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INTERVIEW/040: Flucht der Fremden - Macht hoch die Tür, das Tor reißt aus, Christian Schneider im Gespräch (SB)


Interview im Hamburger Museum für Völkerkunde am 20. November 2013



Am 20. November fand im Hamburger Museum für Völkerkunde unter dem Thema "Eines Rechtsstaates nicht würdig - Diskriminierung und Abschiebung der Roma und Sinti" die Auftaktveranstaltung des Menschenrechtssalons statt. Auf Einladung der Kirchlichen Hilfsstelle für Flüchtlinge "fluchtpunkt", des Ida Ehre Kulturvereins und des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins informierten Experten über den rechtlichen, historischen und politischen Hintergrund der Problematik. Zu ihnen gehörte auch der in Hamburg und Schwerin tätige Rechtsanwalt Christian Schneider, der sich in der Hamburger Stiftung Hilfe für NS-Verfolgte engagiert und jetzt am Aufbau der Kooperation zwischen Europarat und dem European Roma und Travellers Forum in Straßburg beteiligt ist. Nach der Veranstaltung nahm der Schattenblick die Gelegenheit wahr, ihm einige Fragen zu stellen.

Im Portrait - Foto: © 2013 by Schattenblick

Christian Schneider
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick: Herr Schneider, die Rede war heute abend von Menschlichkeit, aber auch von Politik, und des öfteren tauchte die Aussage auf: Das ist eine gewollte Politik von seiten Deutschlands und der Europäischen Union. In welchem Maße könnte man von einem Versagen der Politik sprechen oder muß man vielmehr von einer Interessenlage ausgehen, die diese Politik gezielt befördert?

Christian Schneider: Aus meiner Sicht ist Politik nichts, was irgendwie vom Himmel fällt, sondern Politik reagiert. Ich sage Ihnen mal ein Beispiel, das ich typisch finde, vielleicht kann man es daran erklären: Hamburg, die Lampedusa-Flüchtlinge, es sind so ungefähr 35, die sich jetzt beim Senat gemeldet haben, der natürlich keine Zusagen macht. Aber sie werden wahrscheinlich den Rechtsweg beschreiten und, solange das der Fall ist, einigermaßen sicher sein. Das wäre aus meiner Sicht nie passiert, wenn nicht die Öffentlichkeit die Politik genau dazu gezwungen hätte. Die allgemeine Moral ist meines Erachtens nicht vorhanden. Es gibt zwar politische Maßstäbe, das sind die Menschenrechte, aber wir haben es leider versäumt als Deutsche, aber auch als Europäer, diese Menschenrechte in den Balkan zu transportieren. Das kann man beklagen, aber das ändert nichts. Und deswegen, denke ich, trägt alles, was an Öffentlichkeit da ist und die Zustände beklagt, dazu bei, sie zu ändern. So ist das nun mal auf dieser Welt.

SB: Wir haben auch darüber gesprochen, daß deutsche Politik mit ihrer Beteiligung an den Balkankriegen maßgeblich zu der dortigen Vertreibung von Menschen beigetragen hat. Erwächst daraus nicht auch eine Verpflichtung für die deutsche Politik, dem Rechnung zu tragen, daß es sich um gewollte Eingriffe handelte, die zu Vertreibungen führten?

CS: Aus meiner Sicht ganz sicher, aber vor allem aufgrund unserer eigenen Geschichte. Nur ist das schwer zu vermitteln. Demzufolge, was ich von meinem Vater, meinen Eltern, der Kriegsgeneration erfahren und übersetzt bekommen habe, gibt es eine Verantwortung für das, was man als Staat macht, auch im Sinne des einzelnen Bürgers, im Sinne des Hinschauenmüssens, im Sinne des Einforderns. Wenn wir schon an diesem Krieg teilnehmen, dann müssen wir uns auch für die Konsequenzen verantwortlich fühlen. Das vermisse ich in der Tat, aber es vermissen offensichtlich nicht so viele, daß es die Politik bewegt. Ich könnte mir vorstellen, daß es schon anders aussähe, würden wir nicht den Kosovokrieg als Erfolg feiern. Ich weiß sowieso nicht, warum er ein Erfolg gewesen sein soll.

SB: In welchem Maße sind aus Ihrer Sicht die Roma eine besonders verfolgte Gruppe? Und gibt es Parallelen zu anderen Vertreibungen, anderen Verfolgungen in Europa?

CS: Natürlich sind sie eine besondere und auch eine besonders verfolgte Gruppe. Sie sind aus meiner Sicht vergleichbar mit der jüdischen Bevölkerung in Europa. Zwar hinken solche Vergleiche immer ein bißchen, aber ich glaube schon, daß es da Ähnlichkeiten gibt. Das betrifft zum Teil auch Übereinstimmungen in der Geschichte, denn in beiden Fällen haben diese Menschen in den jeweiligen Ländern kaum politische Karrieren gemacht, vielleicht mit Ausnahme des jüdischen Disraeli in England. Sie fühlten sich nicht unbedingt verantwortlich für das, was die Mehrheiten taten. Sie hatten auch keine Lust - so interpretiere ich es als Mehrheitsvertreter -, in ihren Ländern politische Weichen zu stellen. Das hat sich bei der jüdischen Bevölkerung zum Glück deutlich geändert, und ich hoffe, daß sich das auch bei der Roma-Bevölkerung ändert. Wenn Sinti und Roma selber auch politisch versuchen, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen, dann ist eine andere Stimme da, die uns Mehrheitsgesellschafter vielleicht eher bewegt.

SB: Es war heute auch die Rede vom Druck von unten, der notwendig sei, um etwas zu bewegen. In welchem Verhältnis steht dieser Druck von unten Ihrer Meinung nach zu Initiativen auf politischer Ebene?

CS: Der Druck von unten ist im Grunde das, was unsere Gesellschaft bewegt, und die Parteien kanalisieren diesen Druck. Ich halte dieses Modell immer noch für eines der besten, auch wenn es an jeder Ecke hakt. Und ich kann Ihnen Beispiele nennen: Seien wir doch mal ehrlich, wir als Männer würden auch heute noch im Stehen pinkeln, wenn wir in den 70er Jahren nicht von bestimmten Frauen in den Hintern oder sonstwohin getreten worden wären, und das haben dann politische Parteien übernommen. Jetzt reden wir über Quoten in Aufsichtsräten, das sind doch Entwicklungen, die kommen von unten, die werden aufgegriffen und dann irgendwann umgesetzt. Das ist meine Theorie, wie es funktioniert, und ob das nun richtig ist oder falsch, so glaube ich jedenfalls, daß es in der Menschenrechtspolitik nicht ganz verkehrt ist, so heranzugehen.

SB: Die europäische Abschottungspolitik korrespondiert offenbar mit der Stimmung in der Bevölkerung. Man erklärt, die Lage sei schwierig, die sozialen Verhältnisse würden enger, der Blick nach Griechenland, Portugal oder Spanien zeigt ein Schreckensszenario. Führt diese Entwicklung nicht dazu, daß man hierzulande das eigene relative Wohlergehen über alles stellt und die soziale Frage verstärkt gegen Flüchtlinge und andere Minderheiten kehrt?

CS: Ganz sicher, und ich gehe sogar noch einen Schritt weiter. Ich glaube, daß solche Ängste ernst zu nehmen sind. Ich denke allerdings, daß genau an dieser Stelle Politik die Wahrheit sagen müßte, und finde es einfach zum Kotzen, daß ein Roland Koch in den 90ern die Landtagswahl in Hessen mit der Parole gewonnen hat, er wolle keine weiteren Ausländer in seinem Land haben. Das ist Stammtischniveau, und diese - wie ein mir bekannter Roma so schön sagte - auf Hochglanz polierte Mittelmäßigkeit ist ernst zu nehmen mit ihren Ängsten. Dennoch muß ein Politiker, der Verantwortung für ein ganzes Land und damit auch für die Menschenrechte trägt, notfalls auch mal gegen diese Stammtischhoheit anreden, wenn er etwas positiv gestalten will. Wenn diese Stammtischhoheit nur noch gewinnt, dann haben wir eine Situation wie in der Schweiz in der Nazizeit, wo man irgendwann gesagt hat, jetzt nehmen wir aber keine Juden mehr auf - und das ist unerträglich.

SB: Es wäre wünschenswert, wenn ein breites Bündnis auch für die Roma eintreten würde. Gibt es aus Ihrer Sicht irgendwelche Grenzen, an denen Ihre persönliche Bündnisbereitschaft endet?

CS: Da ich nicht davon ausgehe, daß irgendwelche Leute vom rechten Rand uns unterstützen würden, habe ich keine großen Probleme mit Bündnissen. Ich sage Ihnen aber auch, daß wir in Hamburg über Erfahrungen auf diesem Gebiet verfügen. Im Jahr 1989 gab es diese Roma-Regelung, und ich werde nie vergessen, was damals in der Hafenstraße passierte, über die man jetzt Bücher schreibt. Da gab es eine wunderbare Sitzung mit den Unterstützern aus der Hafenstraße, also dem autonomen linken Spektrum. Auf dem Podium saß ein Roma, der abgeschoben werden sollte, und als er die roten Fahnen sah, fragte er: Kann ich die essen? Ich habe keine Berührungsängste mit den Unterstützergruppen, doch irgendwann steht man einfach vor der Frage, was man tatsächlich erreichen möchte. Will ich die Roma als Lumpenproletariat für die Speerspitze der zukünftigen Revolution nutzen oder geht es mir tatsächlich um die Menschen, denen man heute auf welche Weise auch immer helfen muß. Diese Frage stellt sich früher oder später unvermeidlich. Die Menschen, die andere unterstützen, müssen irgendwann für sich entscheiden, welchen Weg sie gehen.

SB: Herr Schneider, vielen Dank für dieses Gespräch.


Bisherige Beiträge zu "Flucht der Fremden" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT:

BERICHT/024: Flucht der Fremden - Mitverschuldet, fortverdrängt (SB)
INTERVIEW/038: Flucht der Fremden - Ratschlag ohne Folgen, Peggy Parnass im Gespräch (SB)

27. Dezember 2013