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BERICHT/005: Flucht - Sozialarbeit - Vermeidung (SB)


Grenzen fressen Flüchtlinge auf

Informations- und Diskussionsabend am 1. Dezember 2011 in Hamburg-Altona

Cornelia Gunßer und Judith Gleitze auf dem Podium - © 2011 by Schattenblick

Cornelia Gunßer (l.) und Judith Gleitze (r.)
© 2011 by Schattenblick

Der "arabische Frühling", wie die politischen Protestbewegungen, die in einigen nordafrikanischen Staaten in diesem Jahr bereits zu Regierungs- und Regimewechseln geführt haben, genannt werden, hat in den westlichen Staaten ein ungeteilt positives Echo hervorgerufen. Der Begriff "Revolution" ist in aller Munde, so als sei er für die herrschenden Kräfte nie tabuisiert und als Kampfbegriff gegen links in Stellung gebracht worden. Seit einem Jahr, seit die schnell auf die Region übergreifende Aufstandsbewegung in Tunesien ihren Anfang genommen hatte, geben sich die USA wie auch die EU-Staaten überaus aufgeschlossen gegenüber diesen "Revolutionen" ungeachtet dessen, daß sie zuvor bestens mit den in der Region verhaßten Despoten, in denen nicht wenige Statthalter westlicher Interessen gesehen haben, kooperierten. Allem Anschein nach hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Tunesien, Ägypten und - "dank" des NATO-Krieges - auch Libyen gelten als befreit und die westlichen Staaten als Freunde und Helfer der jungen Demokratien im Norden Afrikas.

Die tatsächliche Realität im Verhältnis zwischen den europäischen und afrikanischen Staaten könnte dessen wohl ferner nicht sein. Sie ist diktiert von dem bedingungslosen Willen der EU, die eigene Region hermetisch abzuriegeln gegen die Armuts-, Kriegs- und Hungerflüchtlinge, die unter größten Risiken für das eigene Wohl und Leben einer Not zu entkommen suchen, die ihre Wurzeln in der - interessengebunden - für beendet erklärten Kolonialgeschichte haben. Dieses Gewalt- und Raubverhältnis wiederum findet seine tagtägliche Fortschreibung allen anderslautenden Behauptungen zum Trotz in einer Politik, deren mörderische Konsequenzen von den im engsten Wortverständnis an dieser Herrschaftsordnung beteiligten Medien systematisch ausgeblendet werden. Der schwedische Schriftsteller Henning Mankell brachte seine Wut darüber, wie einem Faltblatt der Flüchtlingshilfsorganisation "borderline-europe - Menschenrechte ohne Grenzen" zu entnehmen ist, 2007 folgendermaßen auf den Punkt:

Die Hauptstadt von Europa ist Lampedusa, wo jeden Morgen tote afrikanische Flüchtlinge an Land treiben. Da zeigt sich das wahre, unmenschliche Gesicht dieses privilegierten Kontinents. Ich hasse dieses Europa!

Borderline Europe hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Schweigen über das "Massensterben an den EU-Aussengrenzen" durch eine umfassende Information der Öffentlichkeit zu brechen und "den Vertuschungsversuchen der Behörden präzise Recherchen in den Grenzregionen" (Faltblatt) entgegenzusetzen. Diesem Ziel diente auch ein Informations- und Diskussionsabend im der Werkstatt 3 in Hamburg-Altona, der am 1. Dezember 2011 vom Flüchtlingsrat Hamburg in Kooperation mit der W3 unter dem Titel "Bewegungen im Mittelmeerraum - Auswirkungen der arabischen Aufstände auf Migration und soziale Kämpfe in Italien und anderen Ländern" durchgeführt wurde. Mit Judith Gleitze, die seit über zwei Jahren auf Sizilien für Borderline Europe tätig ist und auch aus Tunesien aus eigener Anschauung berichten konnte, hatte für diesen Abend eine engagierte und kompetente Referentin gewonnen werden können. Ein zweiter Referent, Helmut Dietrich von der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration in Berlin, der nicht nur über die Migrationsbewegungen im Mittelmeerraum, sondern über die Auswirkungen der arabischen Revolutionen auch auf Europa und andere Teile der Welt hätte sprechen wollen, hatte krankheitsbedingt absagen müssen.

Engagierte Moderation - C. Gunßer vom Flüchtlingsrat Hamburg - © 2011 by Schattenblick

Engagierte Moderation - C. Gunßer vom Flüchtlingsrat Hamburg
© 2011 by Schattenblick

Ungefähr 30 bis 40 Interessierte, die meisten von ihnen mit der Thematik bereits vertraut oder vielleicht selbst in die zivilgesellschaftliche Flüchtlingsarbeit involviert, hatten ihren Weg in die Werkstatt 3 gefunden. Cornelia Gunßer vom Flüchtlingsrat Hamburg moderierte den Abend und kam sogleich auf die katastrophale Lage in dem nahe der libyschen Grenze in Tunesien gelegenen Flüchtlingscamp Choucha zu sprechen, die sich aktuell noch weiter zugespitzt hat, nachdem alle Menschen, die vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) nicht als Flüchtlinge anerkannt worden waren, vor wenigen Tagen aufgefordert wurden, das Lager zu verlassen und nach Libyen bzw. in ihren Heimatstaat zurückzukehren; andernfalls würden sie durch die tunesische Polizei bzw. das tunesische Militär gefangengenommen und in eine Haftanstalt gebracht werden. Gunßers an die Anwesenden gerichteter Vorschlag, zu überlegen, "was wir dazu tun können", wurde nicht weiter aufgegriffen, womit sich das nicht selten anzutreffende Dilemma, den Betroffenen helfen zu wollen und doch nicht zu wissen wie, bereits andeutete.

Viele Interessierte bei der Veranstaltung in Hamburg-Altona - © 2011 by Schattenblick

Gut besuchte Veranstaltung zur einem tabuisierten Thema
© 2011 by Schattenblick

Moderatorin wie Referentin hatten vor rund einem halben Jahr mit ihren jeweiligen Organisationen kurz hintereinander dem Lager Choucha einen Besuch abgestattet. Ihnen ist die Misere dieser Flüchtlinge, von denen aus naheliegenden Gründen, da Deutschland ihre Aufnahme verweigert, an diesem Abend niemand in Hamburg anwesend sein konnte, ohnehin vertraut, wissen sie doch um die großen Nöte, die die Menschen dazu veranlaßt haben bzw. zwingen, unter größter Lebensgefahr auf seeuntüchtigen Booten das rettungversprechende Europa zu erreichen bzw. dies zu versuchen. Wieviele Menschen dabei den Tod finden - sei es, daß ihre Boote untergehen, sie an Entkräftung oder Hunger sterben oder daß ihnen in Seenot die Rettung verweigert wird -, ist eine Frage, die auch die Unterstützergruppen mangels verläßlicher Informationen nicht beantworten können und die an diesem Abend nicht im Mittelpunkt der Berichterstattung und des Interesses stand. Borderline Europe zufolge schätzen Flüchtlingsorganisationen, daß auf den Routen über das offene Meer von Afrika nach Europa die Hälfte (!) der Bootsflüchtlinge ums Leben kommt (Faltblatt).

Die Flüchtlingsratsaktivistin gab in ihrer Einleitung einen kurzen Einblick in die Arbeit der beteiligten Organisationen [1] und regte an, in der anschließenden Diskussion Anknüpfungspunkte für gemeinsame Kämpfe für die Aufnahme von Flüchtlingen sowie deren Bewegungsfreiheit, aber auch ganz generell für soziale Gerechtigkeit und Partizipation sowohl bei den europäischen wie auch den nordafrikanischen Gruppen herzustellen. Ein konkreter Ansatz sei das Projekt "boat4people" einer euro-afrikanischen Initiative, bei der im April 2012 AktivistInnen mit Booten von Italien nach Tunesien aufbrechen wollen, um ihre Solidarität mit den Flüchtlingen zu demonstrieren und die Öffentlichkeit über die Vorgänge auf dem Meer, an der libysch-tunesischen Grenze wie auch auf den Inseln Lampedusa und Malta zu informieren.

Diese Bootsaktion gegen Frontex, die EU-Agentur zur Abschottung und Abwehr unerwünschter Menschen, und den Tod im Mittelmeer wird von "Afrique-Europe-Interact" (AEI), einem im Oktober 2009 gegründeten Netzwerk afrikanischer und europäischer Basisgruppen, ebenso unterstützt wie von der "Forschungsgesellschaft Flucht und Migration - Berlin", die angibt, daß seit Jahresbeginn im Mittelmeer mindestens 2000 Menschen gestorben seien (Flugblatt). Ein weiterer praktischer Ansatz, wonach, um dies gleich vorwegzunehmen, seitens des Publikums gefragt wurde, sei hier in Deutschland eine Unterschriftenaktion zur Unterstützung eines Antrags aus Rheinland-Pfalz auf der Innenministerkonferenz, die derzeit in Wiesbaden stattfindet, wo zum ersten Mal die Aufnahme von 500 Flüchtlingen aus den nordafrikanischen Ländern verlangt werden soll [2], und schlußletztendlich gäbe es inzwischen auch in Deutschland und hier in Hamburg die Occupy-Bewegung, in die sich AktivistInnen aus der Flüchtlingsarbeit einmischen könnten.

Judith Gleitze wählte als Einstieg in ihr Referat ein Zitat aus dem Roman "Der Leopard" von Giuseppe Tomasi di Lampedusa, Herzog von Palma und Fürst von Lampedusa und damit der sizilianischen Insel, die in der europäischen Flüchtlingsabwehrpolitik eine traurige Berühmheit erlangt hat und auf der die Referentin für Borderline Europe tätig ist. Als sich der geliebte Neffe des Fürsten Lampedusa zur Zeit der Befreiungskämpfe Garibaldis den Revolutionären anschließt, will der dem König treu ergebene Onkel ihn zurückhalten, was der junge Haudegen mit den Worten zurückweist: "Sind wir nicht auch dabei, so denken sich die Kerle noch die Republik aus. Wenn wir wollen, daß alles bleibt wie es ist, dann ist es nötig, daß alles sich verändert." [3] Den letzten Satz wollte die Referentin übertragen verstanden wissen auf die italienische Flüchtlingsabwehr, womit sie auf die klaffende Diskrepanz zwischen Recht und Realität, etwa dem Recht, in diesem EU-Staat einen Asylantrag zu stellen und während des Verfahrens dort auch untergebracht zu werden, und einer Wirklichkeit, in der gänzlich andere "Gesetze" zu gelten scheinen und in der die Rechte der Hilfsbedürftigen faktisch ausgehebelt sind.

Gleitze spricht in diesem Zusammenhang von einem (Flüchtlings-) Notstand in Italien, der sich in diesem Jahr besonders krass entwickelt habe. Nicht etwa, wie sie deutlich machte, weil "wir", wie der italienische Innenminister uns weismachen wolle, von den Flüchtlingen überrannt werden würden, sondern weil Italien sich weigere, seinen Verpflichtungen nachzukommen. Die Referentin machte deutlich, daß von einem biblischen Exodus oder einem anstürmenden Millionenheer nicht die Rede sein könne. Es seien ungefähr 60.000 Flüchtlinge gewesen, die in diesem Jahr im Zusammenhang mit den arabischen Revolutionen und dem Krieg in Libyen nach Italien gekommen sind - die eine Hälfte von ihnen waren Tunesier, die andere Flüchtlinge auch aus anderen Staaten, die über Libyen eingereist sind.

Oft sei sie gefragt worden, so erzählte die Referentin, wieso, da in Tunesien der Diktator vertrieben werden konnte, so viele Menschen nach der Revolution das Land verlassen hätten. Darauf habe sie zur Antwort gegeben, daß eine Revolution nicht an einem Tag zu machen sei und daß die Situation in Tunesien immer noch sehr prekär sei. Im Moment, nach den Wahlen, sei zwar alles ruhig, doch es komme immer wieder, zum Teil mit tödlichem Ausgang, zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Tunesiern. Wenngleich die Frage damit zutreffend beantwortet wurde, blieb doch die implizit angeklungene Frage, warum sichso viele Menschen in dieser fraglos gefährlichen Umbruchzeit veranlaßt sehen, ihr Land zu verlassen, wenn sie doch jetzt - angeblich - die "demokratische" Chance hätten, die Verhältnisse selbst zu bestimmen, nicht berücksichtigt.

