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BERICHT/076: Das Anti-TTIP-Bündnis - Freiheit säen, utopisch ernten ... (SB)


Gegen Freihandelsabkommen und darüber hinaus

TTIP Strategie- und Aktionskonferenz in Kassel


"There Is An Alternative - demokratiekonformer Markt statt marktkonforme Demokratie!" - die Demokratie nicht dem Markt zu unterwerfen, sondern das Marktgeschehen demokratisch zu gestalten, war die erklärte Absicht der Aktivistinnen und Aktivisten, die das Abschlußpodium auf der TTIP Strategie- und Aktionskonferenz in Kassel besetzten. Ob es sich hierbei um eine nach vorne offene Entwicklung oder eher um die berühmte Schlange, die sich in den Schwanz beißt, handelt, wurde an dieser Stelle nicht diskutiert. Einig war man sich allemal in der Absicht, TTIP und andere Freihandelsabkommen zu stoppen, weil sie, wie immer der Status quo sogenannter Marktdemokratien auch bewertet werden mag, auf jeden Fall eine Verschlechterung herrschender Verhältnisse darstellen.


Nelly Grotefendt, Mónica Vargas, Moderatorin Clara Buer, Melinda St. Louis, Sven Hilbig - Foto: © 2016 by Schattenblick

Abschlußpodium "There Is An Alternative"
Foto: © 2016 by Schattenblick

Die aus den USA angereiste Aktivistin und Vertreterin der Organisation Public Citizen, Melinda St. Louis, hatte bereits in ihrer Keynote Adress am Morgen des zweiten Tages der Konferenz davor gewarnt, die von den diversen Freihandelsabkommen ausgehende Bedrohung auf die leichte Schulter zu nehmen. In ihrem kurzen Rückblick auf das Zustandekommen des North American Free Trade Agreement (NAFTA) schilderte sie, wie sich die vielen Versprechungen, mit denen das 1994 in Kraft getretene Handelsabkommen beworben worden war, in ihr Gegenteil verkehrten. In die Geheimverhandlungen zu NAFTA waren 500 bis 600 offizielle Handelsberater eingebunden, die zu 90 Prozent die Interessen großer Konzerne und Handelsverbände vertraten, und nur sie hatten Zugang zu dem Text des Vertragsentwurfs.

In den ersten zehn Jahren der Nordamerikanischen Freihandelszone verschwanden in den USA eine Million Jobs. Einer von vier Arbeitsplätzen in der Industrie wurde ins Ausland ausgelagert, viele gut bezahlte Stellen wurden durch billige Dienstleistungsjobs ersetzt und die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften wurde weitgehend gebrochen. In der Summe haben nicht nur viele US-Amerikaner durch NAFTA eine Verschlechterung ihres Lebensstandards erfahren, sondern auch in Mexiko veränderten sich die Lebensverhältnisse zum Schlechteren. So hat der Import von hochsubventioniertem Mais aus den USA zur Landflucht von zwei Millionen Bauern geführt, und die Migration in die USA wuchs auf das Doppelte an.

Die Trans-Pacific Partnership (TPP), die nach sieben Jahren intensiver Geheimverhandlungen im Herbst 2015 abgeschlossen wurde und von den 12 Unterzeichnerstaaten nur noch ratifiziert werden muß, übertrifft laut Melinda St. Louis sogar die negativen Erwartungen, die die zuvor durchgesickerten Informationen ausgelöst hatten. Die Analyse des Vertragstextes zeigte, daß die Behauptung der Obama-Administration, man wolle das Schiedsverfahren ISDS (Investor-state dispute settlement) reformieren, gegenstandslos war. So habe man häufig Wort für Wort das gleiche Modell des ISDS, das bereits zu Angriffen transnationaler Unternehmen auf das öffentliche Gesundheitswesen und auf Umweltstandards geführt hat, reproduziert. Der Zugriff ausländischer Banken auf US-amerikanische Steuergelder wird erleichtert, Biotech- und Agrarkonzerne werden mehr Freiheiten bei der Verwendung genetisch modifizierter Nahrungsmittel zugestanden, Vorgaben für den Datenschutz werden geschwächt und die Monopolmacht von Pharmafirmen gestärkt.


Auf dem Podium - Foto: © 2016 by Schattenblick

Moderatorin Clara Buer, Melinda St. Louis, Sven Hilbig
Foto: © 2016 by Schattenblick

Melinda St. Louis geht davon aus, daß die Handelsverbände und Unternehmen in den USA nicht akzeptieren werden, wenn bei TTIP weniger für sie herausspringt als bei TPP. Durch den Abschluß der TPP-Verhandlungen sei die Durchsetzbarkeit von Ansprüchen unter Beweis gestellt worden, hinter die man nicht zurückfallen möchte. Das werde auch durch die intensive Geheimhaltung signalisiert, die in den USA trotz des Druckes der Öffentlichkeit und vieler Abgeordneter nicht einmal das geringe Ausmaß an Transparenz erreicht habe, das die EU-Kommission der Öffentlichkeit zugestehe. So befürchten die TTIP-Gegner nicht nur, daß ihr Versuch, die in den EU höheren Auflagen des Umwelt- und Verbraucherschutzes auch in den USA zu realisieren, scheitern könnte. Sie gehen auch davon aus, daß die kleinen Verbesserungen bei der Regulation des US-Finanzmarktes, die nach Ausbruch der Krise 2008 beschlossen wurden, durch das aggressive Lobbying europäischer Banken wieder zurückgenommen werden könnten. Für akut gefährdet hält die Aktivistin auch die in den USA sehr populäre Buy local-Politik, die es gestattet, im Rahmen öffentlicher Beschaffungsmaßnahmen auf Bundes-, Staats und Kommunalebene Steuergelder lokal zu reinvestieren, um lokale Jobs zu schaffen.

Daher appellierte Melinda St. Louis an die europäischen TTIP-Kritiker, die transatlantische Kooperation im Widerstand gegen TTIP auszubauen. In Europa könne man auf die Solidarität der US-Zivilgesellschaft vertrauen, die nach dem bislang erfolglosen Kampf gegen TPP nun um so intensiver versuchen wird, TTIP zu verhindern. Zu diesem Zweck führe man zum einen sehr konzentrierte örtliche Kampagnen durch, bei denen sich die Aktivistinnen und Aktivisten direkt an die lokalen Politiker und Abgeordneten richteten und überall Präsenz zeigten, wo diese auftreten. Zum andern würden Umfragen durchgeführt, um die Wirksamkeit der Aufklärung über Freihandelsabkommen zu überprüfen und die Kampagne auf spezifische Felder wie Arbeit, Nahrungsmittelsicherheit oder Gesundheitsversorgung zu fokussieren. Das Anti-TTIP-Bündnis sei sehr breit aufgestellt, denn es umfasse nicht nur Gewerkschaften und Umweltorganisationen, sondern auch Kirchen und Organisationen, die für die Rechte von Frauen, People of Colour und LGBT-Menschen eintreten. Nicht zuletzt gelte es, Druck auf die Präsidentschaftskandidaten auszuüben und über die Zeit des Wahlkampfes aufrechtzuerhalten, so Melinda St. Louis zum Schluß ihres mit viel Applaus bedachten Beitrags.


Auf dem Podium - Foto: © 2016 by Schattenblick

Sven Hilbig
Foto: © 2016 by Schattenblick

Für Sven Hilbig von Brot für die Welt gehen von TTIP und CETA ganz konkrete Bedrohungen für die Entwicklungsländer aus. So hätte ein zollbefreiter Warenverkehr zwischen der EU und den USA zur Folge, daß die Staaten des Globalen Südens beim Export ihrer Produkte in den EU- bzw. US-amerikanischen Wirtschaftsraum erhebliche Wettbewerbsnachteile erleiden würden. In Ländern wie zum Beispiel Bangladesch könnte dies zu einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts von zwei Prozent pro Kopf und damit zu einer drastischen Verschärfung der Armutsproblematik führen. Daran ändert auch die Prognose einiger Studien nichts, daß der durch den Freihandel initiierte Wachstumsschub in den westlichen Industriestaaten sich im wirtschaftlichen Nachgang auch positiv auf den Rest der Welt auswirken könnte, sei es durch einen Aufschwung im Tourismussektor oder durch eine verstärkte Nachfrage nach Ressourcen in den Ländern des Südens. Daß dies Hilbig zufolge immer mit Landvertreibung und Umweltzerstörung einhergeht und letzten Endes nur die Profite von Rohstoffkonzernen und einheimischen Eliten mehrt, werde dabei gerne verschwiegen. Auch widersprach Hilbig der Hoffnung, durch TTIP ließe sich der Welthandel zugunsten der Entwicklungsländer reformieren, da der anvisierte Investitionsschutz die Souveränitätsrechte der Staaten generell in Frage stelle.


Auf dem Podium - Foto: © 2016 by Schattenblick

Mónica Vargas
Foto: © 2016 by Schattenblick

Mónica Vargas vom Transnational Institute (TNI) und der Anti-TTIP Kampagne Catalunya plädierte dafür, die Menschenrechte an erste Stelle aller politischen Verhandlungen zu Fragen des internationalen Handels zu stellen. So finde man in Freihandelsabkommen niemals verbindliche Normen für den Schutz der Menschenrechte, wohl aber für die Durchsetzung von Unternehmensinteressen. Nicht zuletzt aufgrund des Engagements sozialer Bewegungen habe der Menschenrechtsausschuß der Vereinten Nationen gegen den Widerstand EU-europäischer Staaten eine Resolution zur Schaffung eines Vertrages beschlossen, der die Unternehmen zur Respektierung der Menschenrechte zwingt. Dies müsse allerdings auch für Staaten oder supranationale Institutionen wie IWF und EU gelten, die mit den Unternehmen kollaborieren.

In Spanien beteiligten sich die größten sozialen Bewegungen des Landes an der gegen CETA und TTIP gerichteten Kampagne. 126 Städte, darunter Barcelona, Sevilla und Valencia, sagten ebenso wie diverse Regionen Nein zu diesen Freihandelsabkommen. Abschließend rief Mónica Vargas die Anwesenden dazu auf, sich am internationalen Aktionstag zu TTIP und CETA am 5. November zu beteiligen.


Auf dem Podium - Foto: © 2016 by Schattenblick

Nelly Grotefendt
Foto: © 2016 by Schattenblick

Nelly Grotefendt vom Bündnis TTIP-Unfairhandelbar stellte fest, daß der zivilgesellschaftliche Widerstand gegen das Freihandelsabkommen auf lokaler, regionaler, bundesweiter und europäischer Ebene sowohl von der Zahl der Aktivistinnen und Aktivisten als auch von der Vielfalt der Bewegungen her ein bisher nie gekanntes Ausmaß erreicht habe. Die Menschen hätten angesichts der großen Herausforderungen begriffen, wie ungemein wichtig es ist, sich im Austausch kreativer Ideen zu neuen selbstorganisierten Bündnissen zusammenzuschließen. Auch wenn diese Form des zivilen Ungehorsams noch in den Kinderschuhen steckt, hat er dennoch den Mut und das Potential, sich den transnationalen Konzern- und Wirtschaftsinteressen in den Weg zu stellen und im gleichen Zuge eine demokratische, ökologische und sozial nachhaltige Handelspolitik zu fordern.

Es blieb der Aktivistin vom Orga-Team der Konferenz überlassen, daran zu erinnern, daß mit der Vielfalt und Größe der Bewegung viel erreicht wurde, so daß man es auch mit zukünftigen Herausforderungen aufnehmen könne, die über den Kampf gegen Freihandelsabkommen hinausgingen. Nelly Grotefendt wies damit auch auf die Unverzichtbarkeit persönlicher Kontakte und Gespräche hin, die in der neoliberalen, arbeitsteiligen und individualkonsumistischen Gesellschaft keineswegs mehr selbstverständlich sind. Insofern kann eine Bewegung wie diese im sozialen wie gesellschaftlichen Sinne mehr erreichen, als ihrem erklärten Anliegen auf den ersten Blick zu entnehmen ist.


Auf dem Podium - Foto: © 2016 by Schattenblick

Das Autorenteam der Abschlußerklärung
Foto: © 2016 by Schattenblick

Beendet wurde die Konferenz mit der Präsentation der Abschlußerklärung [1], zu der noch einige kleine Änderungsvorschläge aus dem Plenum eingebracht wurden, bevor ihr von den anwesenden Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Konferenz per Handzeichen zugestimmt wurde. Am 23. April wird das Anti-TTIP-Bündnis in Hannover anläßlich des Treffens von US-Präsident Obama und Bundeskanzlerin Merkel bei der Hannover-Messe streitbare Präsenz zeigen. Es ist eine gute und passende Gelegenheit, um der transatlantischen Achse der Kapitalmacht eine entsprechende Kooperation des sozialen Widerstandes entgegenzustellen.


Gruppenbild zum Abschluß der Konferenz - Foto: © 2016 by Schattenblick

Foto: © 2016 by Schattenblick


Fußnote:


[1] http://ttip-aktionskonferenz.de/abschlusserklaerung/


TTIP Strategie- und Aktionskonferenz in Kassel im Schattenblick
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BUERGER → REPORT:

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8. April 2016


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