Schattenblick → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT


INTERVIEW/119: TTIP Nein danke - Bündnis breit und Augen weit ...    Wiebke Koepsell im Gespräch (SB)


Von Hannover nach Kobane

Demonstration gegen TTIP am 23. April 2016 in Hannover


Die Türkei ist in aller Munde. Ihre Regierung mißachtet Meinungs- und Pressefreiheit, bedroht oppositionelle Kräfte mit langjährigen Haftstrafen und führt im Südosten des Landes Krieg gegen die eigene Bevölkerung. Zugleich übernimmt der NATO-Staat eine zentrale Aufgabe in der EU-europäischen Flüchtlingsabwehr und ist als Partner des Versuchs, in Syrien einen Regimewechsel zu bewirken, unentbehrlich. Offensichtlich Gründe genug, um Präsident Recep Tayyip Erdogan und die AKP-Regierung mit Samthandschuhen anzufassen, anstatt sich aus dem Bündnis mit Ankara völlig zurückzuziehen.

Das opportunistische Manövrieren deutscher Außenpolitik fällt der linken und säkularen Opposition im Lande desto mehr auf die Füße, als sich die deutsche Beteiligung am Ausbau der Präsidialmacht Erdogans nicht auf die Billigung seiner repressiven Politik beschränkt. In der Bundesrepublik selbst werden die Staatsschutzinteressen der türkischen Regierung durchgesetzt, und das durchaus in Zusammenarbeit mit Gewaltorganen, von denen die antidemokratische Unterdrückung der türkischen und kurdischen Bevölkerung ausgeht. Obwohl selbst Politiker bürgerlicher Parteien die Aufhebung des Verbots der PKK fordern, die seit mindestens 15 Jahren das Ziel eines eigenen Staates aufgegeben hat und einen Friedensprozeß mit Ankara anstrebt, werden in der Bundesrepublik weiterhin politische Strafverfahren gegen angebliche Vertreter der kurdischen Organisation aufgrund des Vereinigungsstrafrechts nach Paragraph 129 b wegen unterstellter Mitgliedschaft in der PKK durchgeführt.

Dementsprechend stumm bleibt man in Berlin, wenn die einzige linke Oppositionspartei HDP aufgrund der physischen Bedrohung ihrer Abgeordneten das Parlament verläßt oder wenn den Gewerkschaften am 1. Mai der traditionelle Aufmarsch am Taksim-Platz untersagt wird. 20.000 Polizisten wurden aufgeboten, um den Arbeiterinnen und Arbeitern in Istanbul zu zeigen, daß sie gar nicht erst auf den Gedanken kommen sollten, kämpferisch für ihre Interessen einzutreten. Wer dies doch tat und zu dem symbolträchtigen Ort marschierte, anstatt den angebotenen Ausweichplatz zu benutzen, wurde so massiv angegriffen, daß zahlreiche Verletzte und ein Todesopfer auf der Seite der Demonstranten zu beklagen sind. Auch in der Türkei steht die soziale Frage im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Auseinandersetzung, und sie soll auch dort zugunsten der einheimischen Geldeliten und ausländischen Investoren beantwortet werden.

So verfolgt die Bundesregierung nicht nur im Fall des transatlantischen Freihandels die Interessen einer Minderheit der Bevölkerung und opfert die unterstellten Werte von Freiheit und Demokratie den Interessen des Kapitals. Unionsparteien und SPD wissen genau, welcher Klientel sie vor allem verpflichtet sind. Um so unverzichtbarer ist die Formierung einer Opposition, die sich nicht nur über die offenkundige soziale Ungerechtigkeit empört, sondern die mit TTIP und CETA bezweckte Einspeisung letzter noch nicht ökonomisierter Ressourcen menschlicher und natürlicher Art in die Kapitalverwertung in den Kontext einer Gesellschaftsordnung stellt, die es grundsätzlich zu verändern gilt.

So war auch in Hannover der Gedanke virulent, daß es um mehr als die Verhinderung dieser Freihandelsabkommen geht. Unter den Demonstrantinnen und Demonstranten, die dem etwas abgewinnen können, befand sich auch Wiebke Koepsell. Die VW-Arbeiterin ist in der IG Metall organisiert und hat sich im Rahmen einer internationalistischen Brigade am Wiederaufbau der vom Islamischen Staat (IS) weitgehend zerstörten nordsyrischen Stadt Kobane beteiligt. Was sie dabei erlebt und gelernt hat, zeigt, daß der grenzenlosen Aneignung im Namen des Kapitals die Solidarität eines grenzüberschreitenden Basisaktivismus entgegenzustellen nicht die schlechteste Möglichkeit ist, aus der Konkurrenz und Isolation der Marktsubjekte auszubrechen.


Beim Interview auf dem Opernplatz - Foto: © 2016 by Schattenblick

Wiebke Koepsell
Foto: © 2016 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Frau Koepsell, was hat Sie dazu veranlaßt, sich am Wiederaufbau von Kobane zu beteiligen?

