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BERICHT/031: Aufbruchtage - Kapital gezähmt ... (SB)


Die Eurokrise im Kontext des imperialistischen Projekts EU

Podiumsdiskussion an der Universität Leipzig am 3. September 2014



Die Eurokrise mit ihren in der jüngeren europäischen Geschichte beispiellosen Elendsfolgen konfrontiert jeden Entwurf einer Gesellschaftsveränderung mit grundsätzlichen Fragen, denen sich auch die Degrowth-Bewegung um ihrer Stoßrichtung willen nicht verschließen kann. Will man zu strategischen Konsequenzen vordringen, bedarf es zunächst einer fundierten Analyse der Europäischen Union und der Gemeinschaftswährung Euro, da Schlußfolgerungen andernfalls einem Herumirren im Beschuß ideologischer Nebelkerzen glichen. Wie sich belegen läßt, ist die Idee eines vereinten Europa sehr viel älter als ihre letztendliche Umsetzung und hat frühzeitig Kritik auf den Plan gerufen, die angesichts ihrer bemerkenswerten Schärfe und Weitsicht bis heute nichts an Aktualität und Brauchbarkeit eingebüßt hat.

So verwirft Marx in seiner Kritik des Gothaer Programms [1] 1875 die Vorstellung Lasalles, einen europäischen Friedensbund zu gründen, als Fehlschluß. Es gehe der Arbeiterbewegung nicht um die Zusammenarbeit der Bourgeoisien, sondern die gegenseitige Unterstützung im Kampf gegen die jeweilige nationale Bourgeoisie. Zudem legt er dar, daß es stets eine ungleiche Entwicklung der Staaten geben wird, weil die Produktionsverhältnisse verschieden weit entwickelt sind und die Stärke der Klassenkämpfe in den einzelnen Ländern variiert.

Auch Lenin weist darauf hin, daß der Gedanke einer europäischen Einigung als Abwehrbündnis gegen andere Großmächte bereits im 19. Jahrhundert existierte, und er unterstreicht 1916 [2] sinngemäß: Das vereinigte Europa ist unter kapitalistischen Gesellschaftsverhältnissen entweder eine Illusion oder reaktionär. Weder gebe es die Möglichkeit eines ungebrochenen Aufschwungs noch die einer gleichmäßigen Entwicklung der Ökonomien aller beteiligten Staaten.

Nachdem der Versuch führender europäischer Mächte wie insbesondere Deutschlands, die Vereinigung des Kontinents unter ihrer Vorherrschaft mit militärischen Mitteln zu erzwingen, in zwei Weltkriegen gescheitert war, bediente sich der nächste Anlauf zwangsläufig einer anderen Signatur und Vorgehensweise. Das Streben europäischer Eliten, im weltweiten Konkurrenzkampf den Ton anzugeben, setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg in der Warnung fort, Europa dürfe nicht zum bloßen Anhängsel der USA werden. Protagonisten des vereinten Europa vertraten die Auffassung, daß erst diese Integration den Frieden auf dem Kontinent sichere und der Nationalstaat endgültig der Vergangenheit angehöre. In den 1980er Jahren waren es zunächst die OPEC-Staaten und wenig später der Aufstieg Japans, welche die europäischen Untergangsängste befeuerten. Als schärfste Rivalen werden heute neben den USA auch China, Indien und Brasilien genannt, wobei deutlich zutage tritt, daß der bröckelnde Zusammenhalt der EU mittels eines äußeren Feindbildes neu verschweißt werden soll.

Bei der europäischen Integration ging es nie um die Verhinderung von Kriegen, sondern vielmehr eine westeuropäische Nachkriegsordnung unter Regie der USA im Zeichen der Blockkonfrontation. Die Friedensrhetorik bezeichnet einen Gründungsmythos im deutsch-französischen Verhältnis, der angesichts des Strebens nach einer gemeinsamen europäischen Verteidigungspolitik, der Aufstellung mobiler Eingreiftruppen und militärischer Einsätze auf drei Kontinenten als widerlegt gelten darf. Die Europäische Verteidigungsagentur (EDA) koordiniert die Rüstungspolitik, der Lissabon-Vertrag verpflichtet die Mitglieder, ihre militärischen Fähigkeiten zu verbessern. Die Friedensideologie deklariert die Kriege in Jugoslawien und Afghanistan, im Irak, in Libyen, Syrien und der Ukraine zu humanitären Interventionen und Wahrnehmung der Schutzverantwortung um.

Die zweite große Legitimationsideologie der EU war das Wohlstandsversprechen, das noch in der Lissabon-Agenda vom März 2000 in der Formulierung des strategischen Ziels gipfelte, die Union zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen, der dauerhaft Wachstum, Arbeitsplätze und sozialen Zusammenhalt garantieren werde. Heute befindet sich die EU in der tiefen Krise, die Arbeitslosigkeit wächst auf hohem Niveau und die Peripherie versinkt im Elend. Die Verschuldung der Mitgliedsstaaten ist erheblich gestiegen, und die Gegensätze zwischen Kerneuropa und den Rändern im Osten und Süden nehmen dramatisch zu.

Transparent auf Degrowth-Demo 'Refugees Welcome' - Foto: © 2014 by Schattenblick

Gegen die mörderische Flüchtlingsabwehr der EU
Foto: © 2014 by Schattenblick


Der Euro als Garant sicheren Kapitalexports

Um zu verstehen, welche Bedeutung dem Euro in diesem Kontext zukommt, ist es hilfreich, sich mit der von Marx unter Konzentration und Zentralisierung des Kapitals beschriebenen Monopolisierung zu befassen. Diese setzte mit Beginn des 20. Jahrhunderts in Nordamerika und Deutschland ein, wo sie das Finanzkapital hervorbrachte. Hilferding legte dazu 1910 [3] ein bahnbrechendes Werk vor, auf das sich auch Lenin 1916 [4] ausdrücklich bezieht. Hilferding führt die Abhängigkeit der Industrie von den Banken auf die Eigentumsverhältnisse zurück: Ein wachsender Teil des Industriekapitals gehört nicht den Industriellen, die vielmehr von der Bank Verfügung darüber erhalten. Es handelt sich um einen Übergang von der Herrschaft des Kapitals schlechthin zur Herrschaft des Finanzkapitals.

Während für den Kapitalismus der freien Konkurrenz der Export von Waren kennzeichnend war, ist unter der Herrschaft der Monopole der Export von Kapital charakteristisch für den Imperialismus. Unter Kapitalexport versteht Hilferding die Ausfuhr von Wert, der dazu bestimmt ist, im Ausland Mehrwert zu schaffen. Dieser verbleibt also unter der Verfügung der inländischen Geldgeber, die entweder Geldkapital verleihen oder es in Produktionsstätten im Ausland anlegen.

Die Triebfeder des Kapitalexports ist bei Hilferding die unterschiedliche Profitrate in den verschiedenen Ländern. Das Leihkapital sucht Standorte mit billigerer Arbeitskraft, deren geringere Qualität durch längere Arbeitszeit ausgeglichen wird. Hinzu kommen weitere Vorteile wie niedrige Bodenpreise. Lenin sagt fast übereinstimmend: "Solange der Kapitalismus Kapitalismus bleibt, wird der Kapitalüberschuß nicht zur Hebung der Massen in dem betreffenden Land verwendet, denn das würde eine Verminderung der Kapitalisten bedeuten."

Der Euro wurde geschaffen, um den Kapitalexport zu erleichtern und abzusichern. Entscheidend ist dabei, daß nach der Einführung des Euro nicht mehr auf- und abgewertet werden kann. Die so hergestellte Stabilität ist außerordentlich bedeutsam für das Finanzkapital, weil Kreditkontrakte aufgrund ihrer langen Laufzeiten und kleinen Gewinnmargen von Wechselkursschwankungen besonders betroffen sind. Länder wie Griechenland, Spanien, Portugal und Italien müßten eigentlich stark abwerten, weil ihre Industrien einen erheblichen Produktivitätsrückstand gegenüber den mitteleuropäischen Staaten aufweisen. Da ihnen diese Möglichkeit, die eigenen Exportchancen zu verbessern, jedoch unter dem Euro verwehrt ist, bleibt ihnen nur die Möglichkeit einer internen Abwertung, also den Staatshaushalt wie insbesondere die Renten, Löhne und Sozialleistungen zu kürzen.

Da in Deutschland die Sozialleistungen für zu hoch erachtet wurden und sich die Profitbedingungen im Ausland sehr viel günstiger gestalteten, führte dies zu einem enormen Anstieg des Kapitalexports. Als die Bundesrepublik Ende 1998 der Eurozone mit einem zu hoch festgesetzten Umtauschkurs beitrat und dadurch die Exporterlöse niedriger ausfielen, heizte das die Debatte um zu hohe Löhne und Sozialausgaben weiter an. Da die Währung nicht mehr abgewertet werden konnte, schuf man einen Ausgleich durch eine interne Abwertung in Gestalt der Agenda 2010, die eine massive Senkung der Löhne und Sozialkosten beinhaltet.

Im Gefolge der 2007 einsetzenden Krise kam es durch die Pleiten in zahlreichen Peripherieländern wie auch in Island und Irland zu enormen Verlusten durch Zahlungsunfähigkeit. Zwar wurden Staaten durch Rettungspakete vor der Pleite bewahrt, doch gingen Unternehmen und Privatleute massenhaft in Konkurs. Man rechnet mit 600 Milliarden Euro, die deutsche Kapitalgeber dadurch im Ausland verloren haben. Dennoch setzt sich der Kapitalexport in erheblichem Umfang fort, da die Konzentration des Kapitals in der Krise zugenommen hat und nun andere Länder wie insbesondere China, Brasilien, Südafrika, Rußland und Indien gewählt werden, solange man sie für sicher hält.

In den Defizitländern waren die Kapitalzinsen in der Zeit des Booms gesunken. Man lockte Investoren mit niedrigen Zinsen, und auch die Staatszinsen sanken mit dem Euro deutlich. Diese Quelle versiegte jedoch in der Krise fast über Nacht, und das abrupte Ausbleiben der Kapitalimporte wirkte sich in den Peripherieländern zwangsläufig verheerend aus. Die Zinsen für Staatspapiere stiegen rasant, Griechenland, Irland, Portugal und Zypern wurden von privaten Kapitalgebern abgekoppelt. Geld wurde nur noch mit deutlich höheren Zinsen gegeben. Es folgten Rettungspakete seit Mai 2010 für Griechenland, dann kam die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF), dann der europäische Stabilitätsmechanismus (ESM), also die mit viel Geld ausgestatteten Rettungsschirme und Finanzierungsinstrumente für schwach gewordene Euro-Länder.

Damit waren strikte Vorgaben verbunden, die diesen Ländern in Gestalt der sogenannten Memoranden auferlegt wurden. Sie sollen wieder wettbewerbsfähig werden, sich also für die Kapitalmärkte attraktiv machen, indem man diesen hohe Profite verspricht und die Arbeits- und Sozialkosten absenkt. Hatten Teile der deutschen Politik anfangs gefordert, die Defizitländer nach einer gewissen Frist aus der Eurozone zu werfen, so kam es seit Anfang 2012 zu einer Kursänderung hin zu deren unbedingtem Erhalt. Seither setzt Kerneuropa unter Führung Deutschlands auf die Strategie, die Zahlungsfähigkeit der Defizitländer durch Einrichtung der Rettungsfonds aufrechtzuerhalten und Austritte aus der Eurozone zu verhindern, um nicht dann zu erwartende Abwertungen des Kapitals zu erleiden. Zugleich nutzt man die Schwäche der Defizitländer zur Durchsetzung deutscher Hegemonie und strebt die Schaffung einer Wirtschafts- und politischen Union an, um die demokratischen Entscheidungsmöglichkeiten der Parlamente in den Peripheriestaaten auf Dauer auszuschalten.

Der deutsche Imperialismus hatte sich insofern für die Krise gerüstet, als die Niedriglohnpolitik im Innern Teile der Bevölkerung befriedete und andere zur Wehrlosigkeit ausgrenzte, während nach außen die Peripherie ausgebeutet wurde. Die in der Gewerkschaftsbewegung hegemonialen Teile der Arbeiterschaft, also vor allem die unbefristet Beschäftigten der Großbetriebe, glaubten gut durch die Krise zu kommen, solange sie stillhielten. Unter dem Schirm deutscher Hegemonie lebt es sich auch nach dem Ende des Sozialstaats immer noch besser als in Griechenland, so die Überlebensmaxime, die auf das bloße Versprechen belohnter Teilhaberschaft setzt.

Völkerschlachtdenkmal in Leipzig - Foto: © 2014 by Schattenblick

Unabgegoltenes Erbe der Nationalstaatenkonkurrenz
Foto: © 2014 by Schattenblick


Den Teufel mit dem Beelzebub austreiben?

Angesichts der Eurokrise nach mehr Europa zu rufen oder eine soziale EU zu fordern, verkennt den grundsätzlichen Charakter dieses Zusammenschlusses und geht den Bestrebungen auf den Leim, die Austeritätspolitik zu verstetigen. Die EU ist kein supranationaler Staat, sondern vielmehr ein administratives Konglomerat überstaatlicher Institutionen, geschaffen von den führenden nationalen Bourgeoisien zur Beförderung ihrer Interessen nach innen und außen.

Der Ruf nach einer Zügelung der Spekulanten und Banken wie auch die Unterscheidung von "gutem" produktiven und "schlechtem" Finanzkapital greift zu kurz. Alles Kapital kennt nur einen Zweck, nämlich seine Erhaltung und Vergrößerung, also die Verwertung von vorgeschossenem Wert. Das ist der Charakter des Kapitals, wo immer es angelegt wird. Folglich richtet sich die Kritik gegen sämtliche Kapitalsorten, in deren Zusammenwirken das Kapitalverhältnis besteht. Hinter diese Kritik der Politischen Ökonomie sollte man nicht zurückfallen. [5]

Podium zur Eurokrise - Foto: © 2014 by Schattenblick

Giorgos Velegrakis, Steffen Lange, Nicola Bullard, Tadzio Müller
Foto: © 2014 by Schattenblick


Degrowth-Bewegung sucht Antworten auf die Eurokrise

Im Rahmen der Degrowth-Konferenz an der Universität Leipzig war ein Podium dem Thema "Antworten auf die Eurokrise: Strategien für die Degrowth-Bewegung" gewidmet. Unter Moderation von Dr. Tadzio Müller (Rosa-Luxemburg-Stiftung) diskutierten Giorgos Velegrakis (Harokopio Universität Athen), Steffen Lange (Konzeptwerk Neue Ökonomie) und Nicola Bullard (Fellow RLS), eine langjährige Aktivistin in Fragen der Klimagerechtigkeit des alternativen Wachstums.

Tadzio Müller eröffnete die Debatte mit der Frage, ob es sich angesichts der dramatisch schrumpfenden Wirtschaft in der Eurokrise bei Degrowth womöglich um einen Entwurf des globalen Nordens handle, der für die süd- und osteuropäischen Länder, um so mehr aber für die noch ärmeren Weltregionen nicht relevant sei. Was sage man einem griechischen Genossen, dessen Einkommen sich unter der Krise um ein Drittel verringert hat? Wie gehe man mit der Rezession um, die das Bruttosozialprodukt Griechenlands um ein Viertel sinken ließ? Und könnte die Krise andererseits ein Transformationspotential bergen?

Wie Steffen Lange hervorhob, sei die Rezession an der Peripherie der EU natürlich kein Wachstumsrückgang, wie er der Degrowth-Bewegung vorschwebe. Diese strebe Degrowth by design und nicht Degrowth by desaster an. Es könne keinesfalls darum gehen, auf Grundlage der bestehenden Ökonomie das Wachstum zurückzufahren. Lange ging in einem kurzen Abriß auf den Verlauf der Eurokrise ein, den er ausgehend von den Ungleichgewichten des Handels über die Rezession im Gefolge der Finanzkrise bis hin zur Bankenrettung skizzierte. Unter den Auflagen der Troika aus EU, IWF und EZB mußten Länder wie Griechenland die öffentlichen Ausgaben und die Produktionskosten massiv senken, was zu den bekannten Elendsfolgen führte, die Ungleichheit verschärfte und die Rezession angesichts fehlender Binnennachfrage vertiefte. Diese politischen Maßnahmen seien nur in geringem Umfang demokratisch legitimiert und von keiner Umweltagenda begleitet gewesen.

Der Referent formulierte vier Forderungen, die an einen "sozial, demokratisch und ökologisch vernünftigeren Umgang mit der Krise" zu stellen seien. Zum ersten sei eine Umverteilung durch Besteuerung hoher Einkommen und großer Unternehmen, durch Reduzierung der Arbeitszeit und damit Erhöhung der Lohnkosten in Ländern wie Deutschland und durch Einschränkung der Steuerflucht geboten. Zweitens gelte es demokratische Institutionen auf EU-Ebene zu stärken und Finanzmärkte wie auch die Finanz- und Wirtschaftslobby zu kontrollieren. Als dritte Forderung nannte Lange eine Politik der Suffizienz, nämlich Umweltverträglichkeit durch Reduzierung der Arbeitszeit, Umweltsteuern auch auf EU-Ebene und Investitionen auf umweltintelligente Weise. Viertens seien lokale Ökonomien zu stärken, was jedoch nicht in Nationalismus umschlagen dürfe.

Auf die Frage Tadzio Müllers, welche Position die Degrowth-Bewegung zum Projekt der EU einnehmen sollte, erwiderte Steffen Lange, daß die ökonomische Integration in Europa weit fortgeschritten sei, die politische Einheit jedoch weit hinterherhinke. Es gelte die politische Integration zu fördern wie auch in Deutschland die soziale und ökologische Bewegung zusammenzubringen, also Gewerkschaften, Umweltorganisationen und soziale Projekte einzubinden.

Giorgos Velegrakis mahnte Degrowth im Sinne einer politischen Praxis an, die der kapitalistischen Wirtschaftsweise gefährlich werde. Das sei nur möglich, wenn man die Machtstrukturen konfrontiere und die Eigentumsverhältnisse transformiere. Dazu müsse man die Kämpfe auch über die lokale Ebene hinaus analysieren und entwickeln. Griechenland befinde sich in einem historischen Stadium der Transformation, da der Einfluß der Memoranden auf die Arbeitsverhältnisse beispiellos, doch zugleich auch die Auswirkungen der tagtäglichen Kämpfe und zahlreichen Generalstreiks auf die Politik hervorzuheben seien. Dieser politische Kontext habe eine Dynamik extremer Positionen der Linken und Rechten hervorgebracht.

Seit 2009 habe der Landkauf rapide zugenommen, was zu erheblichen Steigerungen der Bodenpreise führte. Spekulanten und Investoren fanden ein lukratives Feld vor, da die rechtlichen Grundlagen geändert wurden und Griechenland den Status eines Protektorats annahm. Neue Fonds trieben die Privatisierung und Enteignung von Grund und Bodens voran.

