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BERICHT/035: Die Praxis der Telefonüberwachung liegt weiter im Dunkeln


Pressemitteilung der Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union
vereinigt mit der Gustav Heinemann-Initiative
Berlin, 24. September 2009

Die Praxis der Telefonüberwachung liegt weiter im Dunkeln

Bürgerrechtsorganisation sieht Reform der Telefonüberwachung als gescheitert an und bemängelt zahlreiche Leerstellen in der amtlichen Statistik zur Verkehrsdatenüberwachung


Nachdem das Bundesamt für Justiz erstmals Zahlen für die Überwachung der Telekommunikations-Verkehrsdaten vorgelegt hat, zieht die Humanistische Union eine kritische Bilanz der am 1. Januar 2008 in Kraft getretenen Reform der Telekommunikationsüberwachung: "Das Ziel eines besseren Schutzes der Grundrechte aller Bürgerinnen und Bürger wurde nach unserer Auffassung klar verfehlt", stellt Rosemarie Will, die Vorsitzende der Bürgerrechtsorganisation, fest. "Erneut ist die Zahl der repressiven Telefonüberwachung angestiegen, die Eingriffe in das Fernmeldegeheimnis sind nicht transparenter als zuvor." Eine Wende in der jährlich steigenden Zahl von Telefonüberwachungen sei nur möglich, wenn der immer umfangreichere Katalog sog. Anlasstaten, zu deren Aufklärung Telefone angezapft werden, deutlich verkleinert werde. Bei der letzten Reform waren nur einige in der Praxis unbedeutende Tatbestände aus dem Katalog gestrichen (etwa die Anstiftung zum Ungehorsam), aber zahlreiche häufiger auftretetende Tatbestände neu eingefügt worden (etwa Betrugs- und Urkundendelikte sowie Tatbestände aus der Abgabenordnung).

Auch die jetzt vorgelegte Statistik über die Kommunikations-Verkehrsdaten erfülle nicht die ihr zugedachten Aufgaben. "In der Ankündigung des Gesetzgebungsvorhabens hieß es noch, mit der Berichtspflicht solle 'dem Gesetzgeber eine effektive Kontrolle' ermöglicht werden", so Rosemarie Will. "Die dürftigen Zahlen, die jetzt veröffentlich wurden, reichen bei weitem nicht aus, um das Ausmaß und die Wirksamkeit der sechsmonatigen Vorratsdatenspeicherung zu beurteilen." Zwar erfahre die Öffentlichkeit erstmals, dass es im vergangenen Jahr 13.426 Anordnungen zur Erhebung von Verkehrsdaten gegeben habe. Wie viele Personen davon betroffen waren, wie viele Kommunikationsverbindungen überwacht wurden, wie viele Unbeteiligte dabei ins Visier der Ermittler gerieten - all dies ist der Statistik nicht zu entnehmen. Eine nachträgliche Kontrolle über die möglicherweise ungewollten Wirkungen der Vorratsdatenspeicherung sei aber umso wichtiger, betont Will, da der Gesetzgeber bisher über keinerlei Erkenntnisse mit dieser Form der Überwachung verfüge: "Der Bundestag hatte das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung am 9. November 2007 verabschiedet, ohne die Ergebnisse einer zuvor in Auftrag gegebenen Evaluation der bisherigen Praxis auszuwerten. Diese Ignoranz gegenüber Auswirkungen und Nebenfolgen einmal beschlossener Überwachungsgesetze scheint sich ungebrochen fortzusetzen."


