeinschaft (...) Menschen, die von außerordentlichem Leid und Gefahr betroffen sind, zu Hilfe zu kommen" - mit Gewalt. Auch mit militärischer Gewalt soll dann Hilfe möglich sein. In einer eigenartig umständlichen Formulierung heißt es: "Kirchen mögen einräumen, dass Gewaltanwendung zum Schutz der Bevölkerung unter bestimmten Umständen eine Option darstellt, die den Erfolg nicht garantieren, kann, die aber genutzt werden muss, da die Welt bisher weder in der Lage war, noch ist, irgendein anderes Instrument zu finden, um Menschen in aussichtslosen Situationen zu Hilfe zu kommen."[14]

Es geht also letztlich darum, dass die Kirchen staatliche Gewalt, die behauptet, zum Schutz eingesetzt zu sein, legitimieren bzw. dass die Kirchen nach dem schützenden Einsatz staatlicher militärischer Gewalt rufen dürfen. Möglich wird dies theologisch, weil die "Mitgliedskirchen des Ökumenischen Rates (...) sich gemeinsam zum Vorrang der Gewaltlosigkeit" bekennen [4], d.h. den Nachrang der Gewalt gleich mit im Programm haben(4); weil zwar das "Verbot zu töten (...) den Kern jeglicher christlichen Ethik (Mt 5, 21-22)" [3] bilde, aber gleichzeitig die "biblischen Zeugnisse eine Anthropologie, die die menschliche Fähigkeit, Böses zu tun, aus der Perspektive der Gefallenheit der Menschheit" [3] formulieren. Also, die Welt ist sündhaft ("gefallen") und aus dem Sündhaften erwächst böse Gewalt, und der bösen Gewalt ist eben manchmal nur mit (guter!?) Gewalt beizukommen.

Hier scheint der theologische Kern der Argumentation des ÖRK-Papiers zu liegen. Es ist eine sehr alte Argumentation, die schon in den 1920er Jahren u.a. im Friedensbund Deutscher Katholiken (unter dem Stichwort "Erbsünde") geführt worden ist. Die flapsige Antwort des Dominikanerpaters Franziskus Maria Stratmann, es gebe doch so viele schöne Möglichkeiten zu sündigen, warum dann die Annahme, sündigen müsse notwendig Gewaltanwendung bedeuten, hat bis heute allerdings keine richtige Antwort gefunden.


Einmal Gewalt in feinster Dosierung bitte

Innovativ am Papier des ÖRK sind also nicht die Argumente, die alle aus den Debatten der letzten Jahrzehnte reichlich bekannt sind, sondern die Ausführungen bezüglich der "Grenzen der Gewaltanwendung".

Die Kriterien, die der ÖRK für den Einsatz tötender, militärischer Gewalt in seinem Papier aufgestellt hat, sind eng und in alle Richtungen durchdacht. Sie gehen, wenn ich richtig sehe, auch noch weit über die Kriterien z.B. des deutschen katholischen Bischofshirtenwort "Gerechter Friede" hinaus (Gewalt nur, wenn sie die Anwendung von Waffengewalt zugunsten gewaltloser Mittel beendet, unter striktester Beachtung der Verhältnismäßigkeit der Mittel (...) im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen, völkerrechtlich kontrolliert (...) nur von Akteuren, die selbst das Völkerrecht strikt einhalten. Dies ist eine zwingende Vorbedingung [13]).

Es wird explizit von Grenzen der Gewalt gesprochen und von einer "ausdrücklichen Beschränkung der Gewaltanwendung auf die unmittelbare Schutzfunktion"[15]. Eine militärische Intervention zu humanitären Zwecken sei "nicht ein Krieg mit dem Ziel, einen Staat zu besiegen, sondern ein Einsatz zum Schutz gefährdeter Menschen vor Schikane, Verfolgung und Mord." [17] Explizit wird betont, dass solch eine Intervention "einer das Recht achtenden Polizeitätigkeit - wenn auch vielleicht nicht in der Intensität des erforderlichen Gewalteinsatzes - näher" steht, "da die Streitkräfte nicht eingesetzt werden, um eine Auseinandersetzung zu "gewinnen" oder ein Regime zu besiegen."[17] Wie eine explizite Absage an die Militäraktionen in Afghanistan klingt die Aussage: "Die Kirchen befürworten jedoch nicht die Ausübung tödlicher Gewalt zur Herbeiführung einer friedlichen und sicheren neuen Ordnung". [15]

Hier wird im Grunde die alte Debatte, ob Pazifisten nicht für eine internationale Polizeistreitmacht eintreten müssten, um Militärstreitmächte überflüssig zu machen, neu erfunden.