Judith Gleitze referierte über die widersprüchliche Haltung der EU, die die neue Demokratie in Tunesien (und anderen Ländern) hochlobt, obwohl sie zuvor mit den nun gestürzten Despoten bestens zusammengearbeitet hatte. Ungeachtet der Revolutionseuphorie in Europa seien die Menschen aus diesen Ländern hier gar nicht gern gesehen - die sollen "schön zu Hause bleiben". Italien habe auf die erste Flüchtlingswelle von rund 5000 Menschen im Februar sofort reagiert und das (geschlossene) Lager auf Lampedusa nicht geöffnet. Für die Angekommenen bedeutete dies, daß sie bei den zu dieser Jahreszeit auch auf Sizilien empfindlich kalten Temperaturen wie auch bei Regen draußen schlafen mußten. Dagegen regten sich Proteste der lampedusianischen Bevölkerung wie auch von verschiedenen Organisationen mit dem Ergebnis, daß das bereitstehende Aufnahmelager doch wieder geöffnet wurde.

Schon zu dieser Zeit setzte in den Medien eine Panikmache ein, um die Bevölkerung gegen die Flüchtlinge aufzubringen. Weitere Zeltlager wurden in Italien errichtet, um die auf Lampedusa angelandeten Menschen zu beherbergen. Um ihnen Einhalt zu gebieten oder weitere Migranten abzuhalten, wurden gegen die ersten 6.000, die angekommen waren, Strafverfahren wegen illegaler Einreise eröffnet, die sich beim zuständigen Gericht noch immer stapeln. Wenig später, im März, waren Rechtspolitiker wie Marine Le Pen, die Tochter des französischen Politikers von der Front National, nach Lampedusa gekommen, die sich die Situation angeschaut und dann vorgeschlagen hatten, man solle den Menschen Wasser und Lebensmittel in die Boote werfen und sie dann auf See zurückschicken. "Leider ist das dann auch passiert", so Gleitze.

Ende März habe die italienische Regierung dann ihre Strategie gewechselt und auf Eskalation gesetzt. Sie habe beschlossen, alle Ankommenden auf Lampedusa zu belassen und nicht mehr auf andere Orte bzw. Aufnahmelager in Italien weiterzuverteilen. Die Folgen waren nicht nur vorhersehbar, sondern politisch gewollt - es sollte, so die Analyse der auf Lampedusa tätigen Menschenrechtsaktivistin, das Chaos ausbrechen. Die Insel hat eine Fläche von ungefähr 20 Quadratkilometern und etwa 4.500 Einwohner. Als dann im März die Flüchtlingszahl auf 6.000 stieg, von denen viele auf Plastikplanen campierten, weil es nicht genug Unterkünfte gab, kam es zu Protesten der lampedusianischen Bevölkerung gegen die tunesischen Flüchtlinge. Mit dieser Strategie wollte die italienische Regierung, so Gleitzes Einschätzung, Europa erpressen und zur Flüchtlingsaufnahme zwingen mit dem Argument, daß Italien damit überfordert sei. Diesen Standpunkt ließ die Referentin nicht gelten. In diesem Punkt teilte sie die Auffassung der EU, die dieses Ansinnen mit dem Argument verweigerte, auch Italien habe ein Asylrecht und Aufnahmeverfahren etabliert und müsse dies nun selber erledigen.

Bild von einem Flüchtlingslager, das KZ-Assoziationen erweckt - © 2011 by Borderline Europe

Ein Lagerbild, das unwillkürlich Assoziationen erweckt...
© 2011 by Borderline Europe

Da Europa sich nicht erpressen ließ, mußte die italienische Regierung ihre Strategie abermals ändern. Es wurden neue Lager errichtet, Zeltstädte, die sehr schnell zu geschlossenen Abschiebegefängnissen wurden, aus denen die Menschen nicht mehr herauskonnten. Diese faktischen Inhaftierungen führten zu relativ vielen Revolten unter den Flüchtlingen aus dem Maghreb, die sich, wie Judith Gleitze betonte, zu Recht dagegen wehrten, eingesperrt zu werden und nicht zu wissen, was mit ihnen geschehen würde. Es gab immer wieder Fluchtversuche, wobei viele Menschen, zum Teil durch die Polizei, Verletzungen davongetragen hätten. Auf Lampedusa wurden die Flüchtlinge aus Tunesien von denen aus den übrigen maghrebinischen Staaten, die über Libyen gekommen waren, getrennt untergebracht und auch anders behandelt, was zu großen Spannungen führte. Die Tunesier wurden im hinteren Teil des Lagers eingesperrt und länger dabehalten als die anderen Flüchtlinge, die vor ihnen weitertransportiert und auf andere Einrichtungen verteilt wurden.

Infolge des NATO-Krieges flohen sehr viele Menschen aus Libyen. 500.000 Kriegsflüchtlinge sind in das Nachbarland Tunesien gegangen und wurden dort, wie die Referentin eindrücklich schilderte, bereitwillig aufgenommen von Menschen, denen es selber nicht gut ging. Die Tunesier haben mit den Libyern, obwohl sich beide Völker nicht besonders gut verstehen, ihre Häuser geteilt. Im Süden Tunesiens, einer besonders armen Region, wurden 55.000 libysche Familien untergebracht. Damit wurde etwas praktiziert, was in Europa als problematisch, wenn nicht unmöglich angesehen wird - die Aufnahme von Flüchtlingen.

Das UN-Flüchtlingshilfswerk verwaltet das Flüchtlingselend - © 2011 by Borderline Europe

Das UN-Flüchtlingshilfswerk verwaltet das Flüchtlingselend
Mit freundlicher Genehmigung - © 2011 by Borderline Europe

Am 24. Februar 2011 wurde vom UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) in Tunesien nahe der libyschen Grenze das Lager Choucha errichtet, in dem noch Monate später sogar die Flüchtlinge aus westafrikanischen Staaten ausharren mußten, deren Asylantrag positiv entschieden worden war, weil nicht genug Rückführungsaktionen durchgeführt wurden. Im Mai brach in diesem Lager eine Revolte unter den Insassen aus, in deren Verlauf Menschen getötet wurden. Viele Kriegsflüchtlinge, unter ihnen Gastarbeiter aus Bangladesh, Nigeria und Ghana, die jahrelang in Libyen gearbeitet hatten, kehrten in das libysche Kriegsgebiet zurück, um von dort aus zu versuchen, mit zumeist seeuntüchtigen Booten über Lampedusa Italien zu erreichen.