Demgegenüber hätten sich zahlreiche Sozial- und Umweltbewegungen gebildet, so der Referent. Der Protest in den Städten habe die Machtstrukturen zeitweise erschüttert und der Entfremdung im kapitalistischen Alltag entgegenwirkt. Es seien neue Räume einer politisch-ökologischen Transformation geschaffen worden. Zugleich existierten genuine Umweltbewegungen wie etwa jene gegen die Goldförderung in Chalkidiki. Auch seien Modelle des Kampfs entwickelt worden, die Erfolge auf politischer Ebene erhoffen ließen. Wie Giorgos Velegrakis hinzufügte, spreche die Degrowth-Bewegung viel über die Was-Frage, müsse sich aber künftig stärker der Wie-Frage zuwenden. Macht spiele nach wie vor eine wesentliche Rolle, was auch für politische Parteien und Institutionen gelte, deren Ebene einzubeziehen sei. Politische Transformation sei ein umfassender Prozeß, der insbesondere die sozialen Bewegungen vereinige.

Nicola Bullard ging in ihren Ausführungen auf die Frage ein, was europäische Bewegungen von jenen in anderen Weltregionen lernen können. Sie hat 15 Jahre in Thailand gelebt und mit einer Organisation zusammengearbeitet, die Kampagnen zu Fragen von Land, Wasser und Energie durchgeführt und diese lokalen Kämpfe mit der internationalen Ebene verknüpft hat. Die Referentin erinnerte daran, daß es für die aktuellen Ereignisse in Europa viele Vorbilder anderer Länder gebe, die durch neoliberale Politik strukturangepaßt und in die globalisierte Ökonomie gezwungen wurden. Zwei Jahre nach der asiatischen Finanzkrise von 1997 sei in zahlreichen Ländern des Südens praktiziert worden, was man heute in Griechenland erlebe.

In allen betroffenen Ländern des Südens hätten sich starke Protestbewegungen gebildet, die die verantwortlichen Institutionen klar identifizierten. Eine derart explizite Benennung fehle im europäischen Kontext häufig, so daß man vor einer undurchschaubaren Struktur zu stehen scheine. Allerdings gebe es im Süden kaum Beispiele für eine Überwindung des Neoliberalismus, da die betroffenen Länder in aller Regel ihre Schulden zurückzahlen, sofern und sobald sie das können. Immerhin seien in Indonesien die langjährige Diktatur Suhartos oder in Argentinien mehrere Regierungen binnen weniger Monate gestürzt worden. Grundsätzlich gebe es natürlich keine einfache Antwort, doch seien Basisbewegungen unverzichtbar, die starke Koalitionen hervorbringen und darüber politische Veränderungen herbeiführen können.

Die Deglobalisierungsbewegung habe bei lokalen Märkten und Gemeinschaften angesetzt, um von dort zu größeren Zusammenhängen fortzuschreiten. Es gehe ihr darum, Institutionen zu demokratisieren und eine größere Diversität herbeizuführen. Allerdings lasse die Deglobalisierung die Eigentumsfrage weitgehend unberührt und sei auch hinsichtlich der Ökologie schwach aufgestellt. Man finde jedoch eine beträchtliche Kontinuität in den Fragestellungen und Anliegen der Bewegungen, die sich aus unterschiedlichen Vektoren mit der Problemlage befassen. Vor der von Giorgos Velegrakis aufgeworfenen Wie-Frage stünden alle Bewegungen: Erst wenn wir uns bewegen, werden sich einige Antworten abzeichnen, so Nicola Bullard.

Auf dem Innenhof der Universität Leipzig - Foto: © 2014 by Schattenblick

Degrowth zwischen Licht und Schatten ...
Foto: © 2014 by Schattenblick


Degrowth navigiert zwischen Klippen und Untiefen

Wie auch in der anschließenden Diskussion deutlich wurde, befindet sich die Degrowth-Bewegung ungeachtet ihrer theoretischen Herkünfte, bereits geführten Diskussionen und umgesetzten Projekte noch im Prozeß des Auslotens ihrer Ziele und Mittel, Bündnisse und Grenzziehungen. Während die Antiglobalisierungsbewegung eher aktivistisch geprägt war, so daß ihr die Konfrontation mit der Staatsgewalt näher lag, speist sich Degrowth einerseits aus wissenschaftlichen Ansätzen und andererseits aus konkreten Projekten, die solche Ideen als Lebenspraxis umzusetzen versuchen. Ob es sich daher um eine Weiterentwicklung vorangegangener theoretischer wie praktischer Auseinandersetzungen oder im Gegenteil um ein Zurückweichen vor unbewältigten Problemstellungen handelt, muß sich noch erweisen.

An Klippen, die es dabei zu umschiffen, und Untiefen, die es zu meiden gilt, herrscht kein Mangel: Grüner Kapitalismus und neokeynesianische Kurzschlüsse, Notökonomie und Mangelregime, Reformismus im Dienst der herrschenden Verhältnisse und Rückzug in alternative Nischen. Als trügerisch können sich nicht zuletzt begriffliche Unschärfen erweisen, die in ein Programm verklausulierter Anpassungskonzepte zu münden drohen. Wenn etwa von Räumen der Transformation die Rede ist, klingt darin die Vorstellung eines Verwandlungsprozesses an, der auf nicht näher spezifizierte Weise den Übergang in die neue Gesellschaft anbahnt und herbeiführt. Dabei werden Widerspruchslagen unterschätzt und Herrschaftsverhältnisse ausgeblendet, was deren Überwindung zwangsläufig obsolet macht.

Wie die Podiumsdiskussion zur Eurokrise vor Augen geführt hat, kommt die Degrowth-Bewegung beim Versuch, einen strategischen Umgang mit solchen Phänomenen und Verläufen zu entwickeln, nicht ohne analytische Schärfe bei der Untersuchung dieser Erscheinungsformen aus. Die Was-Frage läßt sich eben doch nicht gegen die Wie-Frage ausspielen, will man den Boden unter den Füßen nicht verlieren.


Fußnoten:

[1] Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, 1875. MEW 19:13-32

[2] W. I. Lenin: Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen.
Wladimir Iljitsch Lenin - Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band 22, 3. Auflage, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1960, Berlin/DDR. S. 144-159.

[3] Rudolf Hilferding. Das Finanzkapital. Eine Studie zur jüngsten Entwicklung des Kapitalismus. Wien: Verlag der Wiener Volksbuchhandlung Ignaz Brand Co.; 1910.

[4] W. I. Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus - Gemeinverständlicher Abriß. Lenin-Werke Band 22, 3. Auflage, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1960, Berlin/DDR, S. 189-309

[5] Zum Thema Euro und EU siehe auch:
Tagung "Brauchen wir eine Alternative zu Euro und EU?" am 30. November 2013 im Kulturzentrum ZAKK in Düsseldorf

http://www.schattenblick.de/infopool/europool/report/eurb0010.html
http://www.schattenblick.de/infopool/europool/report/eurb0011.html
http://www.schattenblick.de/infopool/europool/report/eurb0012.html
http://www.schattenblick.de/infopool/europool/report/eurb0013.html


Bisherige Beiträge zur Degrowth-Konferenz in Leipzig im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT:

BERICHT/028: Aufbruchtage - Brauch- und Wuchskultur auf die Gegenspur ... (SB)
BERICHT/029: Aufbruchtage - Schuld und Lohn ... (SB)
BERICHT/030: Aufbruchtage - Umkehr marsch ... (SB)

7. Oktober 2014