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AFRIKA/001: Interview mit Alixandra Fazzina über die Massenflucht aus Somalia (ROG)


Reporter ohne Grenzen - Newsletter 2/2010 - 24. Juni 2010

Alixandra Fazzina über die Massenflucht aus Somalia: "Für niemanden gab es ein glückliches Ende"

Eine Million Schilling - umgerechnet mehrere hundert Euro: So viel hat die hoch schwangere Somalierin Salima an Schlepper bezahlt, um über das Meer in den Jemen zu gelangen. Tausende Somalier versuchen jährlich über den Golf von Aden zu fliehen. Die Fotojournalistin Alixandra Fazzina hat einige von ihnen auf einem Teil der lebensgefährlichen Odyssee begleitet. Fazzinas Bild- und Textreportage gehört zu den Höhepunkten in dem neuen ROG-Bildband. Anja Viohl sprach mit der britischen Reporterin.


ROG: Wie kamen Sie dazu, diese lebensgefährliche Reportage zu machen?

Fazzina: Als ich anfing, mich mit der Problematik zu befassen, gab es darüber nur einige kurze Medienberichte, meist online, oder nur gelegentlich Meldungen in der Zeitung. Diese Berichte erschienen nur, wenn eine große Zahl von Flüchtlingen beim Überqueren des Golfs von Aden starb. Aber als Leser wusste man nichts Genaueres über die Geschichte der Menschen, die Gründe ihrer Flucht und was später aus ihnen wurde. Niemand hatte das bisher dokumentiert.

ROG: Wie sind Sie das Flüchtlingsthema in Ihrer Reportage angegangen?

Fazzina: Ich versuchte, den Weg und die Erlebnisse von Flüchtlingen auf einem Boot, das die somalische Küste in Richtung Jemen verließ, zu dokumentieren. 135 Menschen waren an Bord. Als ich versuchte, die Gruppe auf der jemenitischen Seite wieder zu finden, stellte ich fest, dass nur elf überlebt hatten.

ROG: Was war passiert?

Fazzina: Das Schiff kenterte nicht weit von der jemenitischen Küste entfernt. Einige Menschen waren offenbar desorientiert und schwammen in die falsche Richtung aufs Meer hinaus. Schätzungen zufolge stirbt ein Flüchtling von 20 auf der Flucht von Somalia in den Jemen. Aber niemand kennt die genauen Todeszahlen.

ROG: In ihrer Reportage erzählen Sie auch die Geschichte der 19-jährigen Salima...

Fazzina: Ja, Salima gehörte wirklich zu den schlimmsten Fällen. Ich traf sie in einem Haus von Menschenhändlern in einem Slum im jemenitischen Aden: Vor Ihrer Flucht hatte sie alles verloren, ihr Ehemann und jüngeres Kind wurden getötet, ihr Haus in Mogadischu wurde getroffen. Sie war im siebten Monat schwanger, als Sie ihre Heimat verließ und bekam das Kind auf dem Boot. Sie war natürlich vollständig traumatisiert, als sie mit absolut gar nichts in den Slums ankam. Sie wurde dann von Schmugglern aufgenommen, die sie nach Saudi Arabien schicken wollten. Ich versuchte herauszufinden, was mit ihr geschah, aber ich kann nur vermuten, dass sie dort verkauft wurde, um ein Leben in Sklaverei zu führen, um Hausmädchen zu werden oder ähnliches. Aber alle Flüchtlinge hatten eine traurige Geschichte, für niemanden gab es ein glückliches Ende.

ROG: Wie sind Sie mit den Schleppern in Kontakt getreten? Wie haben Sie deren Erlaubnis erhalten, Fotos von den Flüchtlingen zu machen?

Fazzina: Es dauerte eine Weile, bis ich einen Kontakt zu den Menschenschmugglern aufbauen konnte. Es ist sehr schwierig, in Somalia zu arbeiten, wenn man alleine unterwegs ist. Man muss viele Prozeduren durchmachen, um dort arbeiten zu können. Man spricht zum Beispiel mit den Stadtobersten, den Clanältesten, um wirklich in die Gesellschaft vorzudringen. Erst, als die Leute begannen, mein Gesicht zu kennen und wussten, was ich tat und warum genau ich vor Ort war, haben sie mich näher in ihre Gemeinschaft gelassen. Ich lernte dann einen Menschenschmuggler kennen. Er sagte, ich kann dich nicht mit mir arbeiten lassen - ich vertraue dir nicht. Dann sagte ich, nun gut, aber ich vertraue dir auch nicht so richtig. Dabei beließen wir es und dann traf ich ihn zufällig während einer anderen Reise wieder: Er kam rennend auf mich zu und sagte, ich habe nie vergessen was du gesagt hast, dass wir uns gegenseitig nicht vertrauen. Von diesem Augenblick an ließ er mich mit ihm arbeiten.

ROG: Aber dennoch schossen die Schmuggler später auf sie...

Fazzina: Ja, sie beschossen mich mehrere Male. Manchmal waren sie betrunken, oder es war einfach ein Spiel für sie. Sie schossen aber auch auf mich, wenn sie der Meinung waren, ich würde mit meiner Kamera in die falsche Richtung zielen. Ich war mir mit ihnen einig, dass ich dort war, um vor allem das Schicksal der Flüchtlinge zu dokumentieren. Wenn es doch passierte, dass ich mich mit der Kamera umdrehte - selbst wenn mein Finger nicht in der Nähe des Auslösers war - zielten sie mit der Waffe auf mich oder schossen mir vor die Füße. Aber nicht nur mir galten die Schüsse, sondern auch den Flüchtlingen. Die Schmuggler schossen häufig auf sie, griffen sie an, vergewaltigten sie. Ich habe sogar Hinrichtungen von Flüchtlingen gesehen, die zu viel Angst hatten.

ROG: Wie sind Sie mit Ihrer Angst umgegangen?

Fazzina: Ich verdränge wahrscheinlich einiges in mir: betrachte fast alles durch die Kamera und konzentriere mich auf die Arbeit, statt die ganze Zeit an die Gefahren zu denken. Aber es gab wirklich Zeiten, da war ich zu Tode geängstigt. Eine der Methoden, um mir mehr Sicherheit zu verschaffen, waren meine Kontakte zu den Clanältesten und zu einflussreichen Menschen. Diese Leute haben mit den Schmugglern gesprochen und sich für mich eingesetzt, um sicher zu stellen, dass es dort noch eine Bürgschaft für mein Leben gab. Die Schmuggler wussten also, passiert mir etwas, würde das möglicherweise auch ihre Unternehmungen gefährden. Auch somalische Journalisten waren mir gegenüber unglaublich hilfsbereit. Die meisten von ihnen waren selber Flüchtlinge. Sie hatten direkte Drohungen erhalten, insbesondere von der Al-Shabab-Miliz und hatten Kollegen, die getötet wurden. Sie konnten in ihrer Heimat nicht mehr weiterarbeiten und mussten ebenfalls in den Jemen oder in andere Länder fliehen. Auf eine Art waren sie sehr froh, mir ihre Geschichte und die ihrer Landsleute zu erzählen.

ROG: War es für Sie als Frau schwieriger oder einfacher, diese Reportage zu machen?

Fazzina: In einiger Hinsicht war es für mich wahrscheinlich einfacher. Ich denke, die Leute trauten mir ein wenig mehr, weil ich eine Frau war. Auf der anderen Seite bist Du natürlich gefährdeter, denn du bist in der Regel nicht so stark, um dich auf bestimmte Arten selbst zu verteidigen. Die Leute sehen eine Frau, die alleine unterwegs ist, sicherlich unter einem anderen Blickwinkel als zum Beispiel zwei Personen. Bei den Entführungen, an die ich mich erinnere, wurden häufig zwei Männer, ein Journalist und ein Fotograf, gekidnappt. Vielleicht misstrauen die Leute zwei ausländischen Männern eher und erwarten auch ein höheres Lösegeld?

ROG: Würden Sie nach Somalia zurückkehren und die gleiche Reportage noch einmal machen?

Fazzina: Dazu wäre ich nicht in der Lage. Jetzt, wo die Leute genau wissen, was später daraus genau geworden ist, würde ich wahrscheinlich umgebracht werden, wenn ich die gleichen Orte noch mal aufsuchen würde. Ich würde aber auf jeden Fall zurück nach Somalia gehen, um weiter über die Lage der Flüchtlinge zu berichten oder über andere Themen - aber ich würde vermutlich nicht mehr mit den Schmugglern zusammenarbeiten.


Alixandra Fazzinas Reportage finden Sie im neuen ROG-Fotobuch "Fotos für die Pressefreiheit 2010".
(ISBN: 978-3-937-683-29-4, Preis: 14,00 EUR inkl. MwSt. - in Deutschland)

Alixandra Fazzina, Fotojournalistin
Die Fotojournalistin Alixandra Fazzina, 1974 in London geboren, beginnt ihre Karriere als Kriegsberichterstatterin in Bosnien. Seit 2002 arbeitet sie im Mittleren Osten und in Afrika; sie dokumentiert unter anderem den Friedenseinsatz britischer Truppen in Sierra Leone. Ihr Buch "Eine Million Shilling - Flucht aus Somalia" erscheint im Juni 2010 bei Trolley Books. Fazzina lebt in Pakistan.
www.trolleybooks.com


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Quelle:
Newsletter 2/2010 - 24. Juni 2010
Reporter ohne Grenzen - Deutsche Sektion von Reporters sans frontières
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Juli 2010