Man kann an dieser Stelle dem ÖRK trotzdem durchaus dankbar sein. Denn er macht deutlich, überdeutlich, wie minimal unter ethischer, theologischer R2P-Perspektive der theoretisch denkbare Spielraum militärischen Handelns ist. Man wird den ÖRK-Überlegungen auch unter pazifistischer Perspektive hier nicht widersprechen können. Denn auch eine Position unbedingten Gewaltverzichts sieht, dass "Gewalt oder militärische Einsätze im Einzelfall Menschen retten oder sonst Gutes bewirken können, so wie auch sonst schlechte Mittel gute Zwecke befördern können".(5)

Ob allerdings das Töten von Menschen zum Schutz von Menschen nicht grundsätzlich ein in sich schlechtes Mittel ist, dessen Anwendung nicht zur Debatte stehen kann, diese Frage wird im ÖRK-Papier nicht weiter bedacht, obwohl sie sich von Mt 25 her durchaus nahelegen würde.


Funktioneller Pazifismus: Christen, die Waffen nieder!

Der Unterschied zwischen dem ÖRK-Papier und einer pazifistischen Position, einer Position unbedingten Gewaltverzichts liegt, also nicht in der Beschreibung eines theoretisch denkbaren Spielraums rettender tötender, militärischer Gewalt. Der Unterschied liegt darin, dass der ÖRK an diesem Punkt aufhört mit seiner Nachdenklichkeit. Dabei fangen hier die Fragen und die Probleme erst eigentlich an.

Zwei Fragen drängen sich geradezu auf. Die eine Frage ist, ob das Militär je solch ein präzises Mittel sein kann, wie es der ÖRK unter ethischer, theologischer Perspektive zu Recht fordert. Lässt Militär sich begrenzen auf die "ausschließliche Aufgabe (...) Schutz der bedrohten Bevölkerung"[17]? Stellt das Militär nicht ein solch eigengesetzliches System dar, dass es sich nie so ethisch präzise instrumentalisieren lassen wird? Das ÖRK-Papier scheint bezüglich der Frage nach der Brauchbarkeit des Mittels Militär für solch minimalinvasive chirugische Schläge selbst etwas Skepsis zu hegen, z.B. wenn formuliert wird, dass ein "Rechtsbruch (...) nicht gebilligt werden" kann, "auch wenn dies mitunter - von der militärischen Warte aus betrachtet - zu Nachteilen oder zu einer kurzfristig eingeschränkten Wirksamkeit der Intervention zu führen scheint"[13]. In der Tat, Streitkräfte nicht einzusetzen, um eine Auseinandersetzung zu "gewinnen" oder ein Regime zu besiegen, löst viele ethische Probleme. Die Frage, ob überhaupt Streitkräfte zu finden sein werden, die unter solchen Bedingungen antreten, darf aber nicht unterschlagen werden. Das ÖRK-Papier erweckt den Eindruck, dass man sich sozusagen am ethischen bzw. theologischen Schreibtisch das Militär passend zurechtskizzieren kann. Die faktische Realität des Militärs wird einfach ausgeblendet, jede pazifistische, antimilitaristische Position scheint da um einiges realistischer!

Eine andere Frage, aus einer Position der Skepsis bezüglich der ersten Frage erwachsene, ist die nach dem Kosten-Nutzen Verhältnis. Wenn dem Militär ethisch-theologisch gesehen nur so ein kleiner denkbarer bzw. denkbar kleiner Handlungsspielraum bleibt, lohnen sich dafür die gesamtgesellschaftlichen Kosten, die das Militär seit je verursacht? Es verhält sich hier m.E. genau wie bei dem skizzierten Beispiel meiner privaten Schutzpflicht. Theoretisch denkbar ist die Notwendigkeit des Gewehrs für den Schutz der eigenen Familie, doch die gesamtgesellschaftlichen Kosten eines allgemeinen Gewehrbesitzes sind zu hoch. Auch in Bezug auf das Militär kann eben gelten: "Der menschliche Preis" für dieses Mittel "ist für eine Gesellschaft untragbar."(6)

