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INTERVIEW/070: Aufbruchtage - Eine Frage des Systems ...    Steffen Lange im Gespräch (SB)


Ökonomische Theoriebildung auf tönernen Füßen

Interview am 3. September 2014 an der Universität Leipzig



Steffen Lange studierte Volkswirtschaftslehre in Maastricht, Santiago de Chile und Göttingen. Er ist seit vielen Jahren in ehrenamtlichen Zusammenhängen zu wirtschaftswissenschaftlichen Thematiken aktiv und arbeitete professionell für Attac, Campact und an der Universität Göttingen. 2012 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern des Konzeptwerks Neue Ökonomie e.V. in Leipzig. Derzeit promoviert er zum Thema "Macroeconomics of sustainable degrowth" an der Universität Hamburg im Rahmen eines Hans-Böckler-Stipendiums. [1]

Lange koordinierte den wissenschaftlichen Teil der Vierten Internationalen Degrowth-Konferenz für Ökologische Nachhaltigkeit und Soziale Gleichheit, die vom 2. bis 6. September 2014 an der Universität Leipzig stattfand. Zudem gehörte er zu den Referentinnen und Referenten bei den Veranstaltungen "Responses to the eurocrisis: Strategies for the degrowth-movement", "Macroeconomics of Degrowth I" und "Scenarios for a post-growth economy". [2]

Als einer von vier Vortragenden der Session "Macroeconomics of Degrowth I" verwies er darauf, daß die verschiedenen theoretischen Ansätze der Makroökonomie der Frage, wie eine Gesellschaft ohne Wachstum organisiert werden könnte, so gut wie keine Beachtung schenken. Er untersuche in seiner Forschungsarbeit die Kernaussagen der neoklassischen, postkeynesianischen und neomarxistischen Theoriekomplexe in Hinblick auf daraus abzuleitende Konsequenzen für Degrowth. Laut neoklassischer Theorie bedürfte es einer anderen technologischen Entwicklung, einer geringeren Kapitalakkumulation auf Grundlage reduzierter Spareinlagen und einer Verminderung der Arbeitszeit durch veränderte Präferenzen der Haushalte. Die dort postulierten Mechanismen der Kapitalakkumulation und Arbeitszeit seien jedoch fraglich wie auch die Veränderung der Technologie von diesen Theorien nicht erklärt werde. Gemäß postkeynesianischer Ansätze wären eine Verminderung der Gesamtnachfrage und ein technologisches Umsteuern zugunsten einer gebremsten Arbeitsproduktivität erforderlich. Aus Perspektive neomarxistischer Theoriebildung müßten die Mechanismen der Kapitalakkumulation und arbeitssparende Technologien sowohl auf Ebene der Unternehmen als auch auf makroökonomischer Ebene thematisiert werden.

Die aus den drei Theorieansätzen abzuleitenden Konsequenzen für eine Postwachstumsökonomie faßte der Referent in einer Reihe von Empfehlungen zusammen. So müßten die Input-Preise durch Steuern und Subventionen verändert und die Forschung auf eine nachhaltige Produktion konzentriert werden, um den entsprechenden Sektor zu stärken, bis er Eigendynamik entfaltet. Erforderlich seien zudem Investitionen in eine geeignete Infrastruktur, kollektiver Besitz, Verminderung der Arbeitszeit, veränderte Konsummuster wie auch eine Reduzierung der Produktwerbung. Wie Lange anmerkte, seien dies Vorschläge aus einer ökonomischen Perspektive, zu der sich die Frage von Macht und Einfluß wie etwa Lobbyismus und politische Durchsetzung gesellen müsse.

Hier stellt sich allerdings die Frage, wie aussagefähig und wirkmächtig eine ökonomische Theoriebildung sein kann, die als Fachdisziplin vermeintlich unabhängig von den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen ihren Diskurs führt. Nicht umsonst formulierte Marx eine Kritik der politischen Ökonomie, welche Machtausübung und Herrschaftssicherung auf materielle Füße stellt. Aus dieser Analyse folgt in der Konsequenz, daß die Umwälzung der Ökonomie gleichbedeutend mit der Durchsetzung einer von Grund auf neuen Gesellschaftsordnung gegen die staatlichen Sachwalter der alten sei. Dessen eingedenk kann man sich schwerlich mit einer gleichsam modularen Herangehensweise anfreunden, bei der Ökonomie und Politik nicht von Beginn an die beiden Beine desselben Voranschreitens sind, sondern sich gleichsam erst unterwegs begegnen, um einander zu ergänzen.

Nach der Session beantwortete Steffen Lange dem Schattenblick einige Fragen zu den maßgeblichen Interessen, die eine Postwachstumsgesellschaft zu verhindern trachten, zur Wertschöpfung und zur Rolle der Gewerkschaftsbewegung im Zusammenhang mit Degrowth.

Im Gespräch - Foto: © 2014 by Schattenblick

Steffen Lange
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick: Steffen, wie würdest du als Ökonom die Behauptung, daß Wachstum eine unvermeidliche Notwendigkeit sei, widerlegen?

Steffen Lange: Zunächst einmal müßte man die Frage klären: notwendig wofür? In einem kapitalistischen Wirtschaftssystem ist Wachstum in der Tat notwendig, um bestimmte gesellschaftliche Ziele zu erreichen, nämlich keine Arbeitslosigkeit zu generieren, Sozialversicherungssysteme zu finanzieren und Staatsschulden zu bedienen. Das sind die typischen Einwände, weshalb man nicht ohne Wirtschaftswachstum auskommen könne. Aber wenn man zum Beispiel den Arbeitsmarkt verändern oder durch eine andere Steuerpolitik technologischen Wandel hervorrufen, die Sozialversicherungssysteme durch eine andere Finanzierung umgestalten und die Steuereinnahmen auf andere Weise erhöhen würde, dann könnte die Abhängigkeit von Wachstum durch andere Institutionen verringert bzw. ganz abgelöst werden.

SB: Sind es ideologische, ökonomische oder politische Gründe, warum eine derartige Entwicklung reduzierten Wachstums nicht eingeschlagen wird?

SL: Aus meiner Sicht sind es zwei, vielleicht sogar drei Hauptgründe. Zum einen ist es in unserer globalisierten Wirtschaft gar nicht so einfach, Veränderungen zum Beispiel auf nationalstaatlicher oder gar europäischer Ebene umzusetzen. Es ließe sich schon einiges bewerkstelligen, aber im Endeffekt müßten dazu auch internationale Institutionen verändert werden, was nicht so leicht ist. Zum anderen stehen große wirtschaftliche Interessen dagegen. Unternehmensverbände oder Finanzmarkt-Lobbyorganisationen werden nicht allzu viel davon halten, weil sie schlichtweg monetäre Einbußen erleiden würden, ebensowenig wie es im wirtschaftlichen Interesse der dahinterstehenden Gesellschafter ist. Das sind sehr mächtige Akteure, denen man gegenwirken müßte und die auch einen großen Einfluß auf die Politik haben. Darüber hinaus unterstützen im Moment nicht viele Menschen in der Gesellschaft die nötigen Schritte zum Wandel. Daher muß noch viel Überzeugungsarbeit geleistet und müssen noch viele positive Konzepte aufgezeigt werden, wie ein gutes Leben auch in einer anderen Gesellschaft möglich wäre. Generell herrscht viel Angst vor den Folgen, wenn das Wachstum ausbleiben sollte.

SB: In der vorangegangenen Session wurde viel über Geldtheorien, Geldverläufe und Geldflüsse gesprochen, aber nicht darüber, wie die Wertschöpfung zustande kommt. Woran lag das?

SL: Bei der Wertschöpfung werden natürliche Ressourcen, also Arbeitskräfte und Kapital, genutzt. Wer letzten Endes die Früchte dieser Wertschöpfung erntet, ist eine lang zu diskutierende Frage. Daß diese in der heutigen Session nicht beantwortet wurde, lag schlicht an der Zusammenwürfelung der Ansätze. In den vier Einzelpräsentationen wurde vorgetragen, woran man gerade forscht, und da bildete die Wertschöpfung einfach nicht den Forschungsgegenstand.

SB: Wenn die Wertschöpfung und damit die grundlegende Verwertung von Arbeitskraft nicht verändert wird, müßte man dann nicht den Schluß ziehen, daß alle anderen Ansätze zur gesellschaftlichen Veränderung für sich genommen zu kurz greifen?

SL: Arbeitskraft ist immer für die Wertschöpfung notwendig. Im Kapitalismus bekommen nicht nur die Menschen, die arbeiten, etwas von dem Geschöpften ab, sondern auch Gesellschaften oder Menschen, die Zugang zu natürlichen Ressourcen oder bereits großes Kapitalvermögen haben, worüber sie dann wieder mehr verdienen können. Thomas Piketty hat in seinem Buch "Capital in the 21th Century" schlüssig aufgezeigt, daß ein Großteil des Einkommens inzwischen daraus generiert wird, daß man bereits über großes Vermögen verfügt.

SB: Einer griffigen Theorie zufolge soll die sogenannte Finanzblase eine Folgeerscheinung der Verwertungsprobleme des Kapitals sein, weil die Vernutzung der Arbeitskraft wie auch die technologische Entwicklung zusehends an ihre Grenzen stoßen, so daß die Verlagerung des Kapitals ins Finanzkapital demnach eine zwangslogische Verlaufsform der Verwertungsmöglichkeiten des Kapitals sei, da Wachstum nur mehr in diesem Bereich möglich scheint. Was hältst du von diesem Erklärungsansatz?

SL: Ich denke, daß man da weiter ausholen muß. In den letzten 30, 40 Jahren gab es innerhalb der reichen Industrieländer eine große Umverteilung vom Lohneinkommen zum Kapitaleinkommen. Das ist einer der Gründe, warum mit wesentlich mehr Finanzvermögen als früher herumspekuliert wird. Man könnte auch sagen, weil die reichen Menschen das Geld, das sie einnehmen, nicht verkonsumieren, sondern anlegen. Ein anderer Grund ist, daß die Finanzmärkte dereguliert wurden und deswegen Geldschöpfung sehr viel stärker genutzt werden kann, um Spekulationen voranzutreiben. Das sind aus meiner Sicht zwei Gründe dafür, warum die Finanzmärkte so groß und mächtig geworden sind. Ob die Wirtschaft weiter wächst oder nicht, läßt sich daraus schwer ableiten, weil es widersprüchliche Effekte gibt. Auf der einen Seite ist viel Kapital auf der Suche nach Anlagemöglichkeiten, was zum Beispiel dazu führt, daß man neue Produkte herstellt, die über Werbung an den Konsumenten gebracht werden sollen. Auf der anderen Seite stockt die Nachfrage, weil die Armen einen Großteil ihres Einkommens für ihre Grundbedürfnisse konsumieren, so daß es an effektiver Nachfrage fehlt. Deswegen gibt es hinsichtlich der Finanzmarktentwicklung widersprüchliche Effekte auf das Wachstum.

SB: Wie würdest du die Rolle der Gewerkschaftsbewegung in Deutschland im Verhältnis zu Degrowth einschätzen?

SL: Eine interessante Frage. Wir haben versucht, die Gewerkschaften für die Degrowth-Konferenz ins Boot zu holen, aber es ist uns nur teilweise gelungen, was wir sehr schade finden, da es wünschenswert wäre, die sozialökologische Bewegung stärker mit den Gewerkschaften zu verknüpfen. Da liegt noch viel Überzeugungsarbeit vor uns, zumal, wenn nicht die Mehrheit, so doch signifikante Teile der Gewerkschaft noch am Wachstumsziel festhalten und sich deswegen nur bedingt auf solche Diskussionen einlassen.

SB: So befürwortet zum Beispiel die IG Bergbau mit dem Argument der Arbeitsplätze ausdrücklich den Abbau der Braunkohle.

SL: Ich finde das erst einmal verständlich und gleichzeitig schade. Ich glaube, man muß eben auch gute Antworten liefern, was mit den Leuten passieren soll, die keinen Arbeitsplatz mehr haben, wenn die Braunkohleproduktion wegfällt. Darüber hinaus sollte man auch Konzepte in Richtung Umbau des Sozialversicherungssystems entwickeln. Natürlich ist die derzeitige Regelung von Hartz IV kein Zustand. In dem Zusammenhang finde ich die Diskussion um das bedingungslose Grundeinkommen sehr spannend. Da ist die Politik in der Pflicht, diese Konzepte umzusetzen, um es Gewerkschaften und Gewerkschaftsmitgliedern einfacher zu machen, an solchen gesellschaftlichen Transformationen mitzuwirken.

SB: Steffen, vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnoten:


[1] http://www.konzeptwerk-neue-oekonomie.org/das-team/steffen-lange/

[2] http://programme.leipzig.degrowth.org/de/degrowth2014/public/speakers/14


Bisherige Beiträge zur Degrowth-Konferenz in Leipzig im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT:

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29. Dezember 2014


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