Schattenblick →INFOPOOL →BÜRGER/GESELLSCHAFT → REDAKTION

SERIE/021: Die tödliche Kriminalisierung der Heide L. - 19. Brief - Neudeck 10


Die tödliche Kriminalisierung der Heide L. - 19. Brief

27.4.08

Neudeck 10


Fünf Wochen bin ich jetzt schon in Neudeck. Gestern habe ich wieder einmal Arbeit beantragt - zum x-ten Mal. Niemand sagt mir, warum ich keine bekomme. Hat der Ermittlungsrichter seine Einwilligung nicht gegeben? Meine Freunde aus der Friedensbewegung kommen regelmäßig zu Besuch, auch heute. Sie wohnen in München und radeln bei halbwegs schönem Wetter hierher - alle zwei Wochen für eine halbe Stunde Gesprächszeit. Es ist ein Genuß, mit Menschen zu reden, die nicht ins Gefängnissystem involviert sind, egal ob als Häftlinge, Wärter oder sonstwie und stets ist die Zeit in null Komma nichts vorbei. Dadurch, daß immer eine Beamtin in der Nähe sitzt und unseren Gesprächen zuhört, liegt eine gewisse Spannung in der Luft, die einerseits hemmt, andererseits aber auch zu kleinen Sticheleien in Richtung Polizei und Justiz verlockt. Wenn dann die Ansage "Die Besuchszeit ist um" ertönt, wir uns noch einmal umarmen und ich herausgeführt werde, wissend, daß die Freunde gleich wieder davonradeln und in den nächsten zwei Wochen niemand kommen wird, steigen Verzweiflung und manchmal auch Tränen in mir auf. Aber noch nie habe ich in Gegenwart eines Beamten, Polizisten oder Richters geheult und bin wild entschlossen, ihnen diesen Triumph auch in Zukunft nicht zu gönnen. Von meinem Anwalt habe ich jetzt schon seit zwei Wochen nichts mehr gehört und auch auf meinem internen Gefängnis-Konto ist noch kein Geld eingegangen, obwohl ich meine Familie schon vor Wochen darum gebeten hatte, etwas zu überweisen. Sind sie mir böse? Geben sie mir die Schuld daran, daß mein Bruder kurz nach meiner Verhaftung einen Schlaganfall erlitten hat? Aber vielleicht haben sie auch nur wegen seiner Krankheit zu viel um die Ohren. Ich weiß nichts. Zu meinem Schrecken stelle ich fest, dass ich mittlerweile sogar die Geheimzahl meiner EC-Karte vergessen habe. Wieder ergreift mich Panik, alles ist so verpfuscht und verfahren. Was soll ich tun? Weitermachen? Ist es den Preis jahrelanger Gefangenschaft wert? Einfach aufgeben? Der Sehnsucht nach Ruhe folgen? Ich bin hin- und hergerissen, alle fünf Minuten komme ich zu einem anderen Schluss. Aber auch so vergeht die Zeit. Irgendwann werden wir zur Bastelstunde geholt, diesmal sollen aus Krepppapier Blumen gemacht werden. Das ist absolut nicht mein Ding, weder habe ich die erforderliche Fingerfertigkeit noch Lust dazu, außerdem erinnert mich das Ganze an meine Kindergartenzeit. Ich weiß, daß ich arrogant und ungerecht bin und daß die Mitarbeiterinnen vom Evangelischen Hilfsdienst sich bemühen, den Gefangenen mit den wenigen Materialien, die sie hier verwenden dürfen, etwas Abwechslung zu verschaffen. Diesmal beschränke ich mich aufs Zuschauen. Manche der Frauen bringen Beeindruckendes zustande, wirklich schöne Sachen, die sie liebevoll und mit viel Geschick herstellen. Die Blumen sind von den Beamtinnen als ungefährlich eingestuft worden und dürfen mit auf die Zellen genommen werden. Während die anderen noch basteln, vereinbare ich mit einer der Organisatorinnen Termine für Einzelgespräche. Sie ist nett, und als ich sie gleich am Anfang vorwarne, daß ich konfessionslos bin und auch nicht vorhabe, das zu ändern, sagt sie nur: "Das macht nichts, ich rede mit jedem".

Am nächsten Tag erscheint mein Anwalt, ganz kurz, nur für eine Viertelstunde. Er hat mit einem der Kommissare telefoniert, die mich neulich zum zweitenmal verhört hatten und meint: "Der kann sich gar nicht vorstellen, daß sie Probleme bekommen könnten". Ich schaue ihn an, macht er Witze? Offenbar nicht, jedenfalls guckt er ganz seriös und ich verkneife mir die Frage, wie er "Probleme" definiert. Außerdem hätte ich gesagt, ich würde mich in Neudeck nicht besonders wohl fühlen. Jetzt frage ich zurück: "Kennen Sie jemanden, der sich in Neudeck wohlfühlt?" Keine Antwort. Nächste Frage. Wie hoch wird seiner Meinung nach meine Strafe ausfallen? "3-4 Jahre. Die wollen, daß sie mindestens zwei Jahre auch wirklich absitzen müssen". Mindestens zwei Jahre, das heißt mindestens zwei unwiederbringlich verlorene Sommer, stattdessen Abstumpfung, Verblödung und staatlich verordnete Gehirnwäsche. Mindestens zwei Jahre, wenn es schlecht für mich läuft, noch länger. Bloß nicht daran denken! Es verdrängen, so gut es geht. Der Anwalt verabschiedet sich, sagt, er käme nächste Woche wieder. Schön wär's, aber das glaube ich erst, wenn er wirklich hier ist. Dann sitze ich wieder in "meiner" Zelle. Der, in die ich vorige Woche verlegt wurde und die ich glücklicherweise immer noch alleine bewohne. Das Fenster lässt sich zum Innenhof hin öffnen und weil es jetzt, Ende März, schon sehr warm ist, höre ich bis spät abends die Rufe der Frauen, die sich lauthals kreuz und quer über den Hof hinweg unterhalten oder auch einfach nur herumgrölen. Dank der hohen Häuserwände ist die Akustik hervorragend und ich verstehe jedes Wort, ob ich will oder nicht. Neben mir schreit eine Gefangene ununterbrochen den Namen "Tamara", eine davon offenbar Genervte brüllt "Halt's Maul!". Ab und zu ertönen auch aus anderen Fenstern Fäkalausdrücke und Beschimpfungen, manchmal auch laute Pfiffe. Eigentlich ist es verboten, im Hof zu rufen und zu pfeifen. Wer erwischt wird, riskiert eine Anzeige. Von Zeit zu Zeit allerdings werde ich auch Zeuge von Unterhaltungen, denen zuzuhören sich lohnt: "Wie alt bist du?" "Neunzehn" "Weswegen bis du hier?" "Schwere Körperverletzung, Raub, Betrug in 23 Fällen. Hoffentlich bekomme ich Bewährung".

Ich staune. Nicht schlecht für den Anfang.


*


Quelle: Copyright by Heide Luthardt


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. November 2008