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INTERVIEW/074: Festung Europa - Taktik gegen Strategie ...    Sophia Wirsching (Brot für die Welt) im Gespräch (SB)


Europas tödliche Grenzen - Gerechtigkeit für die Opfer von Ceuta

Eine Informationsveranstaltung des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) am 4. Februar 2015 in Berlin

Sophia Wirsching über das umfassende Grenzregime der Europäischen Union und ihre Kooperation mit außereuropäischen Staaten


Sophia Wirsching ist Referentin für Migration bei der Organisation Brot für Welt. Am 4. Februar 2015 sprach sie auf der Veranstaltung "Europas tödliche Grenzen - Gerechtigkeit für die Opfer von Ceuta" des ECCHR (European Center for Constitutional and Human Rights) über die Situation der Flüchtlinge in Marokko und die Kooperation der Europäischen Union mit diesem Maghrebstaat.

Die Flüchtlingsproblematik war bisher noch kein Schwerpunkt des ECCHR, das nun einen Vorfall vom 6. Februar 2014, bei dem die Guardia Civil der spanischen Exklave Ceuta in Marokko Gummigeschosse auf eine Gruppe von rund 400 im Meer schwimmenden Flüchtlingen abgefeuert haben soll, aufgreift und eine Klageanstrengung unterstützt, um das Unrecht an den EU-Außengrenzen zu beenden. Man kann wohl mit einiger Berechtigung annehmen, daß bei einem Erfolg einer solchen Klage dann auch Flüchtlinge davon profitieren werden. Wie der Schattenblick berichtete, kamen bei dem Fluchtversuch von Ceuta offiziell 15 Personen, nach Angaben des Flüchtlings Nathan, der per Skype aus dem Ruhrgebiet zu dem ECCHR-Treffen zugeschaltet war, sehr viel mehr Menschen ums Leben; Dutzende wurde verletzt. [1]


Am Tisch sitzend - Foto: © 2015 by Schattenblick

Sophia Wirsching beim Vortrag
Foto: © 2015 by Schattenblick

Zunächst steckte Wirsching den größeren politischen Rahmen ab, in dem die Zusammenarbeit bei der Flüchtlingsabwehr stattfindet. Seit 30 Jahren werden immer mehr Kompetenzen von den Mitgliedsstaaten der Union an die EU-Administration übertragen. Angefangen hat es mit dem Schengen-Abkommen 1985, in dessen Folge die Binnengrenzen ab- und gleichzeitig die Außengrenzen stärker ausgebaut wurden. Weitere Wegmarken der Flüchtlingspolitik sind das Dublin-Abkommen von 1990, mit dem das Dublin-Verfahren auf den Weg gebracht wurde, der Maastrichter Vertrag (1990), der Amsterdamer Vertrag (1999), der Europäische Pakt für Einwanderung und Asyl (2008) und das Stockholmer Programm (2009).

Mit jedem Schritt wurden zusätzliche Kompetenzen von den Unionsmitgliedern an die Brüsseler Behörden abgegeben. Zeitgleich hierzu, doch konträr zu diesem Trend, hat die EU-Administration Verantwortung an die Staaten der EU-Peripherie wie Spanien, Malta, Italien und Griechenland übergeben, da Flüchtlinge nur in dem Land der Europäischen Union, in dem sie als erstes angekommen sind, einen Asylantrag stellen dürfen. Und das sind nun einmal vor allem die Staaten an den Außengrenzen der Union.

Darüber hinaus findet das Grenzmanagement der EU nicht nur wie in Ceuta an ihren geographischen Außengrenzen, sondern auch in Drittstaaten statt. Das reiche "weit in das Vorfeld Europas hinein, beispielsweise bis Mauretanien", so Wirsching. Dort finanziere die EU Haftlager, um Migranten an der Weiterreise nach Europa zu hindern.

Außerdem wird die Flüchtlingsabwehr der Europäischen Union mit einer Reihe von Verträgen, beispielsweise zur Mobilitätspartnerschaft, abgesichert. Ein solches Abkommen der EU mit Marokko sieht unter anderem vor, daß das nordafrikanische Land sogenannte illegale Migranten aufnimmt und die Migrantenabwehr auch im Landesinnern verstärkt. Heute ist es für Flüchtlinge gar nicht so einfach, überhaupt in das Land einzureisen. Als Gegenleistung für die Flüchtlingsabwehr vereinfache die EU für einige Marokkaner die Einreise, so daß sie hier studieren können.

Die Interessen der EU an Migrationskontrolle spielen bis in die Entwicklungshilfe hinein, berichtete der Referentin: "Wenn Staaten nicht bereit sind, im Bereich Grenzmanagement und -kontrolle zu kooperieren, dann wird ihnen auch die Hilfe untersagt."

Im Anschluß an die Veranstaltung beantwortete Sophia Wirsching dem Schattenblick einige Fragen.

Schattenblick (SB): Sie erwähnten in Ihrem Vortrag die Mobilitätspartnerschaften zwischen der EU und Drittstaaten. Könnten Sie genauer erklären, wie diese zustande kommen?

Sophia Wirsching (SoW): Das sind Absichtserklärungen, die eine Rahmenpartnerschaft festlegen und unter anderem im Einklang mit der europäischen Nachbarschaftspolitik stehen. Es gibt ja bereits einen Dialog zwischen Afrika und der EU zum Thema Migration; in diese Rahmenpolitik fällt sozusagen die Mobilitätspartnerschaft. In dem Vertrag wird dann festgehalten, auf welchen Feldern kooperiert wird, zum Beispiel bei der Bekämpfung des Menschenhandels und der irregulären Migration, der Verbesserung des Schutzes für Asylsuchende und legale Migration sowie bei der Berücksichtigung von Entwicklungsfragen im Zusammenhang mit Migration.

Zudem vereinbaren zum Beispiel das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR, die EU-Grenzschutzagentur Frontex und die internationale Arbeitsorganisation ILO mit diesem Staat einzelne Projekte, durch die sie gewisse Kompetenzen an ihn weitergeben. Da werden dann Erfahrungen gesammelt, wie Grenzmanagement betrieben wird oder Arbeitsmigranten zum Beispiel leichter in die Lage versetzt werden, Rücküberweisungen in ihre Heimat zu starten, und so weiter. Es handelt sich also um ein Projekt-Portfolio, das unter dem Titel "Mobilitätspartnerschaft" angeboten wird.

SB: Inwiefern wurden solche Verträge auch mit europäischen Ländern abgeschlossen?

SoW: Die Republik Moldau ist ein Partnerland. Zudem ist das ein Land, das ganz andere Charakteristika als typische Transitländer aufweist, weil im wesentlichen aus Moldau heraus migriert wird und keine Migration nach Moldau, die dann aufgehalten werden müßte, erfolgt. Aserbaidschan ist auch ein Mobilitätspartnerschaftsland, liegt aber schon fast im asiatischen Bereich, sowie Armenien und Georgien.

SB: Heute abend wurde beim Thema Flucht über das Mittelmeer das Alarm Phone [2] erwähnt, das vor einigen Monaten den Betrieb aufgenommen hat. Liegen dazu schon Erfahrungsberichte vor?

SoW: Ja, dazu liegen schon Berichte vor, die Fälle werden dokumentiert und lassen sich auf der Website der Aktivisten ganz gut verfolgen. Das Alarm Phone, das in Seenot geratene Flüchtlinge anrufen können, ist aktiv und läuft. Im März wird es auf dem Weltsozialforum in Tunis [3] zu genau diesem Thema etliche Veranstaltungen geben.

SB: Was ist über die Zustände in den marokkanischen Flüchtlingslagern, die für viele Flüchtlinge eine Zwischenstation bieten, bekannt?

SoW: Das sind vor allem informelle Lager, die der Polizei und den Behörden bekannt sind. Die werden regelmäßig von Polizeigewalt betroffen. [4] Aber es ist nicht so, daß das Lager wären, in denen die Flüchtenden oder Schutzsuchenden irgendwelche Leistungen bekommen könnten, sondern das sind Shelter, Unterkünfte, die sich die Migranten vor allem in den Wäldern Marokkos oder in den Städten an den Küsten selbst geschaffen haben.

SB: Es handelt sich also nicht um offizielle Lager, wie es sie in Mauretanien, Libyen und anderen afrikanischen Staaten gibt, in denen Flüchtlinge behördlicherseits untergebracht werden, um sie frühzeitig daran zu hindern, nach Europa zu reisen?

SoW: Richtig, in Marokko handelt es sich um informelle Lager. Es gibt da die Idee, die der Bundesinnenminister Thomas de Maizière letztes Jahr vorgestellt hat, sogenannte Willkommenszentren einzurichten. Das sollten spezielle Lager sein, in die ausreisewillige Flüchtlinge und Migranten gehen und ihr Asylgesuch oder ihr Migrationsanliegen geltend machen können. Dort würde dann entschieden, ob sie Zugang nach Europa erhalten oder nicht. Das ist Zukunftsmusik und wird es hoffentlich auch bleiben.

SB: Von Flüchtlingen aus Honduras und Mexiko wird berichtet, daß das Leben nicht nur gefährlich ist, weil sie von der Polizei aufgegriffen werden könnten, sondern weil sie sich auch untereinander nicht über den Weg trauen. Wie ist das in Marokko, herrscht da ein ähnliches Verhältnis vor oder gibt es Formen der Zusammenarbeit zwischen den Flüchtlingen untereinander?

SoW: Es besteht eine große Solidarität der Flüchtenden und Geflüchteten untereinander, sie sind aufeinander angewiesen. Aber natürlich entstehen auch Konflikte. In den Lagern gibt es vor allem auch organisierte Kriminalität, es gibt Hierarchien, einzelne Lager werden von Bandenführern regiert. Ja, leider gibt es das da auch.

SB: Die marokkanische Polizei geht teilweise brutal gegen die Flüchtlinge vor. Wie aber reagieren die Einwohner Marokkos auf die Flüchtlinge?

SoW: Wir haben beobachtet, daß es zum Beispiel in Städten wie Rabat und Casablanca zu Übergriffen vor allem gegenüber schwarzafrikanischen Migrantinnen und Migranten kommt, auch wenn einige von ihnen legal da sind - man sieht ihnen ja nicht an, wo sie herkommen. Das hängt mit dem gesteigerten Rassismus zusammen, den ich vorhin beschrieben hatte: Die Europäische Union geht auf Marokko zu, bietet für Marokkaner erleichterte Reisemöglichkeiten in die EU an, wenn im Gegenzug die Migrierenden innerhalb Marokkos stärker kontrolliert werden. Hinzu kommen Arbeitslosigkeit und Ressentiments, die zusätzlich geschürt werden.

SB: Bei der Veranstaltung vorhin sprach der ehemalige Flüchtling Tresor in seinem Vortrag das Problem der bilateralen Wirtschaftsabkommen zwischen der EU und den afrikanischen Staaten an. Wissen Sie Näheres darüber, ob ein Zusammenhang zwischen Flucht und diesen EPAs (Economic Partnership Agreements) genannten Abkommen aufgezeigt werden kann?

SoW: Ich bin nicht die Fachfrau für EPAs, aber was Tresor auch angesprochen hatte, ist, daß tatsächlich die Migrationsursachen - besonders bei einer erzwungenen Migration - oft ihre Wurzeln in dem Handeln zum Beispiel von multinationalen Konzernen oder in der ungleichen Wirtschaftspolitik, die mit diesen Staaten eingegangen wird, haben. Oder auch, daß aufgrund solcher Abkommen bestimmte Waren aus Europa sehr leicht exportiert werden können, was die lokalen Märkte in afrikanischen Ländern zerstört, umgekehrt aber die EU ihre Importe beschränkt. Ob das auch speziell für Marokko gilt, kann ich jetzt nicht sicher sagen, doch wird genau das in den afrikanischen Ländern, die Tresor angesprochen hat, beobachtet. Auch das Landgrabbing führt dazu, daß immer mehr Menschen immer weniger Möglichkeiten haben, vor Ort zu bleiben, und weggehen.

SB: Flüchtlingsorganisationen kritisieren immer wieder das Dublinverfahren der EU zur Aufnahme von Flüchtlingen. Sind da schon Tendenzen in der Politik erkennbar, daß die Kritik ankommt oder wird sie vollkommen abgeblockt?

SoW: Seit Anfang letzten Jahres gilt das vermeintlich verbesserte Verfahren der Dublin-III-Verordnung, das aber im Endeffekt keine Verbesserung für die Flüchtlinge in Europa geschaffen hat. An der Logik der europäischen Abschottungspolitik hat sich nichts geändert. Das merkt man auch an den geringfügigen Angeboten von Resettlement und daran, daß die Europäische Union insgesamt nicht in der Lage ist, eine Aufnahmequote für Flüchtlinge anzubieten. Daß sie gleichzeitig so verkrampft an dem Dublin-System festhält, ist eigentlich ein Zeichen dafür, daß sich da nichts ändert.

SB: Vielen Dank für das Gespräch.


Mehrere Meter hoher Grenzzaun - Foto: Noborder Network, freigegeben als CC BY 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/] via flickr

Kein Zutritt für "Menschen zweiter Klasse". Grenzzaun Melilla 2006.
Foto: Noborder Network, freigegeben als CC BY 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/] via flickr


Fußnoten:


[1] Näheres dazu unter:
INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT
BERICHT/048: Festung Europa - aber bitte human ... (SB)
http://schattenblick.com/infopool/buerger/report/brrb0048.html

[2] Das Alarm Phone wurde für Bootsflüchtlinge im Mittelmeer, die in Schwierigkeiten geraten, eingerichtet. Die Nummer lautet + 334 86 51 71 61.
Näheres Informationen dazu gibt es beispielsweise bei der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration:
http://ffm-online.site36.net/category/alarm-phone/
und der Initiative Watch the Med:
http://www.watchthemed.net/index.php/main

[3] http://www.weltsozialforum.org/2015/index.html

[4] Vor rund zwei Wochen hat die marokkanische Gendarmerie einige jener informellen Lager in den Wäldern nahe der spanischen Exklave Melilla gestürmt und bis zu 1200 Flüchtlinge verhaftet. Viele von ihnen wurden mit Stockschlägen traktiert oder anderweitig mißhandelt, die Notbehausungen samt Hab und Gut der Bewohner verbrannt. Berichten zufolge hat man die Flüchtlinge in Bussen weggebracht. Möglicherweise wurden sie, wie andere Flüchtlinge zuvor, in der Wüste an der Grenze zu Algerien ausgesetzt.
Quelle: tinyurl.com/p48yhp6

23. Februar 2015


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