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INTERVIEW/032: Lampedusa in Hamburg - Tor ohne Tür, Flüchtling A. Tchassei im Gespräch (SB)


Interview mit Affo Tchassei, Sprecher der Gruppe "Lampedusa in Hamburg", am 2. November 2013 im Informationszelt der Libyen-Flüchtlinge



Eine überraschend große Zahl an Menschen nahm am 2. November 2013 in der Hansestadt Hamburg an einer Großdemonstration für den Verbleib von rund 300 Flüchtlingen aus Afrika teil. Die Polizei spricht von 9.000, das Organisationsteam von 15.000 Teilnehmenden, die vom Hauptbahnhof durch die Innenstadt, um die Binnenalster herum und wieder zurück zum Kundgebungsplatz gezogen sind.

Porträt, aufgenommen abends vor dem Flüchtlingszelt - Foto: © 2013 by Schattenblick

Affo Tchassei
Foto: © 2013 by Schattenblick

Vielleicht geht die breite öffentliche Unterstützung der Gruppe der Flüchtlinge vor allem auf das zeitliche Zusammentreffen der Fernsehbilder von zahlreichen ertrunkenen Flüchtlingen vor Lampedusa und der erkennungsdienstlichen Behandlung von Flüchtlingen in der Hansestadt zurück, vielleicht ahnen die Menschen aber auch etwas Grundsätzliches, nämlich daß sich ihre eigene Lage viel weniger von der der Flüchtlinge unterscheidet, da es sich um die gleiche Administration handelt, die unter Berufung auf geltendes Recht Menschen auf die Straße setzt, ob sie aus Afrika stammen oder ob sie in Hamburg geboren sind.

Als sich im März 2011 der Bürgerkrieg in Libyen aufgrund der Luftangriffe der NATO-Staaten gegen die Regierungstruppen in einen Krieg unter internationaler Beteiligung wandelte, wurden die in dem nordafrikanischen Land arbeitenden, dunkelhäutigen Migranten verfolgt, umgebracht oder in Boote verfrachtet und aufs Mittelmeer hinausgetrieben. Söldner im Dienste des gestürzten Diktators Muammar al-Gaddafi sollen sie gewesen sein, lautete das pauschale Urteil.

60.000 Bootsflüchtlinge erreichten im Jahr 2011 Italien, woraufhin die Regierung ein Notstandsprogramm (emergenza nordafrica) auflegte. Ein sogenanntes Vestanet C3-Formular verlieh den Libyen-Flüchtlingen einen humanitären Aufenthaltstitel, nötigte sie aber auch dazu, die Flüchtlingsunterkünfte zu verlassen. Das Notstandsprogramm endete am 28. Februar 2013, so daß auch die letzten verbliebenen Flüchtlinge aus Libyen ihre Unterkünfte verlassen mußten. Einige von ihnen erhielten 500 Euro oder eine Bahnkarte auf die Hand mit der Aufforderung, Italien Richtung Norden zu verlassen. Man könne nichts mehr für sie tun, sie seien hier nicht erwünscht, wurde ihnen beschieden.

Hatten die Flüchtlinge ursprünglich gedacht, daß ihnen das von den italienischen Behörden ausgestellte Formular einen freien Aufenthalt in einem beliebigen EU-Mitgliedsland gestattet, wurden sie in Ländern wie Deutschland darüber aufgeklärt, daß sie sich a) nur im Schengen-Raum und b) nur für maximal drei Monate in einem anderen Land als Italien aufhalten durften.

Die Mitglieder der Gruppe "Lampedusa in Hamburg", etwa 300 an der Zahl, hatten bis April 2013 in den Winternotunterkünften für Hamburgs Obdachlose eine vorübergehende Bleibe gefunden, dann wurden die Einrichtungen geschlossen, und die Flüchtlinge saßen erneut auf der Straße. Zu den Betroffenen gehört Affo Tchassei, einer der Sprecher dieser Gruppe. Der 37jährige erklärte im Gespräch mit dem Schattenblick den Standpunkt der Flüchtlinge, ihre gegenwärtige Lage sowie ihre Hoffnungen und Ziele.


Schattenblick (SB): Der Hamburger Senat hat Ihnen das Angebot der "Duldung" unterbreitet, was anscheinend einige wenige aus der Gruppe von 80 Flüchtlingen, die in der St. Pauli Kirche untergekommen sind, angenommen haben. Auch die Kirchenleitung begrüßt das Angebot. Wie stehen Sie dazu?

Affo Tchassei (AT): Wir lehnen das Angebot der Duldung ab, weil das für uns keine Garantie ist, daß wir bleiben können. Das weiß der Senat ganz genau. Man will uns lediglich nötigen, daß wir uns einem behördlichen Verfahren überantworten, bei dem man uns noch leichter abschieben kann. Als wir das begriffen, lehnten wir das Angebot ab, da es unsere Lage verschlimmern würde.

Der Vorschlag des Senats wurde auch den Kirchenvertretern unterbreitet, aber selbst die erkannten nicht genau die Absicht dahinter. Deshalb wurden wir von ihnen aufgefordert, das Angebot anzunehmen. Wir könnten die Kirche verlassen und würden in Flüchtlingslagern untergebracht, hieß es. Aber wir betrachten das nicht als die richtige Lösung. Wir möchten Arbeitserlaubnisse zusätzlich zu unseren Dokumenten, damit es uns gestattet ist, zu arbeiten und uns ein Leben aufzubauen.

Schattenblick: Und was sagt der Hamburger Senat dazu?

AT: Er ignoriert unsere Papiere aus Italien. Wäre es anders, würde er nicht mit solchen Angeboten aufwarten, die keinen Sinn ergeben. Wir sind nicht hierhergekommen, um Asyl zu beantragen. Wir haben ja bereits die Dokumente und brauchen nun Unterstützung seitens eines der europäischen Länder, das wirtschaftlich stark ist und etwas unternimmt.

Nun ist eine Lage entstanden, in der es heuchlerisch ist zu behaupten, man könne nicht Italiens Zuständigkeit anerkennen. Wo bleibt da die europäische Solidarität? Die EU behauptet doch, sie sei genau darauf gegründet worden. Wo aber, bitte schön, ist die Solidarität der EU-Länder untereinander? Da kann doch was nicht stimmen.

Hat man erst einen näheren Einblick gewonnen, erkennt man, daß die Behörden nicht willens sind, uns als Flüchtlinge anzuerkennen und zu akzeptieren, daß wir keine Leute sind, die Scherereien machen. Das ist doch einfach zu begreifen, eine Anerkennung wäre ohne Gesichtsverlust möglich gewesen. Nun verlieren sie ihr Gesicht, denn die Bevölkerung begreift Schritt für Schritt, wie ihre Behörden ihnen den Rücken zukehren und behaupten, daß das nun mal Recht sei.

Rechts und links oberhalb des Demonstrationszugs hängen zwei Personen in den Bäumen, zwischen ihnen ein Plakat mit der Aufschrift 'Bleiberecht für alle' - Foto: © 2013 by Schattenblick

Aufsehenerregende Demonstration
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Das Angebot des Senats an Ihre Gruppe zielt anscheinend auf eine Spaltung. Wird die Gruppe in der Lage sein, den Zusammenhalt zu wahren, da sich einige womöglich von dem Angebot etwas versprechen könnten?

AT: Sehen Sie, das ist ein Irrtum, den ich bei vielen Menschen, auch unter den Deutschen, feststelle. Sie kennen die inneren Mechanismen des Senatsangebots nicht genau. Es gibt nicht die geringste Garantie für ein gutes Leben. Wir sollen unsere italienischen Dokumente, die wir zuvor erhalten haben, abgeben, und nach vielleicht ein, zwei Jahren der Duldung sagt man uns am Ende: 'Tut uns leid, wir können euch nicht aufnehmen.' Dann würden wir nicht nach Italien, sondern in unsere Herkunftsländer zurückgeschickt, weil wir ja nicht einmal mehr unsere italienischen Dokumente besäßen. Man treibt ein politisches Spiel mit uns.

SB: Da läßt sich kaum von einem Angebot sprechen.

AT: Genau, deswegen leben wir lieber auf der Straße. Aber sehen Sie nun die Menge an Leuten, die inzwischen über die Situation informiert ist und nein zu dem sagt, was der Senat macht. Also, noch einmal ganz deutlich: es existiert kein verbessertes Angebot seitens der Behörden. Man sollte uns eine Arbeitserlaubnis geben, dann könnten wir selber für unser Leben aufkommen. Wir müssen nicht unter ihrem Dach unter ihrer Aufsicht leben. Das ist etwas, das sie von uns wollen, aber das ist nichts, was wir brauchen.

SB: In Deutschland kennen nicht viele Leute die Verhältnisse in Libyen vor dem Sturz Muammar al-Gaddafis. Er hat selbstverständlich nicht uneigennützig gehandelt, aber er hat einiges für den Kontinent getan. Beispielsweise hat er die Afrikanische Union finanziert, einen Kommunikationssatelliten bauen lassen und manche Entwicklungsprojekte angeschoben. Wie haben Sie die Zeit erlebt?

AT: Sie müssen verstehen, daß wir Flüchtlinge aus Libyen aus verschiedenen afrikanischen Ländern stammen und schon teilweise Jahre zuvor nach Libyen gekommen waren. Damals strebte Muammar al-Gaddafi an, den afrikanischen Kontinent zu vereinigen, um die Hinterlassenschaften des Kolonialismus zu überwinden, und deshalb hieß Libyen Migranten aus den Nachbarländern willkommen. Ich habe sechs gute Jahre davon profitiert und für eine afrikanische Botschaft in Libyen gearbeitet. Können Sie sich ausmalen, was es bedeutet, erst für eine Botschaft zu arbeiten und dann in Hamburg auf der Straße zu landen?

SB: Darf ich fragen, für welche Botschaft Sie gearbeitet haben?

AT: Das möchte ich nicht sagen.

SB: Okay, das verstehe ich.

AT: Es ist wirklich eine Schande, wie die Europäer mit uns umgehen. Es gibt unter den Jungs hier viele Intellektuelle, viele Ingenieure und Techniker, die am Aufbau Libyens beteiligt waren. Da wir aufgrund der Eskalation des Kriegs aus dem Land geworfen wurden und hier in Hamburg angekommen sind, sollten die hiesigen Behörden das Problem lösen und es nicht ignorieren. Wie gesagt, durch ihre Ignoranz verlieren sie inzwischen ihr Ansehen.

In Italien hat man uns eine Aufenthaltsgenehmigung erteilt und gesagt, man werde nichts mehr für uns tun, die Finanzierung sei vorbei. Wir sollten uns davonmachen und ein anderes europäisches Land aufsuchen. Und wie werden wir hier behandelt!? Sollte das hier nicht eine Demokratie sein? Da läuft doch etwas gehörig schief.

Wir wollen nicht, daß die hamburgischen Behörden sagen, wir müssen jeden Fall einzeln, auf der Grundlage des jeweiligen Landes, behandeln. Denn wir sind überhaupt nicht direkt von unseren Herkunftsländern nach Europa eingewandert! Um es klipp und klar zu sagen: Wir wurden gezwungen, hierherzukommen.

SB: Würden Sie sich auf die vom Senat vorgeschlagene individuelle Prüfung der "Fälle" einlassen, besteht sicherlich das Risiko, daß einige der Gruppe in Herkunftsländer, beispielsweise Ghana, die als sicher angesehen werden, abgeschoben werden ...

AT: Nein, nein, halt, halt! Mit so einer Vorstellung wird die Heuchelei der Politiker fortgesetzt. Selbst Länder wie Ghana oder Nigeria sind nicht sicher. Sie müssen sich doch bloß fragen, warum die Leute diese Länder verlassen. Fragen Sie sich das. Blicken Sie nicht von außen auf das Geschehen, sondern betrachten Sie von innen her, was in diesen Ländern los ist. Die ärmere Bevölkerung ist Opfer der herrschenden Kräfte, aber auch des großen Drucks, der von Seiten des Westens auf die Führer dieser Länder ausgeübt wird. Die Staatseinnahmen reichen nicht für alle Einwohner. Also werden sie gezwungen, ihr eigenes Land zu verlassen. Jetzt zu behaupten, einige der Länder seien sicher, stimmt einfach nicht.

Sehen Sie, es werden auch die natürlichen Ressourcen unserer Länder ausgebeutet. Man schließt Verträge mit uns, setzt unsere Führer unter Druck, und wenn die sich weigern, entfachen sie einen Konflikt zwischen uns. Deshalb sollten wir aufhören, von "sicheren Ländern" zu sprechen. Kein Mensch ist glücklich darüber, wenn er die Koffer packen und sein Land verlassen muß.

SB: Vielen Dank für das Gespräch.

Großes, gemaltes Bild von Leichen, die im Meer treiben, und mit der Frage 'Why?' auf einem Demonstrationswagen - Foto: © 2013 by Schattenblick

Eine einfache Frage
Foto: © 2013 by Schattenblick

6. November 2013