Die Humanistische Union stellt eine Lesehilfe bereit, in der die zahlreichen Lücken in der Statistik zur Verkehrsdatenabfrage erläutert werden (s. Anhang).
Weitere Informationen zum Thema unter:
www.humanistische-union.de/shortcuts/vds


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Was die Statistik zur Verkehrsdatenabfrage nicht verrät

Eine kleine Lesehilfe der Humanistischen Union zur Statistik des Bundesjustizamtes über die Überwachung von Telekommunikations-Verkehrsdaten im Jahre 2008


Das "Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen..." vom 21. Dezember 2007 führte erstmals eine jährliche Berichtspflicht über die Nutzung von Verkehrsdaten der Telekommunikation ein. Diese Statistik soll Auskunft geben über die Anzahl der Verfahren, in denen Strafverfolger die Kommunikationsdaten abfragen. Eine wirkliche Beurteilung, wie viele Bürgerinnen und Bürger von der Vorratsdatenspeicherung betroffen sind, und welche freiheitlichen Folgekosten diese Überwachung des Kommunikationsverhaltens mit sich bringt, erlaubt die Statistik jedoch nicht, in ihr fehlen wichtige Angaben:

• Die ANZAHL ÜBERWACHTER ANSCHLÜSSE:
Die Anordnung einer Verkehrsdatenabfrage erstreckt sich meist auf alle Kommunikationsanschlüsse eines Beschuldigten. In einer Studie von Albrecht, Grafe & Kilchling (2008), in der vor allem die Überwachung von Mobilfunkanschlüssen ausgewertet wurde, ergaben sich aus 1.257 Anordnungen 1.909 überwachte Anschlüsse (Verhältnis ca. 1:1.5). Bei der Überwachung des E-Mail-Verkehrs dürfte die Anzahl der Konten (Mailadressen), die den Überwachten gehören und von einer Anordnung betroffen sind, deutlich höher liegen.

• Die ANZAHL ÜBERWACHTER NICHT-BESCHULDIGTER:
Es ist ein frommer Glaube, dass sich die Überwachung des Kommunikationsverhaltens nur gegen jene richtet, die in einem Ermittlungsverfahren als Verdächtige behandelt werden. Die bereits zitierte Studie von Albrecht, Grafe & Kilchling (2008) kam zu dem Ergebnis, dass in 70% der Fälle die überwachten Anschlüsse völlig unverdächtigen Kontakt- oder Begleitpersonen gehörten, gegen die nicht ermittelt wurde.

• Die ANZAHL ÜBERWACHTER KOMMUNIKATIONSVORGÄNGE:
Je nach Zeitraum, für den die Verkehrsdaten ausgewertet werden, und der Nutzungsfrequenz des Anschlusses betrifft die Überwachung mehr oder weniger Kommunikationsvorgänge. Wie viele Kommunikationsvorgänge von einer Anordnung betroffen sein können, zeigt ein Beispiel, das der Bundesrat zitiert: Demnach waren in einem Ermittlungsverfahren "mehrere Millionen Daten zu verarbeiten und auszuwerten." (BR-Drs. 275/07-Beschluss, S. 13).

• Die ANZAHL DER VON DER ÜBERWACHUNG BETROFFENEN:
Die Überwachung eines TK-Anschlusses betrifft nicht nur dessen Inhaber oder Nutzer, sondern auch alle Personen, die mit diesen Anschlüssen in Kontakt stehen. Innerhalb von drei Monaten - der Zeitraum, auf den sich eine Verkehrsdatenabfrage erstrecken kann - dürften die meisten Personen mit nahezu ihrem gesamten Umfeld in Kontakt stehen, das dann als Anrufende oder Angerufene ins Visier der Ermittler geraten kann.

• Die RELEVANZ DER ÜBERWACHUNGSERGEBNISSE für die Strafverfolgung:
Es gibt bisher keine empirischen Daten darüber, welchen Stellenwert Verkehrsdaten als Beweismittel haben. Ob sie am Ende wirklich so bedeutsam für die Strafverfolgung sind, wie häufig behauptet, wird angesichts zahlreicher Manipulations- und Umgehungsmöglichkeiten bezweifelt. Um jenseits von Vermutungen sichere Erkenntnisse zu erhalten, müsste der Einfluss von Verkehrsdaten auf die gerichtliche Entscheidungsfindung erfasst werden - was bisher nicht geschieht.

• Die ANZAHL DER (NICHT-)BENACHRICHTIGTEN PERSONEN:
Das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung schreibt vor, dass Betroffenen einer Verkehrsdatenüberwachung nachträglich zu informieren sind, damit sie wenigsten nachträglichen Rechtsschutz gegen die Überwachung in Anspruch nehmen können. Die Erfahrung lehrt aber, dass solche Benachrichtigungen oft unterbleiben, die Betroffenen nichts von ihrer Überwachung erfahren.

• Die KOSTEN DER ÜBERWACHUNG:
Weder der Aufwand, den die Kommunikationsprovider für die Infrastruktur der Verkehrsdatenerfassung und -speicherung aufbringen mussten, noch die Kosten für die Auswertung der Daten werden bisher erfasst.

• Schließlich repräsentiert die Verkehrsdatenstatistik für 2008 auch nicht den WAHREN DATENHUNGER DER ERMITTLUNGSBEHÖRDEN:
Der Zugriff auf die Verkehrsdaten ist seit einer vorläufigen Anordnung des Bundesverfassungsgerichts vom 11. März 2008 stark eingeschränkt. Die Abfrage von Verkehrsdaten zur Aufklärung 'einfacher', mittels Telekommunikationsgeräte begangener Delikte, ist seitdem nicht mehr zulässig. Daraus ergeben sich die geringen Fallzahlen für Abfragen nach Paragraph 100g Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 in der Statistik.


Literatur:
Statistik des Bundesjustizamtes zur Verkehrsdatenüberwachung 2008, abrufbar unter:
http://www.bundesjustizamt.de -> Themen -> Justizstatistik -> Telekommunikationsüberwachung

Hans-Jörg Albrecht, Adina Grafe und Michael Kilchling: Rechtswirklichkeit der Auskunftserteilung über Telekommunikationsverbindungsdaten nach §§ 100g, 100h StPO. Forschungsbericht im Auftrag des Bundesministeriums der Justiz. Forschungsgruppe Kriminologie des Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht. Freiburg, Februar 2008. 499 Seiten.
Online: http://www.bmj.de/files/3dfc9ae120ef598aa31e13850a22f470/3045/MPI-GA-2008-02-13%20Endfassung.pdf

Gustav Heinemann-Initiative & Humanistische Union (Hrsg.), Graubuch Innere Sicherheit. Die schleichende Demontage des Rechtsstaates nach dem 11. September 2001. Berlin 2009 (zur TK-Überwachung insbes. Kapitel 12 und 13)

Jens Puschke, Vorratsdatenspeicherung - beschränkt oder bestätigt?
Mitteilungen der HU Nr. 200 (April 2008), S. 6/7, abrufbar unter
http://www.humanistische-union.de/publikationen/mitteilungen/hefte/nummer/200/

Sven Lüders, Zwischen Ignoranz und Nebelkerzen versinkt ein Grundrecht. Die Einführung der Vorratsdatenspeicherung in Deutschland, Mitteilungen der HU Nr. 199 (Dezember 2007), S. 1-5, abrufbar unter:
http://www.humanistische-union.de/publikationen/mitteilungen/hefte/nummer/199/

Humanistische Union: Stellungnahme zum Referentenentwurf eines "Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG". Berlin, Januar 2007, abrufbar unter:
http://www.humanistische-union.de/fileadmin/hu_upload/doku/vorratsdaten/ HU-Aktiv/Gesamtreform_HU-Stellungnahme.pdf
(zur Berichtspflicht vgl. S. 12 u. 26)


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Quelle:
Pressemitteilung vom 24. September 2009
Humanistische Union e.V.
- Bundesgeschäftsstelle -
Greifswalder Straße 4
10405 Berlin
Tel: 030 - 204 502 56
Fax: 030 - 204 502 57
Web: www.humanistische-union.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. September 2009