Schattenblick →INFOPOOL →BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT

INTERVIEW/056: Aufbruchtage - Hoffen auf den Neubeginn ...    Tadzio Müller im Gespräch (SB)


Schwelende Unsicherheit im Vorfeld kollektiver Praxis

Interview am 4. September 2014 in der Universität Leipzig



Der Politikwissenschaftler, Klimagerechtigkeitsaktivist und Übersetzer Dr. Tadzio Müller lebt in Berlin, wo er am Institut für Gesellschaftsanalyse (IfG) der Rosa-Luxemburg-Stiftung arbeitet. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Strategien des sozialen Umbaus in Bewegungen, die sich mit Fragen der Klimagerechtigkeit und der Energiewende in Deutschland auseinandersetzen.

Im Rahmen der Vierten Internationalen Degrowth-Konferenz, die vom 2. bis 6. September an der Universität Leipzig stattfand, moderierte Tadzio Müller die Podien "Antworten auf die Eurokrise: Strategien für die Degrowth-Bewegung" und "Klimagerechtigkeit und Degrowth: Gemeinsamkeiten, Widerstände und Alternativen". Zudem gehörte er zu den Referenten der Diskussionsworkshops "Nachgefragt! Brücken schlagen zwischen den Generationen 1/3" und "Wer hat Angst vor Postwachstum?"

Im Anschluß an den letztgenannten Workshop beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen zu dem Charakter von Degrowth, dem wachsenden Interesse an Wachstumskritik, dem Verlauf des Kongresses und der Interessenlage der überwiegend jüngeren Teilnehmerinnen und Teilnehmer.

Im Gespräch - Foto: © 2014 by Schattenblick

Tadzio Müller
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick: Die Konferenz erweckt vordergründig ein starkes Wir-Gefühl, aber wenn man nach Anhaltspunkten für eine wachstumskritische Bewegung sucht, stößt man ins Leere. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären?

Tadzio Müller: Mir ist in den letzten Tagen aufgefallen, daß ich mich immer bremse, sobald ich den Begriff wachstumskritische Bewegung verwenden will, weil ich unter Bewegung eben etwas anderes verstehe. Im klassischen, vielleicht auch linken Sinne beinhaltet Bewegung auch eine Form kollektiver Massenpraxis. Die sehe ich in der Wachstumskritik nicht. Meines Erachtens besteht sie aus einem Set von einerseits vor allem akademischen Diskursen und Narrativen und andererseits tendenziell eher am Individuum und an Kleinstgruppen ansetzenden Nischenpraxen, wobei ich letztere nicht abwerten will. Es handelt sich um Veränderungspraxen, die in Nischen oder kleinen Gruppen angesiedelt sind. Mein eigener Bewegungsbegriff beinhaltet neben der Idee der kollektiven Massenpraxis auch ein Verständnis von sich selbst als Kollektiv - der klassische marxistische Begriff des Für sich. Diese beiden Dinge gibt es in der Wachstumskritik noch nicht. Deswegen spreche ich eher von der Wachstumskritik als von einer wachstumskritischen Bewegung.

Für mich stellt die Konferenz den Versuch dar, kollektive Praxisfelder für die Wachstumskritik zu identifizieren. Ich habe an bestimmten Punkten fast schon das Gefühl eines Speed Datings gehabt, als ob sich die Wachstumskritik alle möglichen Bewegungen einlädt - was erst einmal völlig legitim ist - und zu ihnen sagt: Laßt einmal eure Vorschläge hören! Von den Care-Bewegungen über die Klimagerechtigkeit bis zur Globalisierungskritik war in den Workshops so ziemlich alles vertreten. Das ist auch verständlich, denn der aktuelle Diskurs erzielt eine breite Resonanz. Meine Kollegin in einem Workshop brachte dies auf den Punkt, als sie zu mir sagte: Es gibt all diese kleinen Initiativen, aber das Upscaling - größer, kollektiv und irgendwie auch effektiv zu werden -, das ist es meines Erachtens, wonach hier gesucht wird.

SB: Hat der Kongreß seine Funktion als Forum, auf dem sich die verschiedenen Leute, Gruppen und Bewegungsansätze begegnen und austauschen können, denn erfüllt?

