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INTERVIEW/092: Klimacamp trifft Degrowth - Nicht auf Kosten der eigenen Strategie ...    Aktivistin Maria im Gespräch (SB)


Rechtsberatung und -hilfe in eigener Hand

Klimacamp und Degrowth-Sommerschule im Rheinischen Braunkohlerevier 2015


Die vom Klimacamp und der Degrowth-Sommerschule im Rheinischen Braunkohlerevier ausgehende Besetzung des Tagebaus Garzweiler hat die von den deutschen Leitmedien lange ausgeblendete Problematik der Braunkohleförderung und -verstromung auf spektakuläre Weise in den Fokus öffentlicher Wahrnehmung gerückt. Wer die Ereignisse Mitte August verfolgt hat, konnte unmittelbar nachvollziehen, warum die juristische Kompetenz der Aktivistinnen und Aktivisten im Kampf gegen die Kohle unverzichtbar ist und zu den keinesfalls zu vernachlässigenden Komponenten einer wirkmächtigen Vorgehensweise gehört.

Im Gespräch mit dem Schattenblick erläuterte Maria vom Ermittlungsausschuß dessen Arbeitsweise, die das Resultat eines anhaltenden Prozesses der Auseinandersetzung ist, die lange vor dem diesjährigen Klimacamp begonnen hat und auch in Zukunft weitergeführt wird. Wie sie insbesondere hervorhob, ist in diesem Zusammenhang die eigenständige Aneignung juristischen Wissens, die gegenseitige Unterstützung der Aktivistinnen und eine gleichberechtigte Entfaltung der Handlungskompetenz eine konsequente Strategie der Selbstermächtigung im Widerstand.


Schattenblick (SB): Maria, ihr organisiert hier im Klimacamp einen Ermittlungsausschuß. Könntest du erzählen, worum es dabei geht?

Maria: Es gab bisher in jedem Klimacamp einen Ermittlungsausschuß. Wir kümmern uns darum, Rechtsberatung vor einer Aktion wie der am Wochenende zu leisten, und behalten während der Aktion den Überblick darüber, wer gerade in Gewahrsam ist oder wo Menschen rechtliche Hilfe benötigen.

SB: Wurde der Ermittlungsausschuß in Reaktion auf bestimmte Zwischenfälle ins Leben gerufen oder habt ihr ihn vorbeugend eingerichtet?

Maria: Es ist erfahrungsgemäß bei größeren Aktionstagen immer sinnvoll, einen Ermittlungsausschuß dabeizuhaben. Dieser Ermittlungsausschuß hier ist aus der Antirepressionsgruppe Rheinisches Revier entstanden. Das ist eine Gruppe, die hier im Rheinland kontinuierlich zu juristischen Klimakämpfen arbeitet und beispielsweise Menschen bei Prozessen unterstützt.

SB: Wie sieht eure Arbeit innerhalb des Klimacamps im einzelnen aus?

Maria: Innerhalb des Camps geht es hauptsächlich um Rechtsberatung. Sowohl in Form von Infoveranstaltungen und einer speziell aufs Ruhrgebiet zugeschnittenen Rechtshilfebroschüre als auch offenen Sprechstunden. Durch die offenen Sprechstunden haben Einzelpersonen und Bezugsgruppen die Möglichkeit, sich individuell beraten zu lassen. Zudem ist das Klimacamp dieses Jahr angenehm transnational. Was auch bedeutet, daß viele Menschen dabei sind, für die andere Gesetze gelten als für Menschen mit deutschem Paß. Gerade bei letzterem mußten wir noch viel dazulernen. Darüber hinaus waren wir im Vorfeld des Klimacamps auch für dessen Organisatorinnen ansprechbar. Während des ganzen Camps haben wir zudem ununterbrochen ein Handy in Bereitschaft, falls Menschen bei oder nach Aktionen rechtliche Hilfe benötigen.

SB: Habt ihr neben euren eigenen Erfahrungen auch Juristinnen an der Hand, falls ihr auf Probleme trefft, bei denen ihr nicht weiterkommt?

Maria: Wir haben immer einige juristisch sehr erfahrene Menschen im Ermittlungsausschuß dabei, und darüber hinaus bestehen Kontakte zu externen Anwältinnen.

SB: Wie geht ihr konkret vor, wenn ihr über Zwischenfälle informiert werdet, bei denen eure Unterstützung benötigt wird?

Maria: Wir versuchen zunächst einmal, uns von hier aus einen Überblick zu verschaffen und diesen laufend zu aktualisieren und zu protokollieren. Zu diesem Zweck haben wir eine Struktur entwickelt, wie wir aufschreiben, wer gerade wo in Gewahrsam ist. Ein Teil dieser Struktur besteht zum Beispiel aus einer großen Landkarte an der Wand, auf der wir markieren, wo was passiert und wo Menschen in Gewahrsam sind. Dann überlegen wir gemeinsam, wie wir auf den Zwischenfall reagieren können. Ist zum Beispiel ein Mensch in Gewahrsam genommen worden, müssen wir oft erstmal diverse Polizeistationen durchtelefonieren, um herauszufinden, wo der Mensch steckt. Und auch die Abholung will koordiniert werden, wenn die Menschen endlich wieder freigelassen wurden.

SB: Legt ihr Wert darauf, diese Unterstützung soweit wie möglich in Eigenregie zu organisieren?

Maria: Wir versuchen schon, möglichst unabhängig zu arbeiten, aber wenn es notwendig ist, haben wir auch Anwältinnen, die wir ansprechen können und die Angeklagte bei Prozessen unterstützen. Es gehört zu unseren Aufgaben, diese Kontakte zu vermitteln. Wir vermitteln aber auch Kontakte zu Laienverteidigerinnen: Bei diesem Konzept geht es darum, daß sich Aktivistinnen gegenseitig vor Gericht verteidigen und keine externe Anwältin dazuholen, sondern sich gemeinsam das erforderliche juristische Wissen aneignen und den Prozeß gleichberechtigt führen.

SB: Was ist aus deiner Sicht der Vorteil dieses Konzepts?

Maria: Für mich besteht der Vorteil bei einer Laienverteidigung darin, daß ich mehr Kontrolle über einen Gerichtsprozeß behalten kann und auch selber bestimme, welche Strategie ich wähle. Wenn ich einen anderen Menschen mit Laienverteidigung unterstütze, ist mir aber auch eine gewisse Eigeninitiative der Betroffenen wichtig. Laienverteidigung ist keine Dienstleistung, sondern ein gemeinsames Aneignen von Handlungsmöglichkeiten vor Gericht.

SB: Auf welche Weise tauscht ihr euch mit anderen Menschen aus, die sich in dem von dir beschriebenen Sinn engagieren?

Maria: Es gibt zum einen ein Antirepressionsnetzwerk, und zum anderen finden regelmäßig Prozeßtrainings statt, wo man professionell lernt, wie man mit Prozeßsituationen umgehen kann und an welchen Stellen man welche Handlungsmöglichkeiten hat.

SB: Bekommt ihr bei eurer Arbeit manchmal Probleme mit der Gegenseite, sei es, daß ihr unter Beobachtung steht oder behindert werdet?

Maria: RWE und Polizei versuchen hier auf verschiedene Weise, juristisch gegen die Proteste vorzugehen. Der Ermittlungsausschuß selbst hatte noch keine Probleme, aber Menschen, die an Aktionen teilnehmen, werden im nachhinein oft mit Anklagen konfrontiert. Eine Strategie, die RWE im letzten Jahr angewandt hat, waren Unterlassungserklärungen. Dabei handelt es sich um eine zivilrechtliche Möglichkeit, beispielsweise Menschen, die bei einer Zugblockade dabei waren, hinterher zu zwingen, ein Papier zu unterzeichnen, auf dem steht, daß sie sich nie wieder an Blockaden in diesem Bereich beteiligen.

SB: Auf welcher rechtlichen Grundlage setzt RWE solche Maßnahmen durch?

Maria: Auf dem Betriebsgelände hat RWE natürlich Hausrecht, weshalb ein häufig angewandter Straftatbestand Hausfriedensbruch ist. Hingegen ist der Wald im Umfeld der Tagebaue nach wie vor öffentlich zugänglich und darf auch betreten werden.

SB: Gibt es im Umfeld des Klimacamps, zu dem hier sehr viele Menschen zusammengekommen sind, sichtbare Formen der Überwachung oder Kontrolle?

Maria: Ja, RWE hat unter anderem im Umfeld des Tagebaus Garzweiler Kameras aufgestellt, um die Tagebaukante zu überwachen. Zudem setzt der Konzern hier seit einigen Jahren Security ein, die derzeit vermehrt im Einsatz ist. Für den Aktionstag am Samstag rechnen wir auch mit einem größeren Polizeiaufgebot. Außerdem sind in der Woche vor dem Prozeß Menschen, die auf dem Weg zur besetzten Wiese waren, in eine gewaltvolle Autokontrolle geraten und mußten - ohne rechtliche Begründung - eine Nacht auf der Polizeistation verbringen.

SB: Maria, vielen Dank für dieses Gespräch.


Klimacamp und Degrowth-Sommerschule 2015 im Schattenblick
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20. Oktober 2015


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