Wie auch immer man sich in diesen Fragen positioniert, eine Konsequenz ist m.E. unausweichlich: Christen können nach Maßgabe des ÖRK-Papiers nicht mehr in normalen Armeen Soldaten sein. Denn die normalen militärischen Einsätze erfüllen in der Regel nicht die Anforderungen, die der ÖRK in seinem Papier stellt. Ein Soldat, der ehrlicherweise bei Anmusterung angibt, ca. 90 Prozent der militärischen Aktionen aus ethischen Gründen nicht mitmachen zu können, die restlichen 10 Prozent aber für wichtig zu halten, ein solcher Soldat wird nach Hause geschickt. Wenn ein Christ, dessen Kirche dem ÖRK angehört und der sich den Entscheidungen seiner Kirche verpflichtet fühlt, mit diesem ÖRK-Papier zur Armee geht, das Papier vorlegt und sagt, ich fühle mich verpflichtet, am Schutz der Schwachen auch militärisch teilzunehmen, allerdings nach den Kriterien dieses Papiers; keine Armee wird diesen Menschen verpflichten.


Das tiefe Schweigen des Ökumenischen Rates

Vermutlich werden die letzten Ausführungen etwas Irritation auslösen. Davon, von den Konsequenzen für den einzelnen Christen, steht doch nichts im Papier. So ist das Papier doch nicht gemeint! Nein? Wie aber ist es dann gemeint? Darf man dieses Papier in seinen Aussagen nicht ernst nehmen? Hat dieses Papier keine Konsequenzen für den einzelnen Christen? Für wen aber dann? Darf man dieses Papier nicht auf konkrete Sachverhalte anwenden? Was darf man denn dann mit diesem Papier?

In der Tat, der ÖRK schweigt zur Frage konkreter Konsequenzen, aber das bedeutet ja mitnichten, dass es diese Konsequenzen nicht gibt. Nimmt man eigentlich die postulierte Schutzpflicht ernst - immerhin behauptet man ja Christus selbst in den Armen zu schützen! - wenn man nicht heute jene Änderungen fordert, die nötig sind, damit morgen überhaupt ethisch akzeptabel auch mit Gewalt geschätzt werden könnte. Das real existierende Militär muss sich doch heute ändern, damit es morgen, wenn Schutzbedarf besteht, den ÖRK-Kriterien auch entspricht.

Das real existierende Militär muss sich allein deswegen dramatisch ändern, damit die Ressourcen überhaupt erst zur Verfügung stehen um "zunächst und vorrangig Prävention zu leisten." [7]

Konkret heißt dies, der ÖRK fordert, wenn er sein eigenes Konzept ernst nimmt:

die Abschaffung aller nationaler Armeen;
die Abschaffung aller möglichen schweren Waffen;
die Verschrottung von Bombenflugzeugen, Kriegsmarine usw.;
den sofortigen Aufbau einer Eingreiftruppe in Verfügung der UNO, trainiert nach Blauhelmmaßstäben und in Analogie zu Polizeikräften;
und natürlich sofort den Auszug aller dem ÖRK verbundenen Christen aus den Kasernen dieser Welt;
zumindest aber den Aufbau eines Fonds zur finanziellen Absicherung derjenigen Christen, die ihren Militärberuf aufgrund dieses Papiers nicht mehr im nötigen Maße ausüben können.

Wenn man seine Kriterien so ernst nähme, wie es jemand tut, der die Umsetzung noch unbedingt erleben will, dann müsste man wirklich sehr politisch werden in nächster Zeit! Für die deutsche evangelische Kirche sehr erfreulich: Bei solchen Forderungen bräuchte man keine Werbekampagnen und Marketingberater mehr, der Platz in den Medien wäre gesichert!

All dies ergibt sich aus dem Papier und seinen Kriterien, und solange man dieses Papier nicht in dieser Weise anwendet, ist der Verdacht, dass es doch nur um allgemeine Legitimation üblicher staatlicher militärischer Gewalt mit Hilfe der Zauberformel R2P geht, schwer auszuräumen.

Dieser unschöne Verdacht drängt sich umso mehr auf, weil der schöne Slogan von der "Schutzpflicht" nur im Hinblick auf seine Möglichkeiten bzgl. staatlicher Präventionsmaßnahmen und bezüglich der Legitimation von staatlichem Militär durchdacht wird. Eine Debatte, was Kirchen denn sozusagen mit eigenen Mitteln anstellen könnten bzgl. Schutzpflicht derjenigen, "die schwach, arm und bedroht sind und sich gegen eine akute Gefahr nicht verteidigen können"[4], fehlt bezeichnenderweise. Warum kümmert man sich darum eigentlich nicht? Was können Kirchen als weltweit vernetzte Gemeinschaften, die basisnah verankert sind, bezüglich Frühwarnung und konkreter Prävention leisten? Wozu verpflichten sie sich? "Die kritische Solidarität mit den Opfern von Gewalt und das Eintreten gegen alle Mächte der Unterdrückung" muss nicht "unsere theologischen Mühen um eine glaubenstreuere Kirche prägen"(7), sondern die konkreten Handlungen. Nur dann wird es glaubenstreue Kirchen auch theologisch geben.

Welche Möglichkeiten gewaltfreier Intervention stehen zur Verfügung? Würde so nachgedacht, dann stünde z.B. nicht nur das Thema "Kirchenasyl" auf der Agenda. Dann wären Organisationen wie 'Peace Brigades', 'Christian Peace Maker Teams' usw. massiv gesamtkirchlich zu legitimieren und zu stützen. Dann würde auch auf oberer kirchlicher Ebene über Boykott diskutiert und entschieden werden müssen.

Das wird allerdings teuer, das kostet Sympathien und das kostet auch Mitglieder, die von solcher Radikalität nach Mt 25 nicht allzu viel halten; das ergäbe keine Kirche der Freiheit, sondern eine Kirche, die sich die Freiheit zur Solidarität gönnt, auch auf Kosten des Burgfriedens mit dem Staat.

Würde R2P so konkret binnenkirchlich durchbuchstabiert, dann allerdings könnte R2P wirklich zu einer belebenden Zauberformel werden und die pazifistisch gesinnten Menschen bekämen einen interessanten Bündnispartner!

"Wir können jetzt nur noch niederknien und den Heiligen Geist um Inspiration für die ganze Christenheit bitten. Warum sollte Gott keine neue Reformation erwecken können? Es ist noch nicht zu spät, aber dringend."(8)

Dr. Thomas Nauerth ist aktiv im deutschen Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes.


Anmerkungen:

(1) Vgl. Böckenförde, Stephan: Sicherheitspolitischer Paradigmenwechsel von Verteidigung zu Schutz. In: Europäische Sicherheit. August 2007.

(2) Das Papier ist zu finden unter:
http.www.wwc-assembly.info/de/motto-themen/dokumente/1-erklaerungen-
andere-angenommene-dokumente/internationale-angelegenheiten.html

(3) Hier allerdings finden sich nur allgemeine und eher zurückhaltende Aussagen, z.B. "Kirchen sind aufgerufen, bei einem Machtungleichgewicht ihre moralische Autorität zur Vermittlung zu nutzen." [7]

(4) Vgl. zu Vorrang und Nachrang und den Implikationen solcher Formeln nur die Ausführungen von Ullrich Hahn: 10 Thesen zum Gewaltverzicht. Forum Pazifismus 15 (III/2007) 22-24. Vorrang der Gewaltfreiheit

(5) Vgl. Ullrich Hahn: 10 Thesen zum Gewaltverzicht 24.

(6) Vgl. Ullrich Hahn: 10 Thesen zum Gewaltverzicht 24.

(7) So heißt es in der Beschlussfassung der neunten Vollversammlung von Porto Alegre unter Punkt c)

(8) Mit diesen Worten schließt Jean Lasserre, der Freund Bonhoeffers, sein Buch Les Chrétiens et la Violence [1965] (Übersetzung Dietlinde Haug).


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Quelle:
Forum Pazifismus - Zeitschrift für Theorie und Praxis
der Gewaltfreiheit Nr. 16, IV/2007, S. 3-6
Herausgeber: Internationaler Versöhnungsbund - deutscher Zweig,
DFG-VK (Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
KriegsdienstgegnerInnen) mit der Bertha-von-Suttner-Stiftung der
DFG-VK, Bund für Soziale Verteidigung (BSV) und Werkstatt für
Pazifismus, Friedenspädagogik und Völkerverständigung PAX AN
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Februar 2008