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FRAGEN/014: Rita Segato, Argentinien - "Physische Distanz bedeutet auch soziale Distanz!" (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Argentinien
Rita Segato: "Physische Distanz bedeutet auch soziale Distanz!"

Von Astrid Pikielny


Die Anthropologin erklärt, warum virtueller Kontakt keinen Ersatz für körperliche Nähe darstellt und betont die Unbezähmbarkeit von Natur und Geschichte.

(Buenos Aires, 2. Mai 2020, La Nación) - Rita Segato verkettet Worte mit dem Feingefühl einer Goldschmiedin, wie eine Dichterin nutzt sie Sprache zur Schaffung von Schönheit. Ihre Texte zeugen von ihrem bewegten Leben als Forscherin, Dozentin und Anthropologin. Sie könnten in Tilcara entstanden sein, ihrer geliebten Wahlheimat, die sie vor 50 Jahren kennenlernte und in die sie im vergangenen Jahr endgültig zurückkehrte, wie man in die Arme einer unvermeidlichen Liebe zurückkehrt. Oder aber in Brasilia, wo sie mehrere Jahre gelebt und gelehrt hat und bis heute einen zweiten Wohnsitz unterhält. Gemäß den Auflagen der derzeitigen weltweiten Gesundheitsnotlage befindet sie sich jedoch zurzeit in Quarantäne in San Telmo, einem Stadtteil der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires. Die Umstände lassen ihr keine andere Wahl, als persönliche und gesellschaftliche Umgangsformen zu überdenken und neu zu erfinden. Eigentlich hätte sie am 2. März nach Brüssel reisen sollen, um an einer Konferenz zum Internationalen Frauentag im Europäischen Parlament teilzunehmen. Sie sei jedoch einer Eingebung gefolgt, so Segato, und habe sich gegen die Teilnahme an der Konferenz entschieden - vier Tage später sollte das Parlament alle Aktivitäten aufgrund der Covid-19-Pandemie absagen.


Feminismus ist eine Politik der Freundschaft

1951 in Buenos Aires geboren, zählt die militante Feministin, die an der Queen's University Belfast im Fach Anthropologie promovierte, heute zu den einflussreichsten Intellektuellen Lateinamerikas. Die Leiterin des Lehrstuhls für Unbequemes Denken an der argentinischen Universität UNSAM ist Autorin von "Die Grundstrukturen der Gewalt" ("Las estructuras elementales de la violencia"), "Der Krieg der Frauen" (La guerra contra las mujeres") und "Gegen die Pädagogik der Grausamkeit ("Contra-pedagogías de la crueldad"), drei Grundlagentexte für alle, die grundsätzlich bereit sind, sich mit gewagten Überlegungen auseinanderzusetzen: "Ein Feminismus, der sich als Bewegung gegen die Männer richtet, kann sich zu einer Form von Faschismus entwickeln. Feminismus ist eine Politik der Freundschaft." Sie wünsche sich "eine Welt, in der verschiedene Lebensentwürfe, verschiedene Arten von Glück und Zufriedenheit nebeneinander existieren können, ohne sich gegenseitig anzugreifen", erklärt Segato ihre Vision.

Durch die aufgezwungene Ruhe der aktuellen Situation hatte die Feministin etwas Zeit, sich intensiver mit Aspekten ihrer eigenen Geschichte zu befassen, zum Beispiel mit dem Schicksal ihrer Großmutter, die sie nie hatte kennenlernen können, da sie 1920 in der argentinischen Stadt Chivilcoy einer Typhusepidemie zum Opfer fiel. "Durch ihren Tod war ein gesamter Teil meiner Familie, alle meine Cousins und Cousinen und ich, von einem dramatischen Ereignis geprägt: Die Typhuswelle hatte unsere Väter bzw. Mütter zu Waisen gemacht. Das wurde mir in den letzten Wochen bewusst und hat vieles für mich klarer gemacht".

Die Pandemie habe uns die Bedeutung von körperlicher Präsenz und Körperlichkeit im Allgemeinen vor Augen geführt, erklärt Segato, und erinnere uns nun daran, wie wichtig die physische, nonverbale Kommunikation ist, die vom Körper unseres Gegenübers ausgeht: "Es ist ein Irrtum zu glauben, dass physische Distanz nicht auch gleichzeitig soziale Distanz bedeutet."

Wie erleben Sie diese Zeit des Eingeschlossenseins und der Isolation?

Ganz ehrlich, meine Art zu leben hat sich nicht sonderlich verändert. Mein Leben dreht sich sehr um die Arbeit mit Worten, und Worte lassen sich virtuell sehr gut verbreiten. Wir werden immer wieder aufgefordert, die physische Distanz nicht mit der sozialen gleichzusetzen, die soziale Distanz sei eine Sache und die physische eine andere. Genau da liegt ein großer Irrtum: zu denken, die physische Distanz sei nicht auch eine soziale. Was ist mit den Menschen, die sich nicht in erster Linie verbal mit anderen in Verbindung setzen? Bei den indigenen Völkern ist das kommunikative Band zuweilen das Zusammensein an sich; manchmal wird nicht ein Wort gesprochen. Ich glaube, das ist eine Dimension, die uns fehlt. Hier geschieht etwas ausgesprochen Interessantes: In den heutigen Zeiten der Quarantäne beginnen wir, die materielle Anwesenheit unseres Gegenübers, als Kommunikation und als Notwendigkeit zu empfinden, und das ist neu. Für einige von uns ist Kommunikation verbal, aber für etliche Menschen ist die nonverbale Kommunikation essentiell, und vielleicht gilt das für uns genauso, bloß dass wir sie tief in uns verpackt haben und den Fluss des Nonverbalen blockieren. Wir haben die Bedeutung des Körperlichen abgeschafft.

Die menschliche Geschichte ist durchzogen von Plagen, Seuchen und Pandemien. Was ist das Besondere an der aktuellen Situation?

Ich würde sagen, das Besondere ist die Tatsache, dass verschiedene wirtschaftliche Interessengruppen glaubten, es sei möglich, den Lauf der Geschichte zu kontrollieren, vor allem glaubten sie, die Kontrolle liege in ihrer Hand. In einem meiner Texte, der schon ein paar Jahre alt ist, habe ich die Freiheit der Geschichte, die Unkontrollierbarkeit ihres Verlaufs und ihre absolute Unvorhersehbarkeit als die einzige geltende Utopie der Gegenwart bezeichnet.

Die Unbezwingbarkeit der Geschichte und der Natur.

Ja genau. Die Natur ist unbezwingbar, und die Geschichte genauso. Die gesamte Menschheit, Journalist*innen, Soziolog*innen, Politolog*innen, alle Welt starrte jahrelang auf die Berliner Mauer, doch nie hätte jemand den Tag und die Stunde ihres Falls voraussagen können. Das ist beeindruckend. Die Mächtigen haben immer geglaubt, sie könnten die Geschichte kontrollieren, doch die schlägt ihre Kapriolen. Dieses Virus trifft uns nun in einem Moment, in dem voll auf die bestehenden Kontrollmechanismen gesetzt wurde. Es ist immer die gleiche Karte, die die Mächtigen ausspielen: Sie machen uns glauben, wir lebten in einer fest verschlossenen sicheren Kapsel. Zu sagen, dass diese Kapsel eine Riss bekommen und sich geöffnet hat, ist ungefähr die revolutionärste Äußerung, die man sich vorstellen kann, und sie trifft vor allem die, die auf Kontrolltechnologien setzen, um die Menschen im Inneren der Kapsel zu halten. Alles das wird nun zerstört durch ein winziges lebensähnliches System. Und natürlich werden andere kommen. Aber es gibt in dem Zusammenhang noch einen anderen Aspekt, der die Einzigartigkeit der derzeitigen Pandemie ausmacht.

Welchen?

Bei früheren Seuchen sah man die Menschen sterben. Früher sah man den Tod, heute bleibt er im Verborgenen. Wir sehen, wie die Särge abtransportiert werden oder wie Bulldozer Gruben ausheben, um sie dort zu beerdigen, zum Beispiel in Guayaquil oder in Manaus, aber wir erleben nicht, wie die Körper diesen Weg vom Leben zum Tod beschreiten. Gestorben wird isoliert, abgeschirmt von den Augen der anderen. Das ist auch etwas Neues an dieser Seuche.

Die Pandemie durchdringt unsere Rituale und die bedeutendsten Momente menschlichen Lebens: Mütter bringen ihre Kinder allein auf die Welt, Menschen sterben isoliert, in absoluter Einsamkeit, ohne dass die Angehörigen die auf diesem Weg begleiten können. In diesen einsamen Abschieden liegt eine unfassbare Tragik.

Ja, total. Damit kommen wir wieder auf das zu sprechen, was ich eingangs sagte: Es ist ein Irrtum zu glauben, dass sich sozialer Kontakt auf Worte und auf die Zweidimensionalität von Bildern beschränken kann. Hier wird außer Acht zu lassen, dass die körperliche Nähe ein fundamentaler Bestandteil des sozialen Lebens und des Sterbens, des Todes, der Krankheit und des Lebens ist. Unsere Rituale sind nicht verbal, es sind physische, gegenständliche Rituale. Die gesamte Physikalität der Existenz, die sonst unbenannt und unregistriert bleibt, zeigt sich erst jetzt, wo sie wegfällt, und nun spüren wir ihr Fehlen.

Glauben Sie, dass sich unsere Einstellung zum Tod verändert hat? Dass es nun ein anderes Bewusstsein der Endlichkeit, quasi eine "demokratischere" Wahrnehmung vom Tod gibt?

Einerseits ist der Tod demokratisch, denn es zeigt sich, dass alle Körper gleichermaßen verwundbar sind. Doch dann gerät die andere Verwundbarkeit ins Blickfeld, und zwar in riesigen Buchstaben: die Verwundbarkeit durch den Hunger. Die Welten derjenigen, die Geld auf der Bank haben oder regelmäßig Geld vom Staat erhalten oder eine Rente beziehen, schlossen sich hermetisch ab. Die übrige Welt teilt sich auf in zwei Hälften, die eine hat einen gesicherten Lebensunterhalt, die anderen nicht. Die Pandemie zwingt uns ein weiteres Thema auf, das sich bislang im toten Winkel versteckt gehalten hatte: die partielle Schließung der lokalen und der nationalen Ökonomien. Es muss ein Segment der Wirtschaft geben, das von der globalen Schaltung ausgenommen ist; es wäre notwendig, darüber nachzudenken, wie man es schaffen kann, einen Notvorrat an wirtschaftlicher Souveränität und Ernährungssicherheit vor den Schicksalsschlägen im globalen Maßstab zu bewahren und den Zugriff darauf zu ermöglichen. Was das angeht, denke ich, dass die Wirtschaft funktionieren sollte wie eine Amphibie, den Blick gleichzeitig nach innen und nach außen gerichtet, einen Fuß im Weltmarkt und dazu das schützende Auge der lokalen und regionalen Ökonomien und Märkte. Der große demokratische Aspekt der Pandemie ist der Denkzettel für all diejenigen, die glauben, das Schicksal sei kontrollierbar. Hier zeigt sich die Größe der Freiheit in ihrer allergrößten Ausprägung, nämlich der Unsicherheit. Ein anderes großes Thema in diesem Zusammenhang ist die Zärtlichkeit.

Die Zärtlichkeit?

Ja. Olga Tokarczuk, die den Literaturnobelpreis für das Jahr 2018 erhielt, spricht viel über die Bedeutung der Zärtlichkeit. Die Welt wird sich dann ändern, wenn wir Zugang zu anderen Formen des Glücks und der Selbstverwirklichung haben, mit anderen Worten, wenn wir andere Dinge ersehnen. Zärtlichkeit geben und empfangen ist eine der größten Freuden. Voraussetzung ist, dass sie sie sich von der "produktivitätsorientierten Strenge" loslöst, die uns zerstört und sich in Tugend verwandelt, in moralischen Wert mit seinem Gegenstück, der Ware Vergnügen, unerlässlich geworden durch den Prozess der Industrialisierung. Andere Freuden wie Zärtlichkeit und Freundschaft, die auf Wechselseitigkeit beruhen, wurden vom Vergnügen mit seiner Käuflichkeit und Verkäuflichkeit verdrängt. Ich denke, in den 60er Jahren wurde versucht, etwas von der Erfahrung der Wechselseitigkeit in die Praxis umzusetzen, doch die Kommerzialisierung des Lebens an sich, die nichts anderes ist als die Objektivierung des Lebens, setzte sich durch. Heute hingegen treten Menschen, Nachbar*innen, die wir vorher nicht einmal bemerkt hätten, in Erscheinung und fallen uns auf durch ihre Art, uns zu helfen. Sie sind Teil unseres Lebens geworden, und wir erkennen, dass wir sie schätzen.

Eine Form der Nähe trotz der physischen Distanz.

Genau. Wir spüren die Unmittelbarkeit des Körpers der anderen Person nun anders. Dadurch entsteht ein Gefühl, eine Gemütsbewegung, und das ist es, was die Welt verändert. Die Welt durch ein Gesetz, durch eine staatliche Handlung zu verändern - das ist sehr schwierig. Die Welt verändert sich durch die Umgestaltung von Handlungen, durch die Veränderung des Webmusters. Wie kleine Spinnen geben wir nach und nach den Beziehungen um uns herum Gestalt. Wie das so entstandene Netz unserer Umgebung aussieht, unterliegt dem unmittelbaren Einfluss der Pandemie. Der Schlüssel zu einer möglichen, wenn auch noch nicht praktikablen, Veränderung durch die Pandemie besteht darin, andere Wünsche zu haben. Wenn wir verändern, was wir ersehnen, verändert sich die Welt.

Einige denken, die derzeitige Situation werde alle bestehenden Probleme größer machen, andere erwarten, dass wir verändert und mit neuen Erkenntnissen aus dieser Krise hervorgehen. Sie scheinen zu der zweiten Gruppe zu gehören.

Das denke ich auch. Es gibt da eine Grundidee, die mit dem Begriff des Glücks, der Freude zu tun hat. Es kommt wesentlich darauf an, wo wir unser Gefühl von Genuss, von Zufriedenheit und Freude verorten, unsere Selbstverwirklichung, unseren Frohsinn. Wo wir in einer Situation wie dieser unser Lachen und unsere gute Laune finden. Man wird sehen müssen, ob der individualistische Egoismus Platz lässt für das Erleben von Freude, von Zärtlichkeit. Ausschlaggebend wird sein, wo wir den Trost der Zärtlichkeit und der Freude des Zusammenlebens finden. Wo wir das Lächeln finden werden, das zum kleinen Glück gehört.

Sie haben darüber geschrieben, wie die Pandemie die Industrienationen mit ihrer eigenen Unfähigkeit konfrontiert, den breiten Versorgungsbedarf der Bevölkerung zu decken. Doch auch auf individueller Ebene machen wir die Erfahrung der Entschleierung: Die Masken fallen, und es zeigt sich, wer wir sind und wofür, und was der Sinn unseres Daseins ist.

Absolut. Der Begriff des kleinen Glücks begleitet mich seit meiner Kindheit. Irgendwann habe ich mich gefragt: "Wonach suche ich? Nach dem großen Glück oder nach dem kleinen Glück? Da wurde mir klar, dass ich für mich selbst das kleine Glück suche. Und das ist auch das einzige, was in der derzeitigen Lage einen Ausweg bietet. Von den großen Themen Macht, Einfluss, Anerkennung können wir nun das nicht mehr erwarten, was, wie ich glaube, die Pandemie uns zu empfinden ermöglicht, und das ist das kleine Glück. Wir hatten seine Existenz komplett vergessen. Ich hätte zum Beispiel auch Geschichten oder Gedichte schreiben können, früher hab ich tatsächlich Gedichte geschrieben. Und da wurde mir klar, dass ich das kleine Glück will. Das ist eine andere Poesie, eine Poesie des Lebens, nicht der großen Texte.

In Zeiten der extremen Beschränkungen und der Ausgangssperren hat die geschlechtsspezifische Gewalt stark zugenommen. Was können Sie zu dieser beunruhigenden Entwicklung sagen?

Na, alles das, was ich in meinen früheren Texten bereits geschrieben habe: dass Frustration die Grundlage männlicher Gewalt ist und dass Männer gewalttätig reagieren, wenn ihre Wünsche und Hoffnungen enttäuscht werden. Die Frustration darüber, unter den wachenden Blicken anderer zu Hause eingesperrt zu sein, auf bestimmte Freiheiten verzichten zu müssen und sich stattdessen stundenlang über irgendeinen Verrat, irgendein Missgeschick oder irgendeinen Verlust zu ärgern, kann zu Gewaltausbrüchen führen. Gefühle von Bedürfnis und Mangel tragen ihrerseits zur Potenzierung von Gewalt bei. Alles das spitzt sich aktuell natürlich noch weiter zu. Aber das wichtigste, was ich zu der aktuellen Situation sagen kann, ist: Wir haben so etwas bisher noch nicht erlebt. Alle Formen von Gewalt und Verbrechen sind zurückgegangen, und die geschlechtsspezifische Gewalt nimmt zu. Wir könnten denken, dass wir das alles schon verstanden haben, doch sollten wir uns lieber nicht zu viel einbilden und uns mit der größtmöglichen Neugier anschauen, was passiert. Wir befinden uns in einer völlig neuen Situation, und das fordert uns in erster Linie heraus zu untersuchen, was das Eingeschlossensein mit den Männern macht und was es mit den Frauen macht. Wie gestaltet sich die Geschlechterbeziehung in dieser neuen Lage? Das bedarf der Beobachtung und Untersuchung. Nur so kommt man zu effektiven Handlungen.

Einige Sexualstraftäter wurden aus den Gefängnissen nach Hause verlegt. Einer lebt in der Nähe seines Opfers. Das wollte ich unbedingt noch ansprechen.

Ich betrachte unseren Blick auf das Thema Strafanstalten als sehr eng. Besonders den Blick der Rechtsorgane, also derer, die wir aus Mangel an präziserem Vokabular als "Justiz" bezeichnen, ein Wort, das unmittelbar vom Begriff der Gerechtigkeit abgeleitet wird. Ich habe kritische Texte zum Gefängnissystem und zum herrschenden "Vertrauen in den Strafvollzug" geschrieben. Im Zusammenhang mit schutzbedürftigen Gefangenen, Menschen ohne Geld, Schwarzen Menschen, stimme ich mit der Schutzfunktion, die von rechtsstaatlichen Garantien ausgehen sollte, überein. Ich habe lange Zeit mit Student*innen in Haftanstalten gearbeitet und bin eine Gegnerin des Strafvollzugssystems. Aber ich bin sehr kritisch im Hinblick auf die Schutzfunktion der rechtsstaatlichen Prinzipien, wenn es um Verbrechen gegen Frauen und LGTTTIQ+-Personen geht. Denn in diesem Fall übernimmt der Täter die Position der Macht, und es ist das Opfer, das der Schutzfunktion bedarf, die ihr jedoch nicht zuteil wird, weder nach dem Verständnis der rechtsprechenden Organe, noch nach dem der öffentlichen Meinung. In diesen Fällen darf es keine Nachsicht geben. Das Wichtigste an einer Haftstrafe ist der pädagogische Aspekt, und wir sind immer noch dabei, der Gesellschaft zu erklären, dass Vergewaltigung, Gewalt gegen Frauen* und die Ermordung von Frauen* Verbrechen sind.

Sie sagen: "Der Feminismus kann und darf Männer nicht zu seinen natürlichen Feinden machen". Der Feminismus ist eine vielfältige Bewegung mit vielen Positionen. Es gibt nicht DEN Prototyp der Feministin. Als was für eine Art von Feministin würden Sie sich beschreiben?

Ich habe eine eigene Definition von Faschismus, mein persönlicher Arbeitsbegriff sozusagen. Und die lautet: Faschismus ist eher eine Strategie als eine Politik, und zwar eine, die immer vom Feind ausgeht: Es gilt, ein gemeinsames Feindbild zu kreieren, um daraus eine Allianz mit Menschen zu schaffen, die man sonst nicht auf seiner Seite hätte. Was die faschistischen Strategien voneinander unterscheidet, ist das jeweilige gemeinsame Feindbild. Wenn sich also der Feminismus als eine Bewegung gegen Männer als gemeinsamen Feind begreift, läuft er Gefahr, sich zu einer faschistischen Bewegung zu entwickeln. Der Feind des Feminismus ist das Patriarchat, nicht die Männer. Der Feminismus, die Feminismen besser gesagt, sind viel zu groß und vielschichtig, um eine Politik der Feindschaft zu sein. Da ich im Moment mehr Zeit habe, mich um meine Sachen zu kümmern, habe ich mich mal gefragt, worin eigentlich meine Militanz besteht.

Und?

Meine Militanz innerhalb des Feminismus ist eine Politik der Freundschaft, der Komplizität mit anderen Menschen, der Konstruktion von Nähe. Ich habe ein wunderschönes Verhältnis zu sehr vielen Frauen, die meisten jünger als ich. Es sind politische Freundschaften, weiblich verschlüsselte Politizität, die Politizität der erweiterten Sphäre der häuslichen Umgebung. Auch das ist Politik. Mein Feminismus ist ein Feminismus der Freundschaft, der Verbindungen, die wir im Laufe unseres Lebens aufbauen, ein Feminismus des Alltags. In der Welt, wie ich sie mir vorstelle, gibt es keine Hegemonien, keine Position dominiert die andere. Es ist eine freie Welt, radikal vielfältig, ohne die Gebote der Mächtigen, ein Ort, an dem verschiedene Formen von Glück, von Selbstverwirklichung, Zufriedenheit und Wohlbefinden unbeschadet nebeneinander existieren können.


Übersetzung: Lui Lüdicke


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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Mai 2020

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