TM: Ja durchaus, und zwar auf beeindruckende Weise. Es wurde ja die Zahl von 3000 Registrierungen kolportiert. Ein Organisator sagte mir, daß heute morgen schon 1900 Leute registriert worden sind. Darüber hinaus sind sicherlich ein paar hundert Leute einfach so rein- und rausgegangen. Nach meiner Schätzung sind im Augenblick rund zwei- bis zweieinhalbtausend Leute hier. Auch wenn darunter einige hundert Internationals sind, kommt man dennoch auf 2000 Leute aus Deutschland, die an einem Bewegungskongreß im weitesten Sinne teilnehmen. Das ist eine Riesenzahl, vor allem wenn man bedenkt, daß der letzte Kongreß dieser Art, "Jenseits des Wachstums?" in Berlin, der von Attac, der Heinrich-Böll-Stiftung, der Rosa-Luxemburg-Stiftung und anderen unterstützt wurde, schon eine ganze Weile her ist. So gesehen bin ich wirklich beeindruckt von der Konferenz, die in einem zweijährigen Organisationsprozeß von einem Kernkomitee auf die Beine gestellt wurde. Auch der Workshop, aus dem wir gerade kommen, verlief sehr erfolgreich, weil er mir die ganze Breite der verschiedenen Positionen und individuellen Ansätze in der Wachstumskritik zum ersten Mal sehr plastisch vor Augen geführt hat.

SB: Wie erklärst du dir das gestiegene Interesse an einem solchen Kongreß zur Wachstumskritik?

TM: Meines Erachtens hat das viel mit kollektiver Sozialpsychologie zu tun. Ich will dies einmal anhand eines Beispiels zwischen Klimagerechtigkeit und Wachstumskritik erläutern. Klimagerechtigkeit wird vor allem von Bewegungen und Diskursen aus dem Süden angetrieben, während die Wachstumskritik ein sehr nördliches Phänomen ist und eine entsprechende Resonanz erzeugt. Wenn ich meinem Großvater, der CSU-Mitglied ist, sage, daß es kein unendliches Wachstum auf unserem Planeten geben kann, dann versteht er das sofort. Das liegt unter anderem auch daran, daß in den Gesellschaften des globalen Nordens in den letzten fünf, sechs Jahren, vor allem aber seit der Krise von 2008 das Gefühl entstanden ist, daß wir einen Kippunkt überschritten haben.

So geht das Empfinden dahin, gar nicht mehr in einer Wachstumsgesellschaft zu leben, auch wenn es nach wie vor wirtschaftliches Wachstum gibt, aber die breite Masse der Bevölkerung kann dieses Wachstum für sich nicht mehr in ein besseres Leben übersetzen. Wir erkennen, daß es eine unglaubliche Hetze und Beschleunigung gibt, daß wir immer mehr machen müssen, um auf dem gleichen Punkt zu bleiben, was de facto schon ein Abstieg und Wegfall von Lebensqualität ist. Die subjektive Erfahrung ist, schon ins Postwachstum eingetreten zu sein. Ich glaube, die Leute sind hier, weil sie mit diesem Gefühl umgehen wollen.

Gestern saß bei unserem Klimagerechtigkeitspanel mit Nnimmo Bassey ein Genosse aus Nigeria mit auf dem Podium, der als der führende Intellektuelle der Friends of the Earth gilt. Obgleich er außerordentlich kompetent und ein sehr begabter Redner ist, waren kaum mehr als 120 Leute ins große Audimax gekommen. Hingegen waren die Panels oder Workshops, die in irgendeiner Form die persönliche Ebene reflektiert haben, proppenvoll. Ein anderes Beispiel dieser Art ist der Workshop der Rosa-Luxemburg-Stiftung, den Steffen Kühne und ich moderiert haben. Wir dachten, wir würden das Thema mit 20 oder 30 Leuten diskutieren, aber am Ende waren 80 Leute in dem kleinen Raum versammelt. Der Workshop hieß: "Wer hat Angst vor dem Postwachstum?" Wir haben Angst im Sinne einer strategischen Frage nach den Verbündeten und Gegnern in der wachstumskritischen Auseinandersetzung gemeint, aber die Leute haben das offenbar ganz persönlich aufgefaßt.

SB: In vielen Veranstaltungen der Traditionslinken findet sich beinahe nur die ältere Generation ein, so daß man sich schon freut, wenn drei oder vier Junge kommen. Zu diesem Kongreß sind dagegen sehr viele jüngere Leute erschienen. Woher resultiert dieses Interesse jüngerer Generationen?

TM: Ich glaube, das hat etwas mit der persönlichen Erfahrung zu tun. Ich bin jetzt 38 Jahre alt und wurde zum Workshop "Building Bridges between Generations" eingeladen. Offensichtlich zähle ich bereits zur alten Generation. Ich habe vor ein paar Monaten mit einem Freund gesprochen, der Ende 20 ist. Er hat mir klargemacht, daß jüngere Leute, die ein paar Jahre vor der Jahrtausendwende geboren wurden - im Englischen werden sie Millennials genannt - schon sehr privilegiert sein müssen, um das Gefühl zu haben, genauso gut oder besser in bezug auf Konsummöglichkeiten zu leben als ihre Eltern. Man muß schon aus einem sehr privilegierten Randstreifen der Gesellschaft kommen, um den Fortschrittsgedanken noch realistisch zu finden.

Das Los der Arbeiterinnen und Arbeiter hat sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts langsam verbessert. Von einem 12-Stunden-Arbeitstag ging es herunter auf einen Werktag mit acht Stunden. Es gab die Sozialgesetzgebung und so weiter. Der Fortschrittsgedanke kommt natürlich von der Aufklärung Mitte des 19. Jahrhunderts her und hat sich im besonderen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit dem Wirtschaftswunder vertieft. Darin hat man sich lange in der Sozialpsychologie eingegraben und eben von hinten heraus argumentiert, daß jede neue Generation besser als die vorangegangene leben wird.

Ich habe vorhin mit einer indischen Kollegin gesprochen, die mir erzählte, daß viele Menschen der sogenannten Scheduled Castes, die man früher die Unberührbaren nannte, was aber nicht ganz stimmt, richtig ist die unterdrückten Kasten, zu den linken Ökos sagen: Lebt ihr doch im Dschungel und wir ziehen in die Slums der Städte, weil wir wissen, daß unsere Familie in ein, zwei Generationen in die Mittelklasse aufsteigen wird. In vielen Ländern des globalen Südens, vor allem in den aufstrebenden BRICS-Staaten, ist der Kippunkt der Wachstumsgesellschaft zumindest gefühlt noch nicht erreicht. Hier im Norden herrscht das Gefühl vor, ihn erreicht zu haben, und das ist der Grund, warum viele, vor allem auch junge Leute zu dem Kongreß kommen, um zu fragen: Wie können wir uns ein schöneres Leben trotz weniger Wachstum vorstellen? Diese Frage treibt die Leute auf einer individuellen Ebene hierher.

SB: Für die früheren Generationen waren der Lebensstandard und die Renten, wenn man arbeitsfleißig war und sich nichts zuschulden kommen ließ, weitgehend gesichert. Die jetzige Generation dagegen ist die erste, die am eigenen Leibe spürt, daß die großen Versprechen der Sozialpolitik nicht mehr halten. Könnte aus dieser unzufriedenen Generation ein Protestpotential auch in bezug auf Fragen der Wachstumskritik erwachsen?

TM: Der Kollege Hans Thie hat das in seinem Vortrag auf die Frage zugespitzt: Wie politisiert man die schwelende Unsicherheit? Das wäre jetzt ein klassischer linker Ansatz, aber daneben gibt es eine reale individuelle Wahrnehmung, die auf einer materiellen Grundlage beruht. Vielleicht spielt die Ökokrise eine geringere Rolle, als man annehmen könnte, sie ist sicherlich nicht der alleinige Grund, warum die Leute das Gefühl haben, jenseits des Kippunktes zu sein. Das Ganze hat natürlich auch eine geopolitische Seite, da sich die Machtphase des globalen Nordens langsam dem Ende zuneigt. Auf jeden Fall gibt es eine individuelle Frage auf einer materiellen Basis. Und jetzt stellt sich die politische Frage, wie das verallgemeinert werden kann, wie daraus kollektive Praxisformen erwachsen können, die transformative Effekte haben. Dabei geht es gar nicht so sehr darum, daß am Ende dieser Konferenz bestimmte Vorschläge gemacht werden, sondern daß man sich in der Wachstumskritik der Frage nach den Praxisformen überhaupt bewußt wird. Das könnte für mich als einem klassischen Linken ein Erfolg dieser Konferenz sein.

SB: Besteht nicht die Gefahr, daß man einer noch jungen, kritischen Bewegung allzu früh einen Deckel auflegt und ihr damit den Schwung nimmt?

TM: Wenn sich das Organisationskomitee hinsetzen und am Ende eine Resolution verabschieden würde, daß wir alle im nächsten Jahr zum Klimacamp gehen und im Rheinland eine riesenungehorsame Aktion gegen den Garzweiler-Bagger machen - was wir tatsächlich alle tun sollten - würde das, glaube ich, hier auf der Konferenz bei vielen Leuten diese Öffnungsprozesse abschneiden. Ein Erfolg wäre, wenn überhaupt erst einmal zum Ausdruck gebracht wird, daß eine der zentralen Fragen der Wachstumskritik jene ist, wie sie kollektiv, praktisch und effektiv werden kann. Dann wird es in der Folge bestimmt auch Vorschläge geben, auf welche Weise das in Angriff genommen werden könnte.

SB: Im Gegensatz zur Antiglobalisierungsbewegung, deren Protest schon in den Forderungen viel konsequenter war, scheinen der Postwachstumsbewegung in Deutschland klare politische Konturen zu fehlen. Liegt es daran, daß sie sich noch in einer Frühphase ihrer Entstehung befindet?

TM: Ja, auf jeden Fall. In den USA hat man Leute, die in der Nähe der kommunistischen Partei, aber nicht in ihr organisiert waren, Fellow travellers genannt. Ich würde mich als Fellow traveller der Wachstumskritik sehen. Sicherlich gab es schon einmal in den 70er und 80er Jahren eine Hochphase der Wachstumskritik, die dann wieder verebbt ist und im Kontext der Klimadebatte von 2007 bis 2009 erneut einen starken Aufschwung nahm. Als Attac 2011 in Berlin den Kongreß "Jenseits des Wachstums?" ausgerichtet hat, war erkennbar, daß in der globalisierungskritischen Bewegung ein riesengroßes Interesse an der Wachstumskritik bestand. Ich habe mich hier auf der Konferenz ein wenig umgeschaut und finde, daß unter den Besuchern viel mehr Individuen, nichtorganisierte Menschen sind, die das Thema noch nicht in dem Maße politisiert haben, wie man sich das als klassischer Linker wünschen würde.

Ich schlage jetzt einmal einen Bogen nach Berlin, wo man etwas Occupy-mäßiges aufzuziehen versuchte. Dort hat sich jedoch gezeigt, daß viele junge Menschen mit den verbindlichen kollektiven Organisierungsformen, die wir aus der Linken kennen, relativ wenig am Hut haben. Leuten, die in 30 Jahren Neoliberalismus sozialisiert wurden und sich als Digital Natives verstehen, sagt das nichts mehr. Deswegen muß man sich vor schnellen Antworten hüten. In gewissem Sinne stellen Occupy und die Piraten ein ähnliches Phänomen dar. Da wurde versucht, eine neue Form von politischer Subjektivität in die alte Parteienform zu drängen. Das ist knallend gescheitert, und deswegen muß es in diesen Zusammenhängen erst einmal Suchprozesse geben. Man kann sie von links oder von anderen Bewegungen aus als Fellow traveller begleiten und gegebenenfalls auch Angebote machen, aber man muß den Leuten vor allem den Raum lassen, ihre eigenen Erfahrungen miteinander zu diskutieren, ohne sich gleich hinzustellen mit der Parole: Wir Linken haben alle Antworten. Denn allzu gut sind unsere Antworten in den letzten Jahren auch nicht gewesen.

SB: Auffallend ist vor allem das breite Spektrum verschiedenster Themen in den Workshops und Vorträgen. Wie ist es zu dieser Vielfalt gekommen?

TM: Für den Group Assembly Process wurden fast 20 mögliche Praxisfelder identifiziert. Ich beispielsweise gehöre der Arbeitsgruppe "Klima und Energie" an, wobei es unter den vertretenen Arbeitsfeldern auch klassische politische Themen wie etwa Bedingungsloses Grundeinkommen gibt. Beim Group Assembly Process handelt es sich um den Versuch, intern aus der Bewegung heraus Praxisfelder zu eröffnen. Ich persönlich glaube nicht, daß dabei sehr viel herauskommt oder darüber organisierte Gruppen oder Allianzen in der Art von "Wachstumskritik goes Klimagerechtigkeit" entstehen. Dennoch habe ich das Gefühl, daß die Konferenz für die Leute, die sie organisiert haben, und für die Wachstumskritik an sich schon jetzt aufgrund der erzeugten Resonanz ein Riesenerfolg ist. Selbst wenn nur ein Bruchteil der Leute, die hier auf der Konferenz waren, im nächsten Jahr bei Blockupy, im Klimacamp oder in Garzweiler gegen den Bagger dabei sein wird, haben die Klimabewegung, Blockupy und die Wachstumskritik dazugewonnen.

SB: Tadzio, vielen Dank für dieses Gespräch.


Bisherige Beiträge zur Degrowth-Konferenz in Leipzig im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT:

BERICHT/028: Aufbruchtage - Brauch- und Wuchskultur auf die Gegenspur ... (SB)
BERICHT/029: Aufbruchtage - Schuld und Lohn ... (SB)
BERICHT/030: Aufbruchtage - Umkehr marsch ... (SB)
BERICHT/031: Aufbruchtage - Kapital gezähmt ... (SB)

8. Oktober 2014