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INTERVIEW/088: Klimacamp trifft Degrowth - Leute, Orte, Menschheitsworte ...    Heather Milton Lightening im Gespräch (SB)


Erzählte Geschichte des indigenen Widerstands

Klimacamp und Degrowth-Sommerschule im Rheinischen Braunkohlerevier 2015


Heather Milton Lightening ist Co-Vorsitzende der Indigenous Tar Sands Campaign. Sie hat 18 Jahre lang Erfahrung in Organisierungsprozessen gesammelt - von lokalen Projekten bis hin zu internationalen Kampagnen. Ihr Engagement reicht von Lobbyarbeit bei den Vereinten Nationen für die Anliegen indigener Gemeinschaften über Bewegungsaufbau vor Ort bei indigenen Gemeinden bis hin zu Trainings für gewaltfreie direkte Aktionen.

Auf dem Klimacamp und der Degrowth-Sommerschule im Rheinischen Braunkohlerevier berichtete sie unter anderem bei einer Podiumsdiskussion zum Thema "Ziviler Ungehorsam: Notwendig und legitim für den Kampf um Klimagerechtigkeit und Degrowth?" über den Widerstand der indigenen Völker in Nordalberta gegen den Abbau des Ölsands und dessen verheerende ökologische und soziale Folgen. Der Schattenblick nahm die Gelegenheit wahr, ihr einige Fragen zu den Kämpfen der First Nations zu stellen.


Stehend vor einem Zelt - Foto: © 2015 by Schattenblick

Heather Milton Lightening
Foto: © 2015 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Heather, du engagierst dich seit Jahren für die Interessen der First Nations in Kanada. Wie bist du mit dem Widerstand gegen den Abbau des Ölsands in Nordalberta in Kontakt gekommen?

Heather Milton Lightening (HML): Ich habe ungefähr von 2000 bis 2006 für eine Organisation namens Indigenous Environmental Network gearbeitet. Wir veranstalteten damals alljährlich die Mother Earth Gatherings, an denen regelmäßig zwischen 1000 und 2000 Menschen aus ganz Nordamerika teilnahmen, um über Umweltfragen in ihren Gemeinden zu diskutieren. Es handelte sich vor allem um Zusammenkünfte der First Nations, und auf einer von ihnen lernten wir Mitglieder einer Gemeinde der Athabasca kennen. Sie baten uns um Unterstützung - das muß 2005 oder 2006 gewesen sein. Wie sie uns erzählten, entzögen sich die Aktivitäten der Ölkonzerne jeder Kontrolle, was zu einer weitreichenden Zerstörung ihres Landes führe. Um etwas dagegen zu unternehmen, baten sie uns, dorthinzukommen und ihnen zu helfen. Soweit ich mich erinnere, war ich erstmals an diesem Widerstand beteiligt, als wir im Winter 2007 oder 2008 ein Aktionstraining in einem Camp bei der Athabasca Chipewyan First Nation ungefähr 100 Kilometer flußabwärts von der riesigen Grube des Tagebaus durchführten. Es handelte sich um eine Zusammenkunft von Mitgliedern der Gemeinde, bei der wir darüber sprachen, wie direkte Aktionen organisiert werden könnten. Wie erörterten, was man über die Ölindustrie wissen muß, wie man sich gegen sie organisieren kann, und tauschten viele Informationen aus.

So kam es, daß wir uns in diesem Kampf engagierten und mit einer der Gemeinden in der Ölsandregion zusammenarbeiteten. Wir berieten beispielsweise mit verschiedenen Gemeindemitgliedern, wie wir sie mit den benötigten Ressourcen versorgen könnten. Unsere Rolle war stets die der Unterstützung von Menschen, die dort leben und unmittelbar betroffen sind. Ich selbst stamme nicht aus Alberta, sondern aus Saskatchewan. Wir hatten stets das klare politische Selbstverständnis, daß wir für uns selber sprechen können und daß das gleichermaßen für die Gemeinden gilt, mit denen wir zusammenarbeiten. Im günstigsten Fall führen sie einen eigenständigen Entscheidungsprozeß herbei und sagen uns durch ihre Sprecherin oder ihren Sprecher, was zu tun sei. Das geschieht zwar nicht immer auf diese Weise, ist aber unseres Erachtens der Idealfall. Die betroffenen Menschen sprechen für sich selbst, und wir als Organisation unterstützen sie, geben ihnen Informationen und öffnen ihnen Türen zu größeren Netzwerken. So sieht unsere Arbeit aus, die wir im Ölsandgebiet durchzutragen versuchen.

SB: Wie hat sich der Kampf gegen den Ölsandabbau im Zuge eurer Zusammenarbeit mit den lokalen Gemeinden seither weiterentwickelt?

HML: Inzwischen hat sich die Situation erheblich verändert. Zahlreiche Gemeindemitglieder sind aktiv geworden, haben sich organisiert und in verschiedenen Bereichen engagiert. So gibt es beispielsweise eine Gruppe von fünf jungen Frauen aus verschiedenen Gemeinden in Nordalberta, die eine bemerkenswerte Arbeit beim Organisieren des Widerstands leisten. Weil sie diese Aufgabe übernommen haben und Rückhalt in ihren Gemeinden bekommen, können wir uns verstärkt um die Unterstützung von außen kümmern. Einige von ihnen leiten mittlerweile eigene Organisationen, und das ist das bestmögliche Szenario für die indigene Methode, Menschen zum gemeinsamen Eintreten für ihre Interessen zu bewegen. Wir wollen nicht, daß sie sich nach Außenstehenden richten, sondern respektieren ihre Souveränität. Diese Vorgehensweise braucht zwar Jahre, um sich zu entwickeln, und ist natürlich nicht problemlos oder fehlerfrei, auch was mich persönlich betrifft, aber das halte ich für die angemessene Art und Weise zu lernen. Was die Kampagne gegen den Abbau des Ölsands betrifft, wollen wir früher oder später einen Schritt zurücktreten, weil die Menschen vor Ort über die Fähigkeiten und das Wissen verfügen, um aus eigener Kraft erfolgreich zu arbeiten, und uns nicht mehr dafür brauchen, so daß wir anderen Leuten helfen können.

SB: Könnte dieses Modell deines Erachtens direkt auf den Widerstand im Rheinischen Braunkohlerevier übertragen werden oder siehst du Hindernisse aufgrund der hiesigen Verhältnisse und der Lebensweise der Bevölkerung?

HML: Da bin ich mir nicht sicher. Wie ich gestern abend bei der Podiumsdiskussion erzählt habe, haben wir im Laufe der Jahre gelernt, daß die Gemeindemitglieder aus Regionen, in denen solche Projekte geplant oder durchgeführt werden, die Sprecherinnen und Gesichter der Kampagnen sein sollten. Nicht die großen NGOs, sondern die Menschen vor Ort kennen die Lösungen, sie kennen ihre Gemeinden besser als irgend jemand sonst, und das sollten wir anerkennen und sie unterstützen, so wie wir es nach unseren Vorstellungen bewerkstelligen können, so daß diese Vorgehensweise sie und uns respektiert. Die Herausforderung bleibt jedoch, genau herauszuarbeiten, was Solidarität bedeutet, wie sie strategisch eingesetzt werden kann und zur Ermächtigung beiträgt.

Die Kampagne gegen den Abbau des Ölsands wurde schließlich weltweit wahrgenommen. Wir wurden zum Klimacamp in Großbritannien eingeladen, was wirklich eine außergewöhnliche Erfahrung war und viele Türen zu verschiedenen Organisationen im Land geöffnet hat. Das war ein sehr wichtiges Moment, international Beachtung zu finden, sei es bei den Klimakonferenzen oder anderen Zusammenkünften, und sich mit Leuten zu vernetzen. Im Zuge dieser Zusammenarbeit bei den Klimakonferenzen in Kopenhagen und Cancún oder bei internationalen Sozialforen war es sehr hilfreich, daß wir mit unseren Beiträgen über den Ölsandabbau viele Menschen erreichten. Dort berichteten Mitglieder der betroffenen Gemeinden, wir führten Aktionen gegen die Regierung oder die Unternehmen durch, hatten die Medien im Boot und verschafften den Gemeindemitgliedern die Möglichkeit, mit anderen Organisationen zusammenzutreffen, und umgekehrt diesen Organisationen die Gelegenheit, sich anzuhören, was die Betroffenen zu berichten hatten. Und weil deren erzählte Geschichte so wirkungsvoll war, wollten viele Menschen aus aller Welt mit ihnen zusammenarbeiten.

Dies führte dazu, daß Spenden aus aller Welt eintrafen und wir eingeladen wurden, mit verschiedenen anderen Organisationen im Umfeld von Pensionsfonds und Anteilseignern dieser Öl- und Gaskonzerne zusammenzutreffen. Wir lernten die Strategien im Kontext des Ölsandabbaus wie die Finanzierung, die Infrastruktur der Banken und andere Herangehensweisen kennen. Das wäre nicht möglich gewesen, hätten sich nicht Menschen aus anderen Weltregionen, darunter auch den USA, engagiert. Das waren die Schnittstellen, die bahnbrechend für die Kampagnen gegen den Abbau des Ölsands waren.

SB: Welchen Einfluß hatte die weithin wahrgenommene Kampagne in Britannien auf euren Widerstand gegen den Ölsandabbau?

HML: Nach dem Klimacamp in Großbritannien waren viele Menschen motiviert, etwas gegen den Abbau des Ölsands zu unternehmen. Sie gründeten das UK Tar Sands Network und riefen beispielsweise zu einer Aktion gegen Shell mit Gemeinden aus Alberta auf. Es gab einen nationalen Aktionstag, bei dem die Zentrale und andere Einrichtungen des Konzerns im ganzen Land aufgesucht wurden. Da Kanada eine koloniale Beziehung zu Großbritannien hat, erwiesen sich diese Aktionen als eine wirksame Strategie. Jedesmal, wenn solche Aktionen durchgeführt wurden, fand dies Eingang in die Medien, und hinter verschlossenen Türen erörterten die Regierungen beider Länder, warum beispielsweise Aktivisten auf dem Trafalgar Square in London in Erscheinung traten, um die Tar Sands Campaign zu unterstützen. Plötzlich kamen die Dinge sehr schnell in Bewegung. Wir wären nicht darauf gekommen, hätten wir nicht am Klimacamp teilgenommen und dort Leute getroffen, die sich Sorgen machten und aktiv werden wollten.

Wiederum war es entscheidend, daß die Gemeindemitglieder dort präsent waren und für sich selber sprachen, denn das motivierte viele Menschen. Diese Erzählungen führten einen regelrechten Durchbruch herbei. Zum anderen ist die Bereitschaft wichtig, jede sich bietende Gelegenheit zu nutzen. Es hat lange gedauert, in der Kampagne gegen den Ölsand den Stand zu erreichen, den wir heute haben. Wir organisieren vielfältige Aktionen und haben prominente Unterstützer wie Leonardo DiCaprio, Neill Young und andere. Deshalb lautet meine Botschaft an die Menschen hier im Camp und im Rheinischen Braunkohlerevier: Beharrt auf eurem Anliegen, nutzt jede Gelegenheit und gebt nicht auf! Für die jungen Frauen in Alberta, die gegen die großen Ölkonzerne und die kanadische Regierung kämpfen, ist das ungeheuer schwer. Viele von ihnen wurden von ihren eigenen Familien- oder Gemeindemitgliedern wie auch aus der Öffentlichkeit angegriffen, aber sie machen weiter, weil sie ihr Land und ihr Volk lieben. Sie geben nicht auf, auch wenn die Auseinandersetzungen härter werden. Das ist die Resilienz unseres Volkes, und das dürfen wir nie vergessen: Wir müssen Widerstandsfähigkeit entwickeln und uns auf einen langen Kampf einstellen. Unterdessen geht mir ein weiteres wichtiges Ziel nicht aus dem Kopf: Wir müssen den Bau der Mackenzie Valley Pipeline [1] in Nordkanada verhindern! Seit 30 Jahre kämpfen indigene Familien nun schon in zweiter oder dritter Generationen gegen die Öl- und Gaskonzerne. Sie haben den Kampf nicht gewonnen, aber sie haben verhindert, daß an einigen heiligen und wunderschönen Orten gebohrt wird.

Ich richte meinen Blick auf Grassy Narrows, wo die längste Blockade in der kanadischen Geschichte durchgeführt wird. Die jungen Frauen, die diese Blockade 1998 begannen, sind heute Mütter, deren Kinder anfangen, den Kampf weiterzuführen. Auch in dieser Gemeinde sind zwei oder gar drei Generationen im Widerstand. Es braucht seine Zeit und viel Engagement, weshalb ich mich sehr freue, all diese jungen Leute hier im Klimacamp zu sehen. Sie werden eines Tages Kinder, Enkel und Urenkel haben. Wenn sie die Welt mit kritischen Augen sehen, besteht Hoffnung, daß die jüngere Generation von der älteren und nicht zuletzt aus deren Fehlern lernt, besser mit den Herausforderungen umzugehen und tiefgreifendere Veränderungen herbeizuführen. Die Menschen reden darüber, das System zu ändern, den Kapitalismus zu stürzen und die Industrialisierung zu überwinden. Es braucht jedoch seine Zeit, bis unsere Leute den Weg einschlagen, den wir gehen wollen. Das bedeutet, Kinder so aufzuziehen, das sie kritisch denken und die Rolle ihrer Eltern und Großeltern in dieser Hinsicht respektieren. Das wäre mein Beitrag zu dieser Diskussion: Denkt an die Zukunft in Gestalt der kommenden Generationen und was wir ihnen mitgeben wollen, was sie von uns lernen können, und daß wir sie hoffentlich lehren, bessere Menschen zu werden.


Stehend bei einem Diskussionsbeitrag - Foto: © 2015 by Schattenblick

Generationen im Widerstand ...
Foto: © 2015 by Schattenblick

SB: Du hast die Grassy-Narrows-Blockade angesprochen. Welche Bedeutung hat sie für dich persönlich und den Kampf der indigenen Gemeinden im allgemeinen?

HML: Ich weiß noch genau, wie ich eines Tages die Blockade in Grassy Narrows aufgesucht habe. Damals war ich sehr frustriert und dachte, wir könnten nur dann gewinnen, wenn wir mehr in den sozialen Netzwerken im Internet oder dergleichen unternähmen. Ich sprach darüber mit einer Frau aus dieser Gemeinde, worauf sie zu mir sagte: Wir gewinnen vielleicht nicht in dem Sinn, den du darunter verstehst. Es kommen jedoch immer mehr von unseren eigenen Leuten wegen der Blockade auf dieses Land hier zurück, sie singen unsere Lieder, lernen unsere Sprache und nehmen Kontakt zu sich selber auf. Das ist für mich viel wichtiger als die Blockade selbst oder als zu gewinnen. Ich sehe die Wiederauferstehung des Lebens in unserem Volk. Es geht nicht zuletzt darum, den Augenblick und die kleinen Dinge zu erleben und die Welt mit anderen Augen zu sehen. Das Gespräch mit dieser Frau war für mich eine Begegnung, die mich Demut gelehrt hat. Sie war dankbar dafür, daß die Blockade fortgeführt wurde, Menschen in ihre Gemeinde kamen und junge Leute zurückkehrten.

In Kontrast zu den pompösen Zielen der großen NGOs war das wirklich bodenständig, und ich versuche, mich immer wieder an diese Begegnung und die wunderbare Geschichte zu erinnern, weil wir oft die eigentliche Erfolge unserer Arbeit übersehen und derart auf ferne Ziele fixiert sind, daß wir nicht einmal die Siege feiern, die wir davongetragen haben. Deshalb hoffe ich sehr, daß sich die Menschen hier die Zeit nehmen, sich selber dafür zu gratulieren, daß sie schon so lange in diesem Kampf engagiert sind, und in diesem Sinne ihre Erfolge würdigen, genießen und feiern. Dann werden wir nicht ausgebrannt enden, sondern wissen, daß wir etwas bewegen und nicht angesichts dieser gigantischen Konzerne auf ewig in einem Hamsterrad auf der Stelle drehen. Wir sind Teil eines weltweiten Kampfs, der durchaus kleine Erfolge zeitigt, und verschieben Dinge, wohin sie gehören. Wie immer im Leben braucht ein Samen, den wir in die Erde legen, Zeit, um zu keimen und zu wachsen. Unsere Generation mag einige Samen aussäen, aber es bedarf der nächsten Generation, damit aus ihnen Pflanzen heranwachsen und zu etwas Schönem aufblühen.

SB: Der Widerstand gegen den Abbau des Ölsands sieht sich mit massiver Repression konfrontiert. Welche Formen und Mittel der Gegenwehr hältst du für angemessen und geboten?

HML: Diese Frage ist schwer zu beantworten. Gestern abend habe ich bei der Podiumsdiskussion über zivilen Ungehorsam gesprochen. Unsere Gemeinden haben sehr unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich direkter Aktionen und zivilen Ungehorsams. Einige sind aus moralischen Gründen der Überzeugung, daß Gewaltfreiheit die ihnen angemessene Richtung sei. Sie wollen die Aggression des Staates nicht mit gleicher Münze zurückzahlen, weil sie andernfalls ihre moralische Überlegenheit einzubüßen meinen. Andere Gemeinden sind der Auffassung, daß die Zerstörung von Gegenständen oder Blockaden gebotene Optionen sind. Ich arbeite mit sehr vielen Gemeinden zusammen, die alle ihre eigene Geschichte haben, und deren Souveränität, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, ich respektiere. Ich kann weder das eine noch das andere für allein angemessen erklären, weil es ihre Wahl ist. Manche engagieren sich in gewaltfreien Aktionen, wobei auch das ein breites Spektrum umfaßt, andere neigen zu riskanteren Aktionen, die ich nicht als gewalttätig bezeichnen möchte, weil dies zunächst einer Klärung dieses Begriffs bedürfte. Es hängt stets von den jeweiligen Umständen ab.

Wir haben in Kanada eine Geschichte mehrerer bewaffneter Besetzungen, gegen die das Militär aufmarschierte und mit massivsten Mitteln der Repression vorging. Wir sehen uns staatlicher Repression und Brutalität der Polizei ausgesetzt, leben aber nicht in einem Land, in dem Menschen verschwinden und umgebracht werden, weil sie ihre Meinung frei äußern. Wenngleich in Kanada vieles im argen liegt, ergeht es uns immer noch besser als Menschen in vielen anderen Ländern. Das heißt jedoch nicht, daß wir nicht um ein gutes Leben für unser Volk kämpfen sollten. Daran ändert sich nicht das geringste, wenn wir es auch nicht mit einem Militärregime oder Konzernen zu tun haben, die wie in Kolumbien Todesschwadrone anheuern, um Leute umbringen zu lassen. Ich will nicht ausschließen, daß es auch in Kanada soweit kommen kann, aber vorerst ist das noch nicht der Fall.

SB: Welchen Eindruck hast von der gemeinsamen Diskussion und dem persönlichen Austausch hier im Klimacamp gewonnen?

HML: Ich finde es sehr inspirierend, daß die Degrowth-Bewegung und die Klimabewegung zusammengefunden haben, denn wie ich höre, gibt es einige Unterschiede zwischen diesen beiden Strömungen. In der nordamerikanischen Linken verhält es sich ähnlich, da auch dort verschiedene Sektionen unterschiedliche Ansätze vertreten. Der Witz daran ist doch, daß wir im Endeffekt, wenn man all diese Kontroversen beiseite schiebt, das gleiche Ziel haben. Wir wollen ein gutes Leben und Auskommen, nicht nur für uns, sondern auch für künftige Generationen. Wir befinden uns auf der gleichen Seite, gehen aber verschiedene Wege, um dorthin zu gelangen. Ich verfolge aufmerksam, wie sich Leute hier in Europa organisieren und Koalitionen bilden, wie sie mit politischen Differenzen strategisch umgehen. Ich erfahre dabei, was funktioniert hat und was nicht. Wohin man auch geht, trifft man Menschen, die wichtige Erfahrungen gemacht haben, von denen man lernen kann. Ich würde nie sagen, daß jemand genug gelernt hat, egal wie alt er ist.

Ich habe mit großem Interesse gehört, wie eine Bewegung gegen die Einlagerung nuklearer Abfälle in Frankreich eine Vielfalt taktischer Varianten erfolgreich angewendet hat. Sie konnte auf diese Weise auch in anderen Kämpfen manche Erfolge erzielen. Solche Geschichten finde ich sehr spannend, weil sie darüber Aufschluß geben, wie andere Bewegungen mit bestimmten Herausforderungen umgegangen sind. Wir haben uns manchmal in unseren Strategien festgefahren. Um diese Kiste zu verlassen und innovativ zu werden, hilft es weiter, zu beobachten und zu hören, was andere Leute machen, und uns nicht zuletzt mit fehlgeschlagenen Ansätzen zu beschäftigen. Auch und gerade aus Fehlern kann man sehr viel lernen.

Die weltweite Herausforderung besteht meines Erachtens darin, daß es keine Straßenkarte der Dekolonisierung, Deindustrialisierung und Überwindung des Kapitalismus gibt. Das kann man in keinem Buch nachlesen, weil wir es schlichtweg nicht wissen. Wir konfrontieren uns erstmals in der Geschichte der Menschheit mit dieser Herausforderung. Es handelt sich gewissermaßen um Versuch und Irrtum. Treffen verschiedene Initiativen wie hier im Klimacamp und in der Degrowth-Sommerschule zusammen, kann man gemeinsam herausarbeiten, was funktioniert hat und was nicht, welche Fehler gemacht wurden. Diese Erfahrungen zu teilen, halte ich für außerordentlich wertvoll.

SB: Heather, vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnote:

[1] Die Mackenzie Valley Pipeline ist ein seit den frühen 70er Jahren geplantes Projekt, Erdgas aus der Beaufort Sea über eine Strecke von mehr als 1200 km durch die Nordwestterritorien Kanadas zu befördern und an die Pipelines in Nordalberta anzubinden. Das Vorhaben wurde aufgrund einsetzenden Widerstands zeitweise auf Eis gelegt, 2004 jedoch mit dem neuen Ansatz wieder aufgegriffen, Erdgas durch die arktische Tundra zu transportieren. Am 11. März 2011 billigte die kanadische Regierung das Projekt, obgleich es mit erheblichen Gefahren für Umwelt und Klima verbunden ist und nicht zuletzt den Abbau des Ölsands in Alberta zusätzlich befeuern würde.


Degrowth-Konferenz in Leipzig 2014 im Schattenblick unter dem Sammeltitel "Aufbruchtage"
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Klimacamp und Degrowth-Sommerschule 2015 im Schattenblick
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1. Oktober 2015


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