Auf diesem Wege sind nach offiziellen italienischen Angaben ungefähr 52.000 Menschen nach Italien eingereist, die übrigen rund 8000 über die italienischen Küsten. Die erste Reaktion Italiens über diesen "Ansturm" hatte darin bestanden, bei der EU-Agentur Frontex um "Schutz" nachzufragen. Diese reagierte prompt und startete am 20. Februar ihre seitdem mehrmals und aktuell bis Jahresende verlängerte Mission Hermes. Worin diese Mission besteht, sei jedoch, wie Judith Gleitze darlegte, völlig unklar. Man sehe keine Frontex-Schiffe und keine -Flugzeuge und höre von der Agentur im Unterschied zum Frontex-Einsatz in Griechenland hier rein gar nichts. Das einzige, was die Menschenrechtsaktivisten von Frontex mitbekommen hätten, waren Verbindungsbeamte, die in die Lager gegangen und dort die Flüchtlinge befragt hätten. Alle Versuche, darüber nähere Auskunft zu bekommen, scheiterten. Ein Gespräch sei nicht möglich gewesen, von einer Transparenz könne bei dieser Frontex-Mission nicht die Rede sein.

Flüchtlingszelte im Lager Choucha - © 2011 by Borderline Europe

Menschen kampieren im Lager Choucha
Mit freundlicher Genehmigung - © 2011 by Borderline Europe

Die Referentin widmete sich den rechtlichen Maßnahmen der italienischen Regierung, mit denen versucht wurde, des Flüchtlingsproblems Herr zu werden. Ein erster Erlaß mit dem bezeichnenden Titel "Notstand Migration" wurde am 12. Februar erlassen und hatte die Eröffnung eines Flüchtlingsgroßlagers auf Sizilien zum Inhalt. Mit diesem Dekret wurde die Rückführungsrichtlinie der EU, die Verhaftungen und Abschiebungen einen Riegel vorschiebt, ausgehebelt, wodurch der Weg frei wurde für Kollektivabschiebungen auf der Basis bilateraler Abkommen, die Italien mit Tunesien, aber auch Ägypten ungeachtet der dortigen Umbruchsituationen geschlossen hatte. Am 2. März traf Italien die Entscheidung, der tunesischen Regierung Geld zu geben, damit die Flüchtlinge gar nicht erst nach Italien kommen. Per Ministerialdekret führte Italien dann am 5. April eine Stichtagregelung ein, derzufolge tunesische Flüchtlinge, die bis zu diesem Tag angekommen waren, eine Aufenthaltserlaubnis bekommen sollten und alle später Angekommenen nicht mehr. Auf dieser Basis wurden 12.000 Aufenthaltserlaubnisse ausgestellt.

In Europa führte dieser Erlaß zu heller Empörung, weil nun zu befürchten stand, daß die Flüchtlinge aus den nordafrikanischen Staaten versuchen würden, statt nach Italien in einen anderen EU-Staat zu kommen. Da habe es dann geheißen: Wir machen den Schengenraum wieder zu und die alten Grenzen wieder auf. Die französische Regierung reagierte sofort und schloß die Grenzen des Landes, weil ihr klar war, daß die tunesischen Flüchtlinge versuchen würden, in den französischsprachigen Teil Europas - also Frankreich und Belgien - zu gelangen. Nach Frankreich konnten nur noch Flüchtlinge einreisen, die eine Aufenthaltserlaubnis mit Schengen-Visum, einen Paß und genug Geld hatten. Alle übrigen wurden selbst dann, wenn sie eine Aufenthaltserlaubnis hatten, sofort nach Italien zurückgeschoben. Viele Tunesier hielten sich zwar noch immer in Frankreich auf, jedoch ohne jede Chance auf einen legalen Aufenthaltsstatus.

Am 1. April wurde in Italien ein Runderlaß beschlossen, der es Journalisten und allen Flüchtlingsorganisationen mit Ausnahme des UNHCR, des Roten Kreuzes und der Internationalen Migrationsorganisation IOM (International Organisation of Migration) verbot, die Lager zu betreten. Das bedeutet, daß weder Aufnahme- noch Abschiebungshaftlager von Medienvertretern besucht werden können, so daß es nicht die geringste Transparenz und öffentliche Kontrolle darüber gibt, wie mit den Flüchtlingen umgegangen wird. Dieses Dekret wurde von der neuen italienischen Regierung unter Ministerpräsident Mario Monti beibehalten. Als ein weiteres, besonders krasses Beispiel unter den zur Flüchtlingsabwehr erlassenen italienischen Dekreten benannte die Referentin den Erlaß vom 7. April, mit dem allen Ernstes der Notstand in Nordafrika ausgerufen wurde. Was würde passieren, so ihre rhetorische Frage, wenn Italien den Notstand in Deutschland ausriefe?

Mit weiteren Notstandsdekreten wurde die Unterbringung der Flüchtlinge in die Zuständigkeit des Zivilschutzes delegiert, was in Deutschland dem Technischen Hilfswerk entsprechen würde. Die drei errichteten Zeltstädte wurden von einem Tag auf den anderen per Dekret von Aufnahmelagern zu Abschiebungshaftanstalten umdeklariert mit der Folge, daß die dort Untergebrachten von null auf gleich mit ihrer Abschiebung rechnen mußten. Am 2. August trat ein Gesetz in Kraft, das die Dauer der Abschiebehaft, wie in Deutschland längst möglich, auf 18 Monate verlängert, was die Situation in den Abschiebegefängnissen abermals zugespitzt hat. Häftlinge, die das mitbekommen haben, sind, so Gleitze, "natürlich auf die Barrikaden gegangen". Es gab sehr viele Verletzte, immer wieder auch Selbstmordversuche und Selbstverstümmelungen, so zum Beispiel Gefangene, die sich den Mund zunähten.

Mit einem weiteren Erlaß vom 1. Oktober, der noch nicht umgesetzt ist, aber mit Sicherheit kommen werde, wird allen Asylsuchenden in den Flüchtlingszentren, deren Antrag abgelehnt wurde, auferlegt, sofern sie kein Klageverfahren führen, sofort das Lager zu verlassen. Dies bedeutet, daß die Flüchtlinge, die sich die Gerichts- und Anwaltskosten einer solchen Klage überhaupt nicht leisten können, ad hoc in Abschiebehaft genommen und auch abgeschoben werden können. Für die oft schwer traumatisierten Kriegsflüchtlinge, die ohnehin "psychisch am Ende" seien, ist dies natürlich eine Katastrophe, es komme unter ihnen zu "riesigen Panikattacken".

Das größte europäische Auffanglager für Flüchtlinge befindet sich in einer im vergangenen Winter verlassenen US-Basis auf Sizilien, von wo aus allerdings noch Flugzeuge in den Libyenkrieg gestartet sind. Derzeit befinden sich in diesem von einem Privatbetreiber, der vom italienischen Staat allein 360.000 Euro Miete pro Monat kassiert, geführten Lager zwischen 1500 und 1800 Menschen. Dieses Lager werde von sogenannten "roten Kooperativen" geleitet, die in Italien als links gelten. In dieses Lager werden Flüchtlinge gebracht, die an anderen Orten schon länger gewesen sind, dort vielleicht ein Anhörungsverfahren vor der Asylkommission laufen hatten oder deren Kinder anderswo bereits zur Schule gegangen sind. Selbstverständlich führte dies zu großen Unruhen in diesem Auffanggroßlager, in dem es alle zwei Monate zu Revolten käme, wobei die Flüchtlinge die Hauptverbindungsstraße besetzen würden. In diesem Lager habe es in den ersten Monaten nicht einmal eine Asylkommission gegeben. Inzwischen gäbe es eine, die ungefähr zehn Anhörungen pro Woche durchführt, was für die vielen Asylsuchenden bedeutet, daß sie ewig warten müssen.

Flüchtlingsgroßlager mit beängstigender Architektur - © 2011 by Borderline Europe

Beängstigende Architektur
Mit freundlicher Genehmigung - © 2011 by Borderline Europe

Kurzfristig waren, um weitere Aufnahmelager zu schaffen, Zeltstädte errichtet worden, so beispielsweise auf einem kerosinverseuchten ehemaligen Militärflughafen in der Nähe von Trapani auf Sizilien. Flüchtlinge, vor allem Tunesier, wurden zum Teil in zu Auffanglagern umfunktionierten Turnhallen tagelang festgehalten, bevor sie, völlig rechtswidrig, einfach abgeschoben wurden. Diese Menschen hätten überhaupt keine Papiere bekommen, nicht einmal eine Abschiebungsverfügung. Man habe sie einfach dem Konsul, der von der tunesischen Regierung den Auftrag bekommen habe, ihre Rückführung anzuerkennen, vorgeführt und dann seien sie abgeschoben worden.

Die meisten der rund 2000 Asylverfahren, die in diesem Jahr in Italien durchgeführt wurden, betrafen tunesische Flüchtlinge, die ihre Auffanglager, so sie vor dem 5. April eingereist und dadurch eine Aufenthaltserlaubnis erhalten hatten, bald wieder verlassen mußten. Da sie weder Geld noch irgendeine Unterbringungsmöglichkeit hatten, bevölkerten diese tunesischen Flüchtlinge bald die sizilianischen Bahnhöfe und wußten nicht einmal, wie sie von dort wegkommen könnten. Die Bahn hatte ihnen verboten, ihre Züge zu benutzen. Die Mitarbeiter von Borderline Europe kümmerten sich, wie Judith Gleitze berichtete, um diese Menschen, die tagelang auf den Bahnsteigen campieren mußten, und standen ihnen bei, um bei Präfektur und Zivilschutz wenigstens eine Fahrkarte zu bekommen.

Wenngleich die meisten Asylanträge von Tunesiern gestellt wurden, hatte das Gros der aus Tunesien stammenden Menschen keine Chance, über einen solchen Antrag zu einem legalen Aufenthaltsstatus zu kommen. Dafür hatte, wie die Referentin erklärte, das UNHCR gesorgt. In der Verantwortung des UN-Flüchtlingskommissariats habe es gelegen, daß Menschen aus dem Maghreb - nicht nur Tunesier, sondern auch Marokkaner und Libyer - de facto vom Asylverfahren ausgeschlossen worden waren. In einem Fall habe das ein Journalist bei einem Haftprüfungstermin in einem der Zeltlager mitbekommen. Da hätten die tunesischen Flüchtlinge angegeben, daß sie auf Lampedusa erklärt hätten, daß sie einen Asylantrag stellen wollen. Daraufhin sei beim UNHCR auf Lampedusa nachgefragt worden, damit der Haftrichter die Anträge prüfen und die Betroffenen entlassen könne. Das UNHCR habe sich geweigert, die Papiere rüberzufaxen. "Order aus Rom", habe es geheißen. Das UNHCR habe, "aus welcher Machtecke auch immer" beschlossen, so Gleitzes bitteres Resümee, daß diese Menschen keinen Asylantrag stellen dürften und daß sie kein Recht auf irgendetwas hätten. Seitdem sei die Zusammenarbeit mit dem UN-Flüchtlingshilfswerk, vorsichtig formuliert, "etwas schlechter".

Die Mitarbeiter von Borderline Europe haben tunesische Flüchtlingen getroffen, die, obwohl sie eine Aufenthaltserlaubnis hatten, von Frankreich aus in Polizeibegleitung nach Italien direkt zum Flughafen in Rom zurückgeschoben worden waren. Dort habe man sie bedroht und ihnen sei solange Angst gemacht worden, bis sie etwas unterschrieben, von dem sie nicht wußten, was es war. Als alles zu spät war und nicht mehr die geringste Einspruchsmöglichkeit bestand, stellte sich heraus, daß sie eine Erklärung, freiwillig ausreisen zu wollen, unterschrieben hatten.

Der W3-Veranstaltungsraum mit Publikum und Podium - © 2011 by Schattenblick

Ernste Fragen in freundlicher Atmosphäre präsentiert
© 2011 by Schattenblick

Auf ein gewisses Presseecho sind im Sommer die Zurückweisungen auf hoher See gestoßen. Am 21. August war ein Schiff mit 107 Tunesiern im Hafen von Lampedusa eingelaufen, weil einige von ihnen gesundheitliche Probleme hatten. Sie wurden in eine Klinik gebracht, während alle übrigen, über einhundert, auf dem Schiff gelassen, zurückgefahren und direkt den tunesischen Behörden übergeben wurden. Das war eine kollektive Zurückweisung, die es rechtlich gesehen gar nicht geben dürfte, weil eigentlich jeder Einzelfall geprüft werden müsse. Gegenüber einer Journalistin hätten die italienischen Einsatzkräfte ihr Vorgehen bei einer Seenotrettung folgendermaßen beschrieben: Wenn sie ein Flüchtlingsboot, "target" (Ziel) genannt, ausgemacht hätten, fahren sie hinaus aufs Meer. Dann werde die Finanzpolizei, die als Grenzpolizei tätig sei, geholt, die Carabinieri würden als Grenzsicherer hinzugezogen. Wenn die dann der Meinung wären, es würde sich um Flüchtlinge aus Tunesien handeln, werde die Marine gerufen, die das Boot der tunesischen Marine übergeben. Bevor die Flüchtlinge auch nur die Chance hätten, einmal das Wort "Asyl" zu sagen, seien sie schon zurückgebracht worden.

Zu den Rechtsbrüchen, die die Referentin schilderte, gehörte auch eine Seenotrettung, die sich als das genaue Gegenteil dessen, was der Begriff verspricht, erwiesen habe. Wie in der Presse berichtet, hätten aus Libyen kommende Schiffe Seenot angezeigt und per Satellitentelefon angegeben, daß Schiffe der NATO in der Nähe gewesen seien, sie aber nicht gerettet hätten. Das sei mehrfach vorgekommen, so Gleitze, die als schlimmsten Fall die Havarie eines mit 370 Flüchtlingen vollbesetzten Bootes im August dieses Jahres schilderte, wobei hunderte Menschen gestorben seien, weil sie nicht bzw. nicht schnell genug gerettet wurden. Das sei ein so schwerwiegender Vorfall gewesen, daß sogar die italienische Regierung nicht umhin kam, bei der NATO anzufragen, weil das so nicht gehe, wobei sie zur Antwort bekommen habe: "In anderen Fällen haben wir doch gerettet, was soll's?"

Vollbesetztes Flüchtlingsboot - © 2011 by Borderline Europe

Große Enge an Bord
Mit freundlicher Genehmigung - © 2011 by Borderline Europe

Nach Gleitzes Schilderung wird gegen tunesische wie auch andere Flüchtlinge auch direkt Gewalt ausgeübt. Die Borderline-Europe-Mitarbeiter hätten in Tunesien mit einem sehr jungen Flüchtling gesprochen, der ihnen berichtet hätte, daß er als Ben-Ali-Anhänger einen Asylantrag stellen wollte und daraufhin auf Lampedusa schwer zusammengeschlagen worden sei. Man habe ihm zwar sein Handy abgenommen, mit seiner Memory-Card habe er ihnen jedoch Fotos und Videoaufnahmen zeigen können, auf denen Wände und Teppiche voller Blutspritzer zu sehen waren. Er habe ihnen erzählt - und damit sei er nicht der einzige gewesen -, daß mit Gesichtsmasken völlig unkenntlich gemachte Polizeibeamte in den hinteren Teil des Lagers gekommen und dort völlig wahllos zugeschlagen hätten. Sobald sich einer der Tunesier auch nur gemuckt hätte, wären sie gekommen und hätten losgeprügelt.

Zu solchen Übergriffen komme es nicht nur gegen Flüchtlinge, sondern auch gegen Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, die bedroht werden. Am 24. August soll ein Arzt, der den gerade angelandeten Flüchtlingen helfen wollte, weggestoßen und mit Gewalt daran gehindert worden sein, einen Kranken zu versorgen. Das sei, wie die Referentin zu berichten wußte, kein Einzelfall gewesen. Ein weiteres Problem bestünde darin, daß die Unterbringung so unkoordiniert verlaufe, daß die Hilfsorganisationen oft gar nicht wüßten, in welchem Hotel oder in welcher Unterkunft die Menschen geblieben seien. Vom Zivilschutz einmal abgesehen, würden die zuständigen Stellen die Kommunikation mit ihnen verweigern. Besonders prekär sei auch die Situation Jugendlicher. Flüchtlinge, die als "unbegleitete Minderjährige" nach Italien kämen, würden in sogenannten Übergangsstrukturen geparkt werden, in denen sie, ohne daß irgendwelche Vormundschafts- oder sonstige Fragen geklärt werden würden, verwahrt werden - angeblich nur ein paar Tage, tatsächlich jedoch oft Monate oder eben so lange, bis sie 18 Jahre alt sind und abgeschoben werden können.

Gegen Ende ihres Vortrags erwähnte die Referentin noch einen Brand, der am 20. September im Flüchtlingslager auf Lampedusa ausgebrochen war. Ob er tatsächlich, wie alsbald behauptet wurde, von den Flüchtlingen selbst gelegt worden war, sei zwar nicht auszuschließen, jedoch ebensowenig erwiesen. Die Brandursache sei bis heute ungeklärt. Ein Block des Lagers ist abgebrannt, dessen Insassen in die Stadt geflüchtet. Das waren rund 1300 Menschen in einer offiziell mit 340 Plätzen ausgestatteten Einrichtung. Diese vielen Menschen hätten sich hingesetzt und ganz still protestiert. Sie hatten Schilder bei sich, auf denen geschrieben stand: "Entschuldige, Lampedusa" oder "Bringt uns hier weg". Dann seien Gerüchte aufgekommen, daß die draußen Campierenden abgeschoben werden würden, woraufhin eine kleine Gruppe in Panik geraten, sich an einer Tankstelle verbarrikadiert und gedroht hätte, die Tankstelle mit Gasflaschen in die Luft zu sprengen. Doch wie, so fragte die Referentin, mögen sie an Gasflaschen gekommen sein?

Die Polizei habe in dieser Situation gar nichts gemacht. Ob dies so zu deuten sei, daß sie die Menschen genau in diese Richtung schubsen wollte, um dann wirklich zuschlagen zu können, sei nicht klar geworden. Es sei aber deutlich geworden, daß die lampedusianische Bevölkerung gegen die Flüchtlinge aufgehetzt wurde. So sei der Bürgermeister selbst mit einem Schlagstock losgezogen, bis schließlich ein Großteil der Inselbewohner auf die Flüchtlinge losgegangen sei. Diese seien erst verprügelt und dann nach Sizilien verbracht worden. Dafür seien drei ganz normale Linienfähren gechartert worden, die nach Palermo gefahren und dort geankert hätten. Einzelne Bürger wie auch Angehörige der Hilfsorganisationen hätten die Situation erfaßt. Es gab übers ganze Wochenende Proteste und Demonstrationen am Hafen, bis dann, auch von Borderline Europe, bei der zuständigen Staatsanwaltschaft eine Untersuchung beantragt wurde, weil die Flüchtlinge auf den schwimmenden Gefängnissen illegal festgehalten werden würden.

Dementsprechende Ermittlungen wurden auch sofort eingeleitet, führten jedoch lediglich dazu, daß die Fähren noch am selben Nachmittag den Hafen verließen, einmal um die Insel fuhren und im Süden wieder anlegten. Am darauffolgenden Tag wurden die Insassen in Busse verladen, nach Palermo zurückgefahren und abgeschoben. Bis jetzt sei so etwas zwar noch nicht wieder vorgekommen, doch man müsse, da sowohl die Aufnahmelager als auch die Abschiebungshaftanstalten nach wie vor relativ voll seien, nach Einschätzung der Referentin jederzeit mit solchen Maßnahmen rechnen. Nach all diesen schlechten Nachrichten präsentierte Judith Gleitze zum Abschluß ihres Vortrages, um auch einmal etwas Positives berichten zu können, den gegen tunesische Fischer, die im Jahre 2007 44 Flüchtlinge vor dem Ertrinken gerettet hatten, inzwischen ergangenen Freispruch. Bei diesem, ganz ähnlich zu der in der Presse bekannt gewordenen Cap Anamur gelagerten Fall waren zwei tunesische Kapitäne in Südsizilien in erster Instanz zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt worden.

Am 21. September dieses Jahres sei dieser Fall vor dem Berufungsgericht in Palermo erneut verhandelt worden. Wie Judith Gleitze mit eigenen Ohren hörte, vertrat dabei der nun zuständige Staatsanwalt die Auffassung, daß das erste Gericht das "irgendwie komisch zusammengestellt" hätte und daß seiner Meinung nach die Verurteilung so gar nicht gehe. Er plädierte auf Freispruch, der dann auch erging und zu einer, wenn auch späten Entlastung der verurteilten Fischer führte, die vier Jahre lang ihre Existenz, ihre Schiffe, ihr Einkommen und ihre Papiere verloren hatten und in dieser Zeit ihren Beruf nicht mehr ausüben konnten. "Das war das einzig Positive", lautete das Resümee der Referentin.

Flüchtlingsboot auf der Fahrt in eine ungewisse Zukunft - © 2011 by Borderline Europe

Auf der Fahrt in eine ungewisse Zukunft
Mit freundlicher Genehmigung - © 2011 by Borderline Europe

In der anschließenden Diskussions- und Fragerunde ging es zunächst um die Abschiebung der tunesischen Flüchtlinge aus Italien nach Tunesien. In diesem Jahr sollen schon über 3500 nach Tunesien abgeschoben worden sein, was zu Auseinandersetzungen mit der (neuen) tunesischen Regierung geführt habe, die zunächst nicht so viele Menschen zurücknehmen wollte. Dann habe es Italien jedoch geschafft, mit welchen Mitteln auch immer, ein außergewöhnliches Kurzzeitabkommen zu schließen. In Tunesien selbst sei davon zunächst kaum etwas bekannt gewesen, dann sei die Übergangsregierung aufgefordert worden, solche Verhandlungen nicht zuzulassen. Judith Gleitze ergänzte, daß bereits zur Zeit Ben Alis eine gute Kooperation zwischen Italien und Tunesien bestanden habe und daß sehr viele italienische Unternehmen in Tunesien ansässig seien. Auf Nachfrage aus dem Publikum berichtete die Moderatorin, daß die Rückkehrer in Tunesien unter Umständen mit ihrer Inhaftierung zu rechnen haben. Ihres Wissens nach konnten Tunesier, die zum ersten Mal das Land verlassen hatten, nach ihrer Abschiebung den Flughafen nach kurzer Zeit wieder verlassen. Wer jedoch mehrere Fluchtversuche hinter sich hat, komme womöglich ins Gefängnis wegen "illegaler Ausreise". Die AktivistInnen können dies jedoch nicht nachweisen, da werde "total geblockt".

Gräber mit improvisierten Kreuzen - © 2011 by Borderline Europe

Ohne Worte
Mit freundlicher Genehmigung - © 2011 by Borderline Europe

Angesprochen auf die aktuelle Situation ihrer Arbeit bei Borderline Europe in Sizilien erzählte Judith Gleitze, daß "es an allen Ecken brenne" und die (wenigen) AktivistInnen nicht wüßten, wo sie zuerst hingucken sollten. Die brennendsten Probleme seien die Obdachlosigkeit der Flüchtlinge und die ihnen drohende Abschiebung. Es drehe sich immer im Kreise, sie hätten keine Aufenthaltserlaubnis, weil sie keine Wohnung hätten und so weiter. Bei den Unterstützern handele es sich um Privatpersonen, kleine Gruppierungen, manchmal auch kirchliche, sowie antirassistische Netzwerke, was es sehr schwierig mache, die Arbeit der zersplitterten Gruppen zu koordinieren. Das Hamburger Publikum zeigte sich auch an der praktischen Arbeit, wie von hier aus die Flüchtlingssolidarität unterstützt werden könne, sehr interessiert. Dementsprechende Fragen wurden mit ausführlichen Informationen über die laufenden und geplanten Aktionen (Spendenaktionen, Unterschriftensammlungen, Bootsaktion "Boats4people" u.ä.) beantwortet.

Darin erschöpfte sich jedoch keineswegs das inhaltliche Spektrum der Fragestellungen und Diskussionsbeiträge. Die Empörung über die Rechtswidrigkeit des Vorgehens der italienischen Behörden, die den Flüchtlingen ihren Rechtsanspruch auf Unterbringung, den sie in Italien wie in Deutschland während ihres Asylverfahrens haben, vorenthalten, war fast mit den Händen zu greifen und suchte sich ihren Ausdruck in der Frage, ob es denn da keine Strafanzeigen gäbe? Judith Gleitze gab dazu zur Antwort, daß es zwar Strafanzeigen gäbe, doch immer nur in Einzelfällen. Viele Menschen sitzen einfach auf der Straße, das Problem sei so flächendeckend, daß weder Anwälte noch die AktivistInnen dagegen ankämen. Dasselbe gelte für die kollektiven Abschiebungen.

Eine weitere interessante Frage betraft die Haltung der Europäischen Union zu der katastrophalen Lage der Flüchtlinge im Mittelmeerraum. Wo sind denn die Menschenrechtsbeauftragten, wurde gefragt. Dazu nahm Judith Gleitze deutlich Stellung, indem sie klarstellte, daß die EU zuguckt, weil es ihr politischer Wille ist, daß es so läuft. Abschottung sei der politische Auftrag, und wenn dann einmal eine Delegation von EU-Parlamentariern die Lager besuche, sei das eine Farce. Die würden dann sagen, dieses Lager sei Mist, weil es keine Türen in den Klos gäbe, und würden dann die Abschiebungshaft in den höchsten Tönen loben, weil da die Standards eingehalten werden würden. Auf diesem Niveau werde da argumentiert - da "kommen wir nicht gegen an". An dieser wie an vielen weiteren Stellen deuteten sich an diesem Abend die inhaltlichen Diskrepanzen und Widerspruchslagen zwischen der hochoffiziellen Menschenrechtspolitik und dem zivilgesellschaftlichen Engagement einzelner AktivistInnen bzw. kleinerer, unabhängiger Gruppen an. Für Borderline Europe berichtete die Referentin, die seit fast drei Jahren auf Lampedusa tätig ist, daß ihre Möglichkeiten eine umfangreichere Berichterstattung, wie sie es sich wünschen würde, nicht zuließen.

In einem weiteren Diskussionsbeitrag wurde die vielfach angesprochene Forderung an die deutsche Bundesregierung, doch entgegen ihrer bisherigen Weigerung Flüchtlinge aus dem Mittelmeerraum aufzunehmen, thematisiert. Nicht nur in Deutschland, in der gesamten EU herrsche die Abwehr von Flüchtlingen sowie eine Politik der Abschottung vor, Stichwort Frontex, die, wie an diesem Abend deutlich geworden sei, auf hoher See zu Toten führe. Stelle angesichts dieser grausamen Realität der fortgesetzte Appell, doch bitte schön Flüchtlinge aufzunehmen, nicht einen Widerspruch dar? Eine Teilnehmerin griff den Faden auf und gab zu bedenken, daß es wichtig wäre, eine Verbindung zwischen den Flüchtlingen und uns bzw. unserer Lage herzustellen. Ihrer Meinung nach genüge es nicht, die Flüchtlinge an Land zu lassen und ihre Einreise zu legalisieren, weil damit die Gründe ihrer Flucht nicht abgeschafft wären. "Wir beuten andere Länder aus", erklärte sie und berührte damit eine an diesem Abend noch tabuisierte Thematik, nämlich die der eigenen Teilhaberschaft an dem auch dem Flüchtlingselend zugrundeliegenden internationalen Raubverhältnis.

Moderatorin fragt: Flüchtlingssolidarität oder gemeinsamer Kampf? - © 2011 by Schattenblick

Solidarität mit Flüchtlingen oder ein gemeinsamer Kampf?
© 2011 by Schattenblick

Conny Gunßer nahm zu dieser Problematik Stellung und warf die Frage auf, ob es allein um die Solidarität mit den (armen) Flüchtlingen gehe oder ob es gemeinsame Interessen zwischen den hiesigen AktivistInnen und den Menschen in den nordafrikanischen Staaten gäbe. Sie erklärte, daß ihr Interesse an der tunesischen Revolution auch daher rühre, von dieser Bewegung und Entwicklung lernen zu wollen. Kontroverse Standpunkte und Diskussionen waren an diesem Diskussions- und Informationsabend weitgehend ausgeblieben, was den Eindruck, hier hätten sich engagierte AktivstInnen mit Gleichgesinnten und Interessierten getroffen, die ihre politischen und persönlichen Auffassungen im großen und ganzen teilen, nur bestärkte.

Daß von denjenigen, um die es eigentlich ging, nämlich den Flüchtlingen, die in ihrer großen Not in faktischer Rechtlosigkeit einer Administration ausgeliefert sind, die in national wie supranational verzahnter Weise ihre Abwehr organisiert, niemand zugegen war, liegt selbstverständlich an der Effizienz dieser Abschottungspolitik wie auch der schlichten Weigerung Deutschlands und der EU, die Tore aufzumachen. Wer sich mit dieser Erklärung zufrieden gibt, verzichtet allerdings auf die Möglichkeit, kritisch wie selbstkritisch die Frage nach der Eigenbeteiligung selbst der engagiertesten Flüchtlingshelfer zu stellen. Als vor Jahren die "Karawane für die Rechte von Flüchtlingen und Migranten", bestehend aus Menschen, die am eigenen Leib erfahren hatten, was es heißt, der katastrophalen Lage in den afrikanischen Ländern durch die lebensgefährliche Flucht in das abgeschottete Europa entrinnen zu wollen, hatte ihr Slogan gelautet: "Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört."

Die Veranstaltungsstätte - Werkstatt 3 in Hamburg-Altona - © 2011 by Schattenblick

Die Veranstaltungsstätte - Werkstatt 3 in Hamburg-Altona
© 2011 by Schattenblick

Anmerkungen:

[1] Nähere Informationen zu den genannten Organisationen:
borderline-europe - Menschenrechte ohne Grenzen - www.borderline-europe.de
Forschungsgesellschaft Flucht und Migration, Berlin - www.ffm-berlin.de
Flüchtlingsrat Hamburg e.V. - www.fluechtlingsrat-hamburg.de
Afrique-Europe Interact (AEI) - www.afrique-europe-interact.net

[2] Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Hessischen Landtag forderte ihre Landesregierung auf, auf der Innenministerkonferenz eine Initiative für die Aufnahme von Flüchtlingen aus Notlagen wie im Zuge der Umbrüche in den arabischen Ländern zu schaffen. In der Bremer Bürgerschaft hat die Fraktion DIE LINKE vor einem Monat einen Antrag zur Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Maghreb eingereicht.

[3] "Der Leopard", von Giuseppe Tomasi di Lampedusa, Piper Verlag München, 17. Auflage Oktober 2001, S. 33

9. Dezember 2011