Wiebke Koepsell (WK): Als ich im Fernsehen den Kampf um Kobane gegen den IS verfolgt habe, war ich vom Mut dieser Menschen begeistert, vor allem aber davon, daß sich so viele Frauen aktiv daran beteiligt haben. Als ich hörte, daß die ICOR (International Coordination of Revolutionary Parties and Organizations) eine Solidaritätsbrigade zum Aufbau eines Gesundheits- und Sozialzentrums nach Kobane schicken wollte, entschied ich mich sofort dazu, mein Wissen und Können in den Wideraufbau mit einfließen zu lassen.

SB: Inwiefern waren Sie durch Ihre Arbeit bei VW dafür qualifiziert?

WK: Ich bin natürlich kein Maurer oder Tischler, sondern Industriemechaniker, aber ich kann schweißen und flexen, Fertigkeiten, die man dort auch gebrauchen konnte.

SB: Wie ist die Brigade überhaupt nach Kobane gekommen?

WK: Wir sind zunächst in die Türkei geflogen und von dort über Suruc nach Kobane eingereist. Insgesamt waren wir 170 Leute aus zehn verschiedenen Ländern, aber hauptsächlich aus Deutschland. Darunter waren Metaller, überhaupt viele Gewerkschafter, aber auch Marxisten, Leninisten, Autonome, sogar Jugendliche, die dort beim Wiederaufbau mithelfen wollten.

SB: Sie haben dann vier Wochen lang praktische Aufbauarbeit geleistet. Könnten Sie etwas dazu sagen?

WK: Es ging, wie gesagt, um den Aufbau eines Gesundheitszentrums. Das Gebäude dazu mußte neu erstellt werden. Als ich dort war, haben wir vor allem die Baustelle eingerichtet. Es war ja nichts da. Wir haben Container aufgestellt und Schattenplätze errichtet, was bei einer Temperatur von 40 Grad unerläßlich ist. Wir haben den Boden geebnet und den Keller gegraben und das Gießen der Türstürze aus Beton vorbereitet. Jeden Tag wurde gearbeitet, aber am 25. Juni gab es einen feigen Anschlag des IS, weswegen wir aus der Stadt evakuiert wurden. Daher konnten wir nicht mehr direkt vor Ort arbeiten, haben aber den Bau weiter vorbereitet, indem wir beispielsweise Alka-Ziegel aus Lehm hergestellt haben, auch wegen des ökologischen Gesichtspunktes. Lehm dämmt hervorragend und schafft ein gutes Raumklima sowohl im Winter wie im Sommer. Außerdem gibt es Lehm dort vor Ort. Wir haben ausprobiert, welche Zusammensetzung man nehmen mußte, konnten aber die richtige Mischung nicht finden. Ältere Leute aus Kobane, die früher noch mit Lehm gebaut hatten, zeigten uns, wie das geht, so daß wir alle Ziegel selber herstellen und danach das Haus von außen bekleiden konnten.

SB: Demnach haben Sie in Kobane auch etwas gelernt?

WK: Ja, ganz viel. Es ist ein ganz anderes Bauen als hier in Deutschland, weil sie dort nur alte Betonmischer haben und das Material mit Schubkarren überall hingefahren werden mußte.

SB: Wie haben Sie Kobane vorgefunden, als Sie dort ankamen?

WK: Wir erreichten Kobane relativ früh nach dem Ende der Kämpfe. Die Stadt war zu 80 Prozent zerstört, kein Haus, das nicht beschädigt war. Die Straßen waren aber schon freigeräumt, und man hatte das Gebiet weitgehend von Minen befreit. Es gab auch schon wieder Leben in der Stadt, Geschäfte, in denen man Lebensmittel und so weiter kaufen konnte, hatten wieder geöffnet, obwohl die Gebäude selbst noch zerstört waren. Auch haben Leute wieder in den Häusern gewohnt. Die Spuren des Krieges waren dennoch allgegenwärtig.

SB: Haben Sie auch etwas von den Veränderungen innerhalb der Gesellschaft dort mitbekommen?

WK: Ja, die Menschen sind voller Hoffnung und haben den festen Willen, diese Stadt wieder aufzubauen. Sie haben den IS besiegt und wollen dort wieder leben. Sie haben eine Selbstverwaltung errichtet, in der viele Frauen arbeiten. Zudem gibt es sowohl einen Bürgermeister als auch eine Co-Bürgermeisterin, also immer eine Doppelspitze. Wir haben beide kennengelernt und auch andere Frauen, die dort politisch aktiv sind und etwas zu sagen haben. Das Gesundheitszentrum haben wir übrigens zusammen mit Bauarbeitern aus Kobane gebaut, was sehr wichtig war, um die Freundschaften zu vertiefen und überhaupt Baufortschritte zu machen, was sonst nicht möglich gewesen wäre.

SB: Was halten Sie persönlich von der deutschen Türkeipolitik und dem Flüchtlingsdeal gerade in bezug auf die kurdische Freiheitsbewegung?

WK: Naja, der Flüchtlingsdeal ist eigentlich kein Deal, faktisch macht Europa die Grenzen dicht, läßt die Menschen im Mittelmeer ertrinken und übt kein Wort der Kritik an der Türkei. Nun war es auch so, daß wir nicht offiziell über die Grenze nach Kobane gekommen sind, sondern über einen Zaun klettern mußten. Aber im Moment können wir nicht mehr nach Rojava, weil sie an der Grenze scharf auf Flüchtlinge wie auch auf humanitäre Helfer schießen. Das Gebäude in Kobane ist zwar fertig, aber es sollte noch eine Solaranlage installiert werden.

SB: Heißt das, daß die Blockade von Rojava seitens der Türkei praktisch aufrechterhalten bleibt?

WK: Ja, sie hat sich sogar verstärkt. In Rojava sterben Menschen, weil sie keine Medikamente kriegen. Auch ist es schwieriger geworden, Baumaterial oder Lebensmittel dorthin zu schaffen. Darüber hört man kein kritisches Wort. Auch daß Volker Schwenck, der Leiter des ARD-Studios in Kairo, ausgewiesen wurde, hat die Bundesregierung nicht weiter verstimmt. Zu Rojava gibt es von seiten Deutschlands keine diplomatischen Beziehungen. Darüber hinaus hält Deutschland im Gegensatz zu anderen europäischen Staaten nach wie vor am PKK-Verbot fest. Dabei hat die PKK nachweislich in Schengal die Jeziden vor dem sicheren Tod durch den IS gerettet. Tatsächlich wird alles getan, um die Flüchtlinge aus Deutschland fernzuhalten, was meiner Meinung nach dem geltenden Asylrecht widerspricht, da jeder Mensch ein Recht auf Asyl hat. Statt dessen kommen die Flüchtlinge in Griechenland gleich in Internierungslager.

SB: In der Brigade sind Sie mit verschiedenen linksgesonnenen Menschen zusammengekommen. Ist es für sie vorstellbar, daß solche Aktionen auch für die Linke hier in der Bundesrepublik zum einigenden Faktor werden könnten?

WK: Ich glaube, daß es auf verschiedenen Feldern gute Beispiele gibt, wie sich linke Kräfte zusammenschließen oder bei einem Thema gemeinsam zusammenarbeiten könnten. Der Maßstab muß natürlich sein, daß man auf gleicher Augenhöhe ist, ohne natürlich seine Unterschiede zu verschweigen.

SB: Das Bündnis gegen TTIP und CETA tritt für einen gerechten Welthandel ein. Man kann natürlich die Frage stellen, ob es so etwas wie einen gerechten Handel im Kapitalismus überhaupt geben kann und was radikale Linke dazu bewegen könnte, sich in diesem Bündnis zu engagieren. Wie sehen Sie das?

WK: Es kann im Kapitalismus keinen gerechten Handel geben. Ein Freihandelsabkommen steht für die Freiheit des Kapitals, für die Menschen gibt es nur Grenzen. Daher glaube ich, daß TTIP oder CETA dazu führen werden, daß es den Menschen an sich schlechter geht. Das Kapital macht die Profite. So ist es nicht überraschend, daß das Abkommen zwischen Mexiko und den USA zu Arbeitslosigkeit und allgemeinem Lohnabbau geführt hat. Daß man sich vereint und gemeinsam gegen TTIP und CETA aktiv wird, finde ich gut, unabhängig davon, daß die Lösungsansätze der einzelnen Organisationen wahrscheinlich jeweils unterschiedlich sind. Tatsächlich ist das System das Problem.

SB: Frau Koepsell, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnoten:



Demonstration gegen TTIP in Hannover im Schattenblick
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BUERGER → REPORT:


BERICHT/080: TTIP Nein danke - Demo auf dem Nebengleis ... (SB)
BERICHT/082: TTIP Nein danke - Kurze Halbwertzeiten ... (SB)
INTERVIEW/113: TTIP Nein danke - unaufgeregt und skeptisch ...    Lori Wallach im Gespräch (SB)
INTERVIEW/114: TTIP Nein danke - neoglobal konsequent ...    Ulrich Schneider im Gespräch (SB)
INTERVIEW/115: TTIP Nein danke - Nagel am Sarg ...    Georg Janßen im Gespräch (SB)
INTERVIEW/116: TTIP Nein danke - alte Fronten, neue Gräben ...    Tobias Pflüger im Gespräch (SB)
INTERVIEW/117: TTIP Nein danke - Lücken schließen ...    Sefariye Eksi und Abdurrazzak Yayar im Gespräch (SB)
INTERVIEW/118: TTIP Nein danke - Rock von unten ...    Rainer von Vielen im Gespräch (SB)


6. Mai 2016


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang