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HINTERGRUND/124: terre des hommes - Vierzig Jahre Menschlichkeit


die zeitung - terre des hommes, 1. Quartal 2007

Vierzig Jahre Menschlichkeit
Das Kinderhilfswerk terre des hommes: Eine Chronik

Von Stephan Stolze


Von der Initiative einiger engagierter Bürger für kriegsverletzte Kinder aus Vietnam zur renommierten Hilfsorganisation mit 500 Projekten in 25 Ländern: In vierzig Jahren hat terre des hommes einen weiten Weg zurückgelegt.


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Aufbruch: Die Sechziger

Die Schreckensbilder des Vietnamkrieges sind es, die den entscheidenden Anstoß zur Gründung von terre des hommes Deutschland geben. Der gelernte Schriftsetzer Lutz Beisel versammelt etwa 40 Frauen und Männer, die am 8. Januar 1967 den neuen Verein gründen. Der Name entstammt einem Romantitel des französischen Piloten und Schriftstellers Antoine des Saint- Exupéry, der insbesondere als Autor des poetischen Kinderbuchs "Der kleine Prinz" bekannt wurde.

Die ersten Aktivitäten des Vereins sind Rettungsflüge, mit denen kriegsverletzte Kinder aus Vietnam nach Deutschland gebracht werden. Hier werden sie medizinisch versorgt und in Reha-Zentren weiter betreut. Für Kinder, die nicht nach Vietnam zurück vermittelt werden können, weil sie keine Angehörigen mehr haben, werden Adoptions- oder Gastfamilien gesucht. So macht sich terre des hommes schon bald auch mit der fachlichen Vermittlung von Auslandsadoptionen einen Namen.

Schon 1968 wird die Arbeit in einer anderen Weltregion aufgenommen: Der Bürgerkrieg in Biafra im Südosten Nigerias und die damit einher gehende schwere Hungersnot veranlassen terre des hommes, mit Nahrungsmitteln und medizinischer Versorgung Soforthilfe zu leisten. Im Nachbarland Gabun wird ein Kinderdorf für die Opfer des Biafra-Krieges eingerichtet.


Selbstfindung: Die Siebziger

Im westfälischen Dehme entsteht 1971 ein Reha-Zentrum für die Kinder, die in Deutschland operiert und behandelt wurden. terre des hommes beginnt nun auch mit der Hilfe in Vietnam: In Saigon wird ein Zentrum eingerichtet, in dem täglich mehr als 100 unterernährte und kranke Kinder behandelt werden. Als vor Kriegsende der Vietkong vor Saigon - dem heutigen Ho-Chi-Minh- Stadt - steht, müssen sich die Kinder und Mitarbeiter des Zentrums hinter Milchpulversäcken vor Kugeln und Granaten schützen. Ein Großraumflugzeug soll in den letzten Kriegstagen Waisenkinder, für die in Deutschland Adoptiveltern gefunden wurden, ausfliegen; doch kurz nach dem Start stürzt die Maschine in ein Reisfeld. Die meisten Kinder und die Kinderkrankenschwester Birgit Blank sterben in den Flammen.

In Deutschland sind die 70er Jahre von heftigen Diskussionen geprägt: Etwa um den scheinbaren Widerspruch zwischen dem "politischen Kampf" und der "direkten Hilfe". terre des hommes verweigert sich dieser Einseitigkeit des Denkens "Statt des ideologischen Entweder-Oder", so heißt es in einer Stellungnahme, "plädieren wir für ein pragmatisches Sowohl-Als-Auch".

terre des hommes legt sich darauf fest, Adoptionen nach Deutschland nur zu vermitteln, wenn es im Heimatland des Kindes keine Alternativ dazu gibt. So sollen Tagesstätten für die Kinder von Industriearbeiterinnen - etwa in Korea - den Frauen helfen, ihre Kinder bei sich zu behalten, statt sie zur Adoption freizugeben. terre des hommes beschließt, künftig keine deutschen "Entwicklungshelfer" zu entsenden und stattdessen einheimische Initiativen zu fördern. So soll sichergestellt werden, dass die Arbeit wirklich an den Bedürfnissen vor Ort orientiert ist.

In Deutschland wird 1973 die interkulturelle Kindertagesstätte von terre des hommes in Wiesbaden gegründet - das erste Projekt in Deutschland, in dem Kinder aus Flüchtlings- und Migrantenfamilien betreut werden. Die Kita existiert heute noch.


Profilbildung: Die Achtziger

Mit einer Satzungsänderung im Jahr 1980 bekennt sich terre des hommes zu seinem politischen Auftrag. Nun gilt - neben der konkreten Hilfe für Not leidende Kinder - auch die Information der Öffentlichkeit über die Hintergründe von Not und Unterdrückung als Vereinszweck, ebenso wie die politische Einflussnahme zur Überwindung von Not und Ungerechtigkeit.

1987 treffen sich 50 Frauen aus 22 Ländern im Taunus. Die Konferenz fordert von terre des hommes, die Belange von Frauen und Mädchen in der Projektarbeit besonders zu berücksichtigen. Dies wird 1989 beschlossen und bildet seither ein zentrales Kriterium bei der Entscheidung über die Förderung von Projekten.

Am 20. November 1989 beschließ die UNO die "Kinderrechtskonvention", in der in 54 Artikeln die Rechte der Kinder festgehalten sind - vom Recht auf Bildung, auf Spiel und familiäre Geborgenheit, auf Mitsprache und Partizipation bis hin zum Schutz vor Ausbeutung und Gewalt. Die Konvention bildet seither einen wichtigen Bezugsrahmen für die Arbeit von terre des hommes. Jedes Jahr am 20. November findet die Aktion "Straßenkind für einen Tag" statt, bei der deutsche Kinder in die Rolle von Straßenkindern schlüpfen, um auf deren Situation und ihre Rechte aufmerksam zu machen.


Kampagnenjahre: die Neunziger

1990 beginnt die "Teppich-Kampagne" gegen Kinderarbeit in der Teppichindustrie, die terre des hommes gemeinsam mit den kirchlichen Hilfswerken Brot für die Welt und Misereor initiiert. Im Jahr 1995 geht daraus das erste Produktsiegel gegen Kinderarbeit hervor: das "Rugmark"-Siegel für Teppiche, die nicht von Kinderhand geknüpft wurden. terre des hommes beteiligt sich an weiteren Siegel-Initiativen wie dem "Flower Label" für Import- Blumen, die unter fairen sozialen und ökologischen Bedingungen produziert und gehandelt werden.

Eine weitere wichtige Kampagne richtet sich seit 1991 gegen die sexuelle Gewalt an Kindern. terre des hommes informiert die Öffentlichkeit über die Tatsache, dass auch deutsche Sextouristen vielen Kindern Gewalt antun. Die Tourismusindustrie wird an ihre Verantwortung zum Schutz von Kindern erinnert, Regierung und Behörden zur konsequenten Strafverfolgung aufgefordert und Reisende auf das Problem hingewiesen. Ein erster Erfolg ist die Änderung des deutschen Strafrechts: Seit dem 1. September 1993 können Täter auch dann verurteilt werden, wenn sie ihre Tat im Ausland begangen haben.

1994 beschließt die terre des hommes-Mitgliederversammlung, künftig keine Auslandsadoptionen zu vermitteln. Hintergrund ist der gewachsene "Adoptionsmarkt", der immer stärker kommerzielle Züge entwickelt hat. Vorrang für terre des hommes haben nun Projekte, die den Kindern eine Zukunft im eigenen Land bieten sollen. Die knapp 3.000 bis dahin von terre des hommes vermittelten Adoptivkinder werden weiter betreut.

Die erste "tour des hommes" macht 1995 auf die Rechte der Kinder aufmerksam. An Einzeletappen der Radtour nehmen viele Schulklassen, Vereine und ehrenamtliche Arbeitsgruppen teil; ein "harter Kern" radelt die ganze Strecke von Schwerin nach Freiburg. 1997 führt die zweite "tour des hommes" von Berlin nach Genf.

1999 beginnt eine einzigartige Kooperation von terre des hommes mit dem Konzernbetriebsrat der Volkswagen AG: Unter dem Titel "Eine Stunde für die Zukunft" spenden seitdem die Belegschaften an vielen Produktionsstandorten weltweit einen Stundenlohn oder die Restcents ihres Gehalts für Straßenkinderprojekte. In Mexiko, Brasilien, Argentinien, Südafrika und Deutschland. Bis zum 40. Geburtstag von terre des hommes ist bereits eine Summe von sieben Millionen Euro zusammengekommen.


Das neue Jahrtausend

2001 startet terre des hommes die Internationale Kampagne "Stoppt Kinderhandel". Sie wird in den Folgejahren Aktivitäten in mehr als 40 Ländern entfalten und rund 900 Bündnispartner weltweit beteiligen.

terre des hommes beschließt, im Rahmen seiner Möglichkeiten Soforthilfe bei Kriegen, Hungersnöten und Naturkatastrophen zu leisten. Weihnachten 2004 verwüstet ein Tsunami die Küsten Südasiens und fordert mehr als 220.000 Menschenleben. terre des hommes hilft mit Nahrungsmitteln, Medikamenten und dem Aufbau von Notlagern. Für traumatisierte Kinder wird psychosoziale Betreuung organisiert. Später beteiligt sich terre des hommes am Wiederaufbau von Schulen, Kindergärten und Wohnhäusern, an der Reparatur von Fischerbooten und der Entsalzung von Ackerboden. Mit Spenden von insgesamt mehr als zwölf Millionen Euro für die Tsunami-Opfer erfährt terre des hommes eine enorme Hilfsbereitschaft aus der deutschen Bevölkerung.

Um sich in der Soforthilfe mit anderen erfahrenen Hilfsorganisation zu koordinieren, gründet terre des hommes gemeinsam mit der Deutschen Welthungerhilfe, medico international, Brot für die Welt und Misereor das Bündnis "Entwicklung hilft".

Vierzig Jahre nach seiner Gründung unterstützt terre des hommes rund 500 Projekte in 25 Ländern. In Deutschland engagieren sich Menschen in 150 Orten ehrenamtlich für Kinder.


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Quelle:
die zeitung, 1. Quartal 2007, Seite 3
Herausgeber: terre des hommes Deutschland e.V.
Hilfe für Kinder in Not
Ruppenkampstraße 11a, 49084 Osnabrück,
Tel.: 0541/71 01-0, Fax: 05 41/70 72 33
E-Mail: info@tdh.de
Internet: www.tdh.de

die zeitung - terre des hommes erscheint
4 Mal jährlich. Der Verkaufspreis wird durch Spenden
abgegolten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. März 2007