Schattenblick → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → MEINUNGEN


STANDPUNKT/324: Schicksalswahlen in Deutschland 2019? (Pressenza)


Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin

Schicksalswahlen in Deutschland 2019?

Von Günter Buhlke, 22. März 2019


Der Wahlkalender bestimmt für das laufende Jahr 14 Termine für die Bürger. Fünf Landtags- bzw. Bürgerschaftswahlen, eine Europawahl und acht Kommunalwahlen. Unmittelbar nach den Wahlschlappen in Bayern und Hessen sind die Vorbereitungsarbeiten in den politischen Parteien für die kommenden Abstimmungsrunden angelaufen. Politische Unruhe bringt die Europawahl und Landtagswahlen in den drei Bundesländern der ehemaligen DDR. Die spannungsgeladenen Koalitionsverhandlungen nach der Bundestagswahl 2017 sind zusätzliche Ursache für nervöse Spannungen bei den alten politischen Platzhirschen.

Im Land werden gegenwärtig die Altersrenten, die Wohnsituation, Veränderungen der Hartzgesetze, die Luftverschmutzung und der Kohleausstieg debattiert. Das Lohngefüge steht weiter unter Kritik. Dazu kommen Twitter-Meldungen aus den USA, die den Frieden in der Welt gefährden (INF, WTO, Verlassen des Klimapaktes, Venezuela, Iran u.a.). Konservative Parteien verunsichern die Wahlbürger*innen mit Sicherheitsfragen, Muslimen und Flüchtlingen. Sie drängen auf größere Freiräume für ihre Profitlogik und stehen für den Erhalt der alten Regeln. Ihre linksverorteten Antipoden fordern gerechte Einkommensverhältnisse, bezahlbaren Wohnraum und den Schutz der Natur. Sie sorgen sich um den Frieden. Die Bürger der Neuen Bundesländer wünschen zusätzlich Gleichberechtigung und Anerkennung ihrer Lebensleistungen.

Die Konservativen verfügen über langjährige Erfahrungen zum Machterhalt. An Geld mangelt es ihnen nicht, dank Wahlspenden und Hilfen aus den Steuertöpfen.

Es ist kein Geheimnis, dass Wählerstimmen langfristig mit Hilfe unterschiedlicher Methoden gesteuert werden können. Schon Sigmund Freud hat festgestellt, dass mit ständigen Wiederholungen die Meinungen formbar sind. Das Bild der linken Seite der Gesellschaft wird seit 1917 in grellen Farben des Chaos, des wirtschaftlichen Unvermögens, der Enteignungen, der Gewalt, der Diktaturen gemalt. Es hat sich eingeprägt. Die Folgen des konservativen Geldegoismus, der Kriege erhalten dagegen sanftere Farben. Soziologen, Psychologen, Politologen, Werbeexperten haben in Vorwahlszeiten Konjunktur.

Zur Beeinflussung der Wählermeinungen haben Parteien neben ihren Programmen unzählige Möglichkeiten zur Hand. Personalstarke Institute beschäftigen sich damit und sie erhalten staatliche Mittel. Forsa und andere Prognoseeinrichtungen gehören dazu. Sie scheuen sich nicht, bereits kurz nach Wahlen den Bürgern einzureden, welches Ergebnis herauskommen, wenn am "nächsten Sonntag gewählt würde". Das "Politbarometer" verfolgt das gleiche Ziel. Wer kurz vor der Wahl noch keine feste Meinung hat, kann sich beim Wahl-O-Mat Rat holen. Wundersam: Alle Meinungsbildner kommen zum gleichen Ergebnis; das alte Ranking der Parteien bleibt im groben erhalten. Das Prinzip, wie des Kaisers neue Kleider präsentiert werden, funktioniert bis zur Gegenwart.

Das Internet hat das Meinungsbildungsmonopol via Handy und Google durchlöchert. Doch Achtung: "Fake News" und Twitter-Nachrichten sind seit den letzten Präsidentenwahlen in den USA zur einer neuen wirksamen Wahlkampfmethode geworden, vordergründig, mit dem Ziel, die schmutzigen Flecken auf der Weste des politischen Mitbewerbers sichtbar zu machen.

Wahlen sind keine einfachen Höhepunkte der Demokratie. Mit einem Kreuz auf dem Wahlschein sollen sich die Wahlberechtigten für komplexe Verhältnisse, die die Parteien versprechen, entscheiden


Europawahl am 26. Mai 2019

Ihre Bedeutung ist nicht ohne historische Betrachtungen zu verstehen: Die geschwächten aber noch machtvollen Führungskräfte der Bundesrepublik stimmten 1951 dem Vorschlag Frankreichs zu, eine für die Rüstung bedeutsame Montanunion zu bilden. Künftig sollte Frieden herrschen. Nach Unterzeichnung der Römischen Verträge gründeten beide mit weiteren Ländern Europas 1957 eine Wirtschaftsgemeinschaft (EG), die später in die Europäische Union überging. Mit dieser Politik haben deutsche Führungskräfte den alten Pfad verlassen, der im Verlauf der langen Geschichte Deutschland zu kriegerischen Auseinandersetzungen mit anderen Staaten, zuletzt zu zwei Weltkriegen mit ungeheuren Zerstörungen, führte.

Mit 27 anderen europäischen Staaten ist eine Gemeinschaft entstanden, die untereinander den Krieg nicht mehr als Option zur Klärung von Differenzen betrachtet und die zu einem großen weltweiten Wirtschaftsblock führen sollte.

Die Europawahl bietet 2019 die Möglichkeit, dass Deutschland nach Ende der Mandatszeit des gegenwärtigen Kommissionspräsidenten den Vorsitz übernehmen könnte. Eine großartige Perspektive für die wieder erstarkten deutschen Banken und Wirtschaftslenker. Ein Kandidat aus Bayern ist bereits gefunden.

Die Wähler können bestimmen, in welcher Zusammensetzung die deutschen Parteien in das Europaparlament einziehen. Davon hängt die Politikrichtung der EU ab. Gegenwärtig verfolgt die EU neoliberale Wirtschaftskonzepte. (z. B. Privatisierung, Bankenrettung, Marktkonformitäten, usw.). Soziale Verbesserungen bestimmen weniger die Agenda.

Außenpolitisch folgt die EU dem Kurs der USA (Russland, Ukraine, China, Venezuela, Kuba, usw.). Die Atomwaffen unterliegen nicht dem Totalverbot der EU.

Wähler haben für die EU-Wahl speziellen Aufklärungsbedarf. Die Zusammensetzung der Fraktionen unterscheidet sich erheblich von der in Deutschland üblichen Form. Parteien aus den Mitgliedsländern bilden Fraktionen, je nach politischer Ausrichtung. Gesetzesprojekte haben andere Entscheidungswege.


Landtagswahlen in Sachsen (01.09.), Brandenburg (01.09.), Thüringen (27.10.)

Das politische Etablissement reagiert nervös. Die Sachsen vertreten mit Pegidaprotesten Meinungen, die abseits üblicher Auffassungen stehen. Was sind die Hintergründe? Bürger der neuen Bundesländer sind nicht voll in das soziale System der alten Bundesländer integriert, obwohl das Grundgesetz dazu einen Auftrag erteilt. Eine Anfang März dieses Jahres vorgestellte Studie des Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung stellt viele Rückstände fest. Schwerwiegend für die Wähler der NBL kommt hinzu, dass die Siegermentalitäten noch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung in TV-Sendungen, Ausstellungen, Zeitungskolumnen unvermindert zelebriert werden. Zu oft und zu generalisierend wird die Stasikarte gezogen. Ungenügend bedacht wird von den Politikern und Meinungsbildnern, dass bei der Wiedervereinigung zwei unterschiedliche Systeme zusammentrafen: Es war der Absolutismus des alleinseligmachenden östlichen Sendungsbewusstseins von der Richtigkeit ihres Modells und des westlichen Absolutismus des hegemonialen Geldkapitals mit ihren Defiziten in Sozialbereichen und des Naturerhalts (Scholl- Latour). Kriege nahmen zu keinem Zeitpunkt nach der Wende ab. Beide Systeme sind mit starken Ideologien ausgestattet, jeweils mit der Tendenz, den Humanismus und die Menschenrechte der zweiten Reihe zuzuordnen. Beide Systeme bieten oder boten den Wählern positive und negative Realitäten. Schließlich stand im Hintergrund ein vierzigjähriger Kalter Krieg, der vielseitig geführt wurde.

Bedeutungsvoll für das Wahlverhalten in den neuen Bundesländern ist auch das Verhältnis des Abgeordneten zu seinen Wählern. In der Repräsentativen Demokratie (West) braucht der Abgeordnete nur seinem Gewissen zu folgen, in der partizipativen Demokratie (Ost) war er seinen Wählern laut Gesetz rechenschaftspflichtig. Die Wähler der NBL schweben zwischen ihrer alten Wirklichkeit des Realsozialismus und der Realität der Gegenwart. Für sie sind die Lernprozesse, was Demokratie bedeuten kann, noch nicht abgeschlossen.

Und dann kratzt noch die AfD mit zweifelhaften Aussagen am Gesellschaftsbild und lockt die Unzufriedenen.

Genügend Gründe für Nervositäten der Parteien sind vorhanden. Die von der Jugend geforderte Herabsetzung des Wahlalters gehört dazu. Das wäre ein großer Fortschritt für die Demokratie. Nicht nur die "Fridays for Future"-Bewegung zeigt die Reife der Jugend. Auch prekäre Arbeitsplätze und die Arbeitslosigkeit drängen auf politische Rechte, früher wählen zu können.

Nur eins ist sicher: Ohne eine Koalition kommt keine der drei Landesregierungen zustande. Ungewiss bleibt die Frage, wer erhält die meisten Stimmen und wer geht mit wem eine Koalition ein? Die Wahlbeteiligung wird erneut zum Faktor werden. Wünschenswert sind hohe Prozentsätze.

Und was Nun? Google meldet noch am 15. März 2019, dass die Politik noch kein neues Wahlgesetz, gültig ab den 01.01.2019, beschlossen hätte, dass den Anforderungen des Verfassungsgerichtes genügt!


Der Text steht unter der Lizenz Creative Commons 4.0
http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

*

Quelle:
Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin
Reto Thumiger
E-Mail: redaktion.berlin@pressenza.com
Internet: www.pressenza.com/de


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. März 2019

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang