Schattenblick → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT


INTERVIEW/082: Klimacamp trifft Degrowth - Sozialwidersprüche, Naturtechnikbrüche ...    Dorothee Häußermann im Gespräch (SB)


Kohlekampf im Harnisch der Wachstums- und Systemkritik

Klimacamp und Degrowth-Sommerschule im Rheinischen Braunkohlerevier 2015


Dorothee Häußermann ist freiberufliche Referentin, Aktivistin und Autorin. Sie hat 2011 ihren Beruf als Deutschlehrerin an den Nagel gehängt, um mit ausgeCO2hlt Klimacamps und direkte Aktionen im rheinischen Braunkohlerevier zu organisieren. In diesem Jahr hat sie zur Abwechslung die Degrowth-Sommerschule mitorganisiert, in deren Rahmen sie auch als Vortragende und Moderatorin im Einsatz war. So erläuterte sie in einer Keynote zum Thema "Fossile Energie, Kohle und das rheinische Revier", warum fossile Rohstoffe im Boden bleiben müssen, wenn der Klimawandel eingedämmt werden soll. Außerdem zeigte sie in einer historischen Rückschau auf, welche Rolle die Kohle für den Prozeß der Industrialisierung und für das kapitalistische Wirtschaftssystem spielt. Besonderes Augenmerk legte sie in ihrem Vortrag auf das rheinische Braunkohlerevier, die größte CO2-Quelle Europas.


Stehend vor zwei Zelten - Foto: © 2015 by Schattenblick

Dorothee Häußermann
Foto: © 2015 by Schattenblick

Die Referentin verwies eingangs auf eine Anfang des Jahres weithin wahrgenommene Studie, der zufolge die nachgewiesenen Reserven fossiler Ressourcen zu 80 Prozent im Boden bleiben müßten, soll das 2-Grad-Ziel wenigstens mit 50prozentiger Wahrscheinlichkeit erreicht werden. Seit Beginn der Wetteraufzeichnungen sei die Durchschnittstemperatur um 0,8 Grad gestiegen, Anzeichen des Klimawandels wie Dürren, extreme Wetterereignisse und Schäden an der Verkehrsinfrastruktur seien längst zu beobachten. Nehme die Erwärmung zu, könnten Kippunkte erreicht werden, an denen unumkehrbare Prozesse ausgelöst werden.

Während daraus folge, daß die Kohle sofort im Boden verbleiben sollte, sei bislang das Gegenteil der Fall. In Deutschland - offiziell als Vorreiter der Energiewende dargestellt - werde bei der Verstromung mit einem Anteil von 25 Prozent am Energiemix weltweit die meiste Braunkohle verbrannt. Zudem sei die deutsche Stromerzeugung insgesamt gestiegen, wobei ein Teil ins Ausland exportiert wird. Die Energiewende sei insofern ein Täuschungsmanöver, als das Augenmerk auf die alternativen Energiequellen gelenkt, jedoch nach wie vor Kohle verheizt wird.

Es könne nicht nur um effizientere Energieerzeugung gehen, vielmehr müsse auch der Verbrauch insgesamt reduziert werden, um die Klimaziele zu erreichen. Dies werfe nicht zuletzt die Frage auf, was in welcher Menge gesellschaftlich produziert werden soll. Die allermeisten wissenschaftlichen Studien zum Kohleausstieg bezögen sich auf Szenarien bis 2050 oder günstigstenfalls 2030, gingen aber durchweg von einem weiteren Wachstum aus. Daher bleibe für die Degrowth-Bewegung noch viel zu tun, um einen Entwurf für die Energiesuffizienz und die Reduzierung des Wachstums vorzulegen.

Mit seinen drei Tagebauen und fünf Kraftwerken verursache das rheinische Braunkohlerevier 10 Prozent der deutschen CO2-Emissionen. Es gelte als die größte CO2-Quelle Europas, und unter den zehn schmutzigsten Kraftwerken des Kontinents finde man drei in diesem Revier. Allein das Kraftwerk Neurath verursache 33 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr, also eine Tonne pro Sekunde. Daraus folge, daß Veränderungen der persönlichen Lebensweise wichtig seien, aber verglichen mit diesen riesigen industriellen CO2-Quellen fast schon geringfügig wirkten. Deshalb sei politischer Druck unverzichtbar, um die notwendigen Schritte einzuleiten.

Der Tagebau stelle einen gravierenden Eingriff in die Natur dar: Es würden Wälder wie der Hambacher Forst abgeholzt, Feuchtsysteme beeinträchtigt, der Grundwasserspiegel in einem riesigen Einzugsgebiet gesenkt, Pflanzen ausgerottet und der fruchtbare Lößboden des Rheinlands beim Abbau komplett zerstört. Die sogenannte Rekultivierung eines Teils der Tagebauflächen bezeichne einen aufgeschütteten und neu bepflanzten Boden, der die zerstörte organisch gewachsene Struktur nicht wiederherstellen kann. Zu nennen sei auch die Gesundheitsbelastung durch Feinstaub, Emissionen von Quecksilber und anderen Schadstoffen. Ein folgenschwerer Eingriff sei nicht zuletzt die Umsiedlung: Seit den 50er Jahren seien im Rheinland schon 38.000 Menschen umgesiedelt worden, etwa 7000 weiteren stehe das noch bevor. RWE mache viel Propaganda um die Umsiedlung und simuliere Bürgermitbestimmung. Der Konzern sei mit der Kommunalpolitik verwoben, die Lokalpresse sei abhängig von dem Unternehmen, RWE sponsore Zelte für Schützenfeste, Kulturprogramme und vieles mehr. Diese Mischung aus Macht und Ansehen in der Region verleihe RWE die Position eines Feudalherrn im Revier.

Wie ein Blick in die Geschichte zeige, wurde um 1600 in England im Zuge der Industrialisierung bereits sehr viel Kohle abgebaut. Die zunehmende Mechanisierung habe die Grundlage des Wirtschaftens verändert, da sich Wachstum fortan lohnte. In den Manufakturen blieben die Stückkosten gleich, auch wenn die Zahl der Arbeiter erhöht wurde, die ihrerseits höhere Kosten verursachten. Die Mechanisierung ersetzte hingegen menschliche Arbeitskraft und senkte so die Stückkosten. Kohle befeuerte diesen Prozeß im wahrsten Sinne des Wortes, so Häußermann.

Die Erfindung der Dampfpumpe machte den Abbau der Kohle in sehr viel tieferen Bergwerken möglich, und die Verbesserung zur mobilen Dampfmaschine rief einen enormen Wachstumsschub hervor: Die Produktion von Kohle und Stahl wurde billiger, was wiederum deren Gewinnung und Verbrauch forcierte. Der beständige Nachschub an Kohle machte unabhängig von Wasser und Wind, so daß die Produktionsstätten an andere Orte verlagert werden konnten. In den Städten war die Beschaffung von Arbeitskräften wie auch die Senkung der Löhne angesichts einer riesigen Reservearmee brotloser Menschen erheblich einfacher. Dampfschiffe beflügelten den Welthandel und beförderten so den weltweiten Abbau und Transport von Rohstoffen. Kohle sei zwar nicht der Auslöser der Industrialisierung gewesen, die ohne diese Ressource jedoch bei weitem nicht so schnell vorangeschritten wäre.

Die damals herrschende Vorstellung, daß man die Natur überwinden und beherrschen müsse, lasse sich heute in den Begriff "Extraktivismus" fassen. Dieser beschreibe das Prinzip, immer mehr Rohstoffe aus der Erde zu holen und die Menschen ebenso als auszubeutende Masse aufzufassen. Demgegenüber strebe Klimagerechtigkeit ein Ende der Ausbeutung von Mensch und Natur an. Ein Kohleausstieg sei auf Grundlage der bestehenden Wirtschafts- und Produktionsweise nicht möglich, so die Referentin.

Nach ihrem Vortrag beantwortete Dorothee Häußermann dem Schattenblick einige Fragen zu den Gründen ihres Engagements, Bündnissen der Bewegung und dem Schulterschluß zwischen Klimacamp und Degrowth.


Dorothee Häußermann stehend beim Vortrag - Foto: © 2015 by Schattenblick

Ende der Ausbeutung von Mensch und Natur!
Foto: © 2015 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Braunkohle war selbst in der Umweltbewegung lange Zeit kein Thema. Erst in den letzten Jahren mit dem Protest in der Lausitz und gegen die Pläne von RWE, im Rheinischen Braunkohlerevier noch über 2040 hinaus zu baggern, ist die Klimaschädlichkeit der Braunkohle verstärkt in die Diskussion gekommen. Was war dein persönlicher Einstieg in den Widerstand gegen die Braunkohleförderung?

Dorothee Häußermann (DH): Mich hat die Sorge um den Klimawandel mehr und mehr umgetrieben. Irgendwann konnte ich mir nicht mehr einreden, daß es schon reichen würde, wenn ich Fahrrad fahre, statt die Autobahn zu benutzen. Also habe ich angefangen, gezielt nach Punkten zu suchen, wo ich selbst etwas gegen den Klimawandel unternehmen kann. In starkem Maße inspiriert hat mich das Klimacamp 2009 in London, wo ich erlebt habe, wie zwei- bis dreitausend Menschen zusammengekommen sind, um ein Zeichen zu setzen. Sie waren bestens organisiert, und damals dachte ich, so etwas müßte es auch in Deutschland geben. Also habe ich mich hier auf die Suche gemacht. 2010 fand das erste, hier im Braunkohlerevier von der BUND-Jugend Nordrhein-Westfalen organisierte Klimacamp statt.

In dieser Zeit kamen auch einige Umweltaktivisten hierher, die die Erfahrung gemacht hatten, daß die massenhafte Mobilisierung nach Kopenhagen nichts gebracht hatte. Aufgrund dessen herrschte großer Frust in der Bewegung. Daraus resultierte die Überlegung, statt bedeutungsloser Großereignisse lieber vor der eigenen Haustür die Ursachen des Klimawandels anzugehen. Das Klimacamp 2010 war noch ziemlich klein, aber einige Leute hatten sich in den Kopf gesetzt, im darauffolgenden Jahr ein größeres Camp, und zwar nach englischem Vorbild, auf der Wiese zu organisieren. Das war mein Einstieg. Ich bin über den Klimawandel hierhergekommen, die Kohle habe ich eher als Ansatzpunkt gesehen. Eigentlich schlägt mein Herz für die alternative Landwirtschaft. Das ist ein spannendes Thema, wo ich mich gerne stärker einbringen würde. Letztlich bin ich wegen der Leute, die sich bei ausgeCO2hlt engagieren, bei der Braunkohle geblieben. Es ist eine tolle Gruppe, in der es auch menschlich gut zusammenpaßt.

SB: Offensichtlich hat das Umfeld der Leute, mit denen du zusammenarbeitest, den Ausschlag für deinen Aktivismus gegeben.

DH: Auf jeden Fall. Man muß sich die Gruppe suchen, in der sowohl die Arbeitsweise als auch das Miteinander zu einem passen. Ich komme ursprünglich aus Köln und habe schon von daher einen persönlichen Bezug zum Rheinischen Braunkohlerevier. Bereits in der Grundschule habe ich eine Exkursion hierher gemacht. Allerdings wußte ich damals noch nichts über den Klimawandel, schließlich war ich erst sieben oder acht Jahre alt. Dennoch hat es mich sehr erschrocken gemacht, daß die Menschen ihre Häuser verlassen mußten und ihr Zuhause verloren. Als Kind kannte ich nichts anderes als mein Zuhause, und von daher konnte ich diese Ungerechtigkeit überhaupt nicht fassen. Das hat mich schon damals sehr bewegt.

SB: In den Diskussionen über Klimawandel und Braunkohleförderung wird der Gesichtspunkt, daß Dörfer eingeebnet und zahlreiche Menschen vertrieben werden, oft an den Rand gedrängt, obwohl er durchaus geeignet ist, das Gefühl der Betroffenheit auch gesellschaftlich zu verstärken. Wie geht ihr im speziellen mit diesem Punkt um?

DH: Wir versuchen immer, auch die Problematik der Umsiedlungen ins Thema einzubringen, weil Klimawandel nicht nur ein ökologisches Problem ist, sondern zugleich die soziale Frage berührt. Es geht nicht nur um CO2, auch die soziale Gerechtigkeit und Demokratie stehen auf dem Spiel. Nach unserer Auffassung sollen die Leute, die hier wohnen, nicht nur darüber mitbestimmen dürfen, wo sie ihr Grundstück in dem neuen Dorf haben möchten, sondern auch, ob sie überhaupt umgesiedelt werden wollen. Daß dies nicht geschieht, markiert einen Demokratieverlust, ist Ausdruck eines Machtmißbrauchs und eine Folge der Machtkonzentration, die wir hier in Deutschland haben. Genau diese Punkte möchten wir angehen und verändern.

SB: Eine Klimaschutzbewegung wünscht sich möglichst viele Leute, die sich für Umweltfragen interessieren. Ein Engagement folgt daraus aber zwingend nicht. Worin siehst du die Gründe, daß sich einerseits Aktivistinnen und Aktivisten in Kämpfen vor Ort engagieren und andererseits die Mehrheit der Gesellschaft untätig bleibt, obwohl ihre essentiellen Interessen betroffen sind?

DH: Auch für mich ist es manchmal nicht zu verstehen, warum es so schwierig ist, Menschen oder auch Umweltgruppen, die aus ganz verschiedenen Gründen, Ansätzen und Aktionsformen gemeinsam gegen Braunkohle sind, unter einen Hut zu bringen. Wir kriegen es in der Regel zwar hin, aber immer erst nach heftigen Debatten. Wir haben jetzt ein Bündnis gegen Braunkohle auf die Beine gestellt, wo alle drin sind. AusgeCO2hlt hat es mit angestoßen, daß sich nun verschiedene Bürgerinitiativen, sei es wegen Bergschäden oder weil sie Grubenranddörfer werden, an einen Tisch mit Leuten vom Hambacher Forst und BUND setzen. Das ist schön, muß aber weiter vorangetrieben werden.

SB: Wie gehst du damit um, wenn sich Leute zwar für die Umwelt einsetzen, aber bei der sozialen Frage querstellen? Gibt es für dich in diesem Sinne Grenzen der Bündnisfähigkeit?

DH: Ja. Ich sehe leider Grenzen der Bündnisfähigkeit in Richtung Gewerkschaften, die eigentlich für soziale Gerechtigkeit mit uns zusammenarbeiten sollten, es aber überhaupt nicht tun. Das finde ich persönlich sehr traurig. Naomi Klein hat in ihrem Buch geschrieben, die beste Klimaschutzmaßnahme ist der Kampf für soziale Gerechtigkeit und daß es sinnvoll sei, für soziale Sicherungssysteme und ein garantiertes Mindesteinkommen zu kämpfen, damit Menschen keine Existenzangst mehr haben. Ohne Angst vor Arbeitsplatzverlust und sozialem Abstieg könnten wir dann frei darüber reden, welche Art von Wirtschaft und Produktion wir wirklich für das Allgemeinwohl brauchen. Teilweise finden Gespräche darüber statt, und es gibt hier auch Begegnungen mit Leuten aus den Gewerkschaften. Ich hoffe, daß wir eine Zusammenarbeit noch hinkriegen. Alles andere halte ich für eine falsche Front. Wenn der fünfköpfige Vorstand von RWE 17 Millionen Euro verdient, mehr noch als im letzten Jahr, aber gleichzeitig Stellenabbau ankündigt, und das ohne Klimaschutzabgabe, dann denke ich, daß die Konfliktlinie eher zwischen den Gewerkschaften und großen Konzernen samt ihren oberen Etagen verlaufen sollte. Aber wenn ich dann sehe, daß der Vorsitzende von ver.di im Aufsichtsrat von RWE sitzt und allein dafür ein jährliches Salär von 200.000 Euro bezieht, dann wundere ich mich über nichts mehr.

SB: Bei der Podiumsdiskussion gestern abend war zu hören, daß die von Großprojekten betroffenen Menschen in Indien, Ecuador und Kanada diejenigen sind, die dort den Widerstand gegen den Klimawandel entwickelt haben. Das besondere Problem in der Lausitz, aber auch im Rheinischen Braunkohlerevier ist, daß die Bevölkerung von Vattenfall bzw. RWE eingekauft und okkupiert wurde. Wie ließe sich das Verschränken der Interessen zwischen den Konzernen und der Bevölkerung aus Sicht der Umweltbewegung aufbrechen?

DH: Das ist schwierig. Wir haben teilweise sehr gute Verbündete wie zum Beispiel die Initiative in Buir, die sich gegen RWE zur Wehr setzt. Die Menschen in Buir leiden unter der neu verlegten Autobahn, die zusammen mit einer Kohlebahn und der normalen S-Bahnstrecke direkt an der Ortsgrenze verläuft. Buir ist völlig eingekeilt von diesen Verkehrstrassen. Die Leute dort fingen an, sich gegen die Lärmbelästigung zu engagieren, bis sie gemerkt haben, gegen wen sie eigentlich antreten. Seitdem haben sie sich unglaublich radikalisiert. Sie unterstützen auch das Klimacamp und den Protest im Hambacher Forst. Daraus ist eine tolle Zusammenarbeit entstanden. Sie werden zwar nicht an einer Blockade oder Aktion des zivilen Ungehorsams teilnehmen, aber dennoch greift vieles andere ineinander.

Als sie anläßlich der Autobahneröffnung im September eine Aktion gemacht haben, bei der sie symbolisch die Ruhe zu Grabe trugen, waren wir dabei und haben Öffentlichkeitsarbeit geleistet. Darüber hinaus haben wir in Immerath eine Theateraufführung mit der Berliner Kompanie organisiert, die ein Stück zum Thema Kohlekraft samt Widerstand einer lokalen Gemeinde dagegen aufgeführt hat. Über hundert Leute sind gekommen, was sehr zur Vernetzung des Widerstands beigetragen hat. Das sind positive Punkte, wo es geklappt hat. Aber ansonsten ist es mit der Zusammenarbeit schwierig. Viele Menschen in der Region hier sind zwar RWE-kritisch, aber sie sprechen es nicht offen aus und kommen auch nicht auf ein Klimacamp. Wir erwarten gar nicht, daß sie mit auf einen Bagger klettern, aber im Prinzip könnten sie für eine größere Akzeptanz und Solidarität werben, was essentiell wichtig ist.

SB: Wie hoch schätzt du die Beteiligung der lokalen Bevölkerung an diesem Camp ein?

DH: Der Punkt ist, daß es die Bevölkerung im Sinne des Wortes gar nicht gibt, denn sie ist extrem heterogen. Es gibt einzelne Initiativen, die sich gegen RWE engagieren; teilweise tun sie es als Einzelkämpfer und teilweise stehen sie sehr in der Kritik von anderen, die damit argumentieren, daß sie RWE vertreiben würden, wo doch der Konzern so wichtig für die Region sei. So gesehen gibt es keine wirkliche Linie in der Bevölkerung.

SB: Das Treffen hier verbindet zum ersten Mal Klimacamp und Degrowth miteinander. Wie erlebst du das persönlich?

DH: Ich finde es super. Im letzten Jahr waren ein paar Leute aus dem Vorbereitungsteam für die Degrowth-Konferenz, die dann im September des Jahres in Leipzig stattfand, hier auf dem Camp. Wir hatten sie zum Thema Degrowth für Workshops eingeladen. Das hat auch menschlich gut funktioniert. In einem dieser Workshops ging es unter anderem um die Frage, wie wir daraus Aktionen oder Kampagnen machen können und welche Ziele dabei vordringlich anzugehen seien. Die Stimmung im Workshop war ausgezeichnet, und als die zwei Stunden um waren, sagten einige, es wäre gut, eine ganze Woche über das Thema zu reden. Das war einer dieser Momente, wo die Idee entstand, im nächsten Jahr enger zusammenzuarbeiten. Darüber hinaus ist vielen klargeworden, daß es nicht reicht, allein den Kohleausstieg zu fordern, sondern daß die Forderung vielmehr in die Richtung einer anderen Gesellschaft und anderen Form von Wirtschaft gehen müsse. Dieses Anliegen ist natürlich schwierig zu transportieren. Daher wollten wir die Wachstums- und Systemkritik aus dem Degrowth mit unseren Forderungen zum Kohleausstieg verbinden.

Auf den Gedanken, daß man sich fokussieren muß, um zu einer Bewegung zu werden, war man offenbar auch auf der Degrowth-Konferenz gekommen. Die Konferenz war zwar vielfältig aufgestellt, aber gerade wegen ihrer Vielfalt machte sie manchmal auch einen diffusen Eindruck. Das Ganze in Richtung Wissenschaftlichkeit voranzutreiben, empfanden viele als unzureichend. Daraus wuchs das Bestreben, sich ein politisches Ziel zu setzen, um der Bewegung einen aktionsorientierten Rahmen zu geben. Aus diesem Grund war bei den Degrowth-Leuten auch der Wunsch groß, auf Braunkohle und damit auf Klimagerechtigkeit zu fokussieren und sich mit aktionsorientierten Methoden auseinanderzusetzen.

SB: Degrowth als Konzept gegen den Klimawandel ist im Grunde von Vordenkern in Frankreich und Spanien auf theoretischer Basis hergeleitet worden. Auf der Konferenz in Leipzig hatte man dagegen den Eindruck, daß vor allem jüngere Leute die Frage nach einer konkreten Umsetzung gestellt haben.

DH: Genau, und dieses Konzept ist auch aufgegangen. Einige der Teilnehmer hier haben gesagt, daß sie sich ohne die Degrowth-Sommerschule nie auf ein Klimacamp getraut hätten. Für sie war Degrowth ein Anreiz zu kommen und sich das anzuschauen. Am Sonntag auf dem Podium kam das wunderbar zum Vorschein, als sich die Diskussion dahingehend verdichtete, daß eine individuelle Verhaltens- und Konsumänderung nicht für sich allein, sondern im Zusammenhang mit einer kollektiven Organisierung stehen müsse. Beides gehört zusammen. Ich sah darin durchaus einen Fortschritt, zumal die deutschsprachige Degrowth-Debatte schon so ein bißchen auf Kleinprojekte hingeht, wo der Schwerpunkt auf einen individuellen Verhaltensstil im alltäglichen Konsum gelegt ist. Von daher finde ich es wichtig, daß die Klimabewegung und die vielen Leute, die Erfahrungen in der Anti-AKW-Bewegung gesammelt haben, Ideen mit einbringen, wie wir uns kollektiv organisieren und eine Bewegung aufbauen können, die den Druck auf die Straße bringt und von der Straße wieder in die Gesellschaft zurückträgt.

SB: Der Aufruf, sich international zu vernetzen, ist oftmals nur eine Leerformel dafür, daß man im Internet nachschaut, was andere Bewegungen so machen. Für dich scheint der persönliche Kontakt mit Menschen an erster Stelle zu stehen, um eine tragfähige und vor allem entwicklungsinnovative Basis aufzubauen.

DH: Dazu möchte ich ein schönes Beispiel geben. Wir haben einen Gast aus Ecuador eingeladen. Zuvor hatten wir lange darüber diskutiert, ob es Sinn macht, Menschen hierher ins Camp einzuladen, die mit dem Flugzeug kommen müssen. Die Fraktion, die dagegen war, hat darauf bestanden, daß Fliegen den Klimawandel befördert. Aber wir können doch nicht über Klimagerechtigkeit reden, ohne die verschiedenen Stimmen aus dem globalen Süden zu hören! Das wäre ein falsches Signal und mit Degrowth nicht vereinbar. So gesehen bin ich heilfroh, daß wir diesen Gast aus Ecuador hier haben. Weil ich vor zehn Jahren selber einmal in dieser Region gewesen bin, wußte ich, daß die Menschen dort einen interaktiven Widerstand gegen die Ausbeutung von Kupferminen leisten. Im Internet habe ich recherchiert und gefunden, daß es einen Freundeskreis hier in Deutschland gibt, der Soli-Arbeit für diese Dörfer in Ecuador macht, die ihr Land gegen Konzerne, die dort Kupfer abbauen wollen, verteidigen. Dadurch, daß José Cueva auf dem Podium über Rohstoffe und Extraktivismus referiert und gestern abend noch einen Film über den Widerstand dort gezeigt hat, konnten wir viele Kontakte knüpfen. Es haben sich auch Leute gefunden, die das unterstützen wollen. Für mich ist das eine tolle Form von internationaler Vernetzung. Wenn Leute hier ein Forum bekommen, profitieren wir zum einen von ihren Erfahrungen und können zum anderen den Widerstand vor Ort stärken.

SB: Daß der Flugverkehr die Ozonschicht angreift und in der CO2-Bilanz negativ zu Buche schlägt ist unbestritten, aber manchmal wie in diesem konkreten Fall gibt es keine sinnvolle Alternative zum Fliegen. Ansonsten müßte man die Solidarität an den kontinentalen Grenzen abbrechen. Doch wie geht ihr mit Einladungen im europäischen Rahmen um?

DH: Unsere Forderung lautete, daß Leute, die wir innerhalb Europas einladen, über Land einreisen sollen. Als dann Leute aus Spanien einen Kurs hier angemeldet haben, war die Anreise ein Riesenproblem für sie. Bis zu einer gewissen Grenze können wir Fahrkosten erstatten, aber nicht, wenn drei Leute mit dem Zug von Spanien hierherfahren. Die Fahrt übers Land wäre fast zu einem Ausgrenzungskriterium geworden, aber dann haben sie sich mit einem vollbesetzten Auto auf den Weg gemacht. Die Kosten dafür konnten wir aufbringen. Das muß eine irre Reise und große Strapaze für sie gewesen sein, aber es hat das Bewußtsein befördert, daß es nicht gut ist, einfach in den Flieger zu steigen.

SB: Das Klimacamp läuft noch einige Tage. Was würdest du dir als vorgezogenes Schlußwort für die Zukunft wünschen?

DH: Ich habe die Hoffnung, daß ganz viele Leute motiviert sind, kontinuierlich an Degrowth-Projekten weiterzuarbeiten, daß sie nicht nur stöhnen, weil alles schiefläuft und so schrecklich ist, sondern nun wissen, wo ihr Ansatzpunkt ist, um sich in den Protest und Aufbau alternativer Bewegungen einzubringen. Für mich ist die Frage, wie wir die Energiewende hinkriegen, immens wichtig. Wie lassen sich ganz andere Lebens- und Wirtschaftsformen, die nicht so ressourcenintensiv sind, aufbauen? Dazu müssen Diskussionen geführt und Studien erarbeitet werden, wie wir unsere Energie so umverteilen können, daß trotz der massiven Reduzierung noch für alle die Grundversorgung gesichert ist. Das ist natürlich eine Riesenbaustelle. Mein Traum ist, daß sich hier Leute finden, die langfristig an solchen Projekten mitarbeiten, einerseits am Aufbau von Alternativen und andererseits am Widerstand gegen die fossile Industrie.

SB: Dorothee, vielen Dank für dieses Gespräch.


Bunte Fahne von ausgeCO2hlt - Foto: © 2015 by Schattenblick

Der Name ist Programm ...
Foto: © 2015 by Schattenblick


Degrowth-Konferenz in Leipzig 2014 im Schattenblick unter dem Sammeltitel "Aufbruchtage"
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BUERGER → REPORT:
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/ip_buerger_report_bericht.shtml
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/ip_buerger_report_interview.shtml


Klimacamp und Degrowth-Sommerschule 2015 im Schattenblick
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BUERGER → REPORT:

BERICHT/054: Klimacamp trifft Degrowth - Keine Umweltkehr ohne Aufbegehr ... (SB)
BERICHT/055: Klimacamp trifft Degrowth - Kein Feld bleibt aus ... (SB)
BERICHT/056: Klimacamp trifft Degrowth - und nicht allein ... (SB)
BERICHT/057: Klimacamp trifft Degrowth - Das bessere Leben ist der Befreiungsprozeß ... (SB)
BERICHT/058: Klimacamp trifft Degrowth - Kein Gewinn ohne Verlust ... (SB)
INTERVIEW/077: Klimacamp trifft Degrowth - Analyse, Selbstverständnis, Konsequenzen ... John Jordan im Gespräch (SB
INTERVIEW/078: Klimacamp trifft Degrowth - Der Feind meines Feindes ...    Antje Grothus im Gespräch (SB)
INTERVIEW/079: Klimacamp trifft Degrowth - Wehret den Anfängen ...    Regine Richter im Gespräch (SB)
INTERVIEW/080: Klimacamp trifft Degrowth - Geld kann nicht gegessen werden ...    Lyda Fernanda Forero im Gespräch (SB)
INTERVIEW/081: Klimacamp trifft Degrowth - Versorgungskooperatives Selbstverständnis ...    Aktivistin Corinna im Gespräch (SB)

9. September 2015


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang