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HINTERGRUND/165: Ist das 0,7-Prozentziel in der Entwicklungshilfe noch sinnvoll?


die zeitung - terre des hommes, 4. Quartal 2010

Das Maß aller Dinge
Ist das 0,7-Prozentziel in der Entwicklungshilfe noch sinnvoll?

Von Jens Martens


Das 0,7-Prozentziel feiert 2010 den 40. Jahrestag seiner Nichterfüllung. Bereits 1970 hatten die Regierungen in der UN-Generalversammlung beschlossen, dass 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens (BNE) der reichen Länder in Form öffentlicher Entwicklungshilfe (ODA) in die armen Länder des Südens fließen soll.

Dieser Beschluss basierte auf den damals dominierenden Konzepten nachholender Entwicklung. Notwendig sei ein big push ausländischen Kapitals, um in den Entwicklungsländern den take off hin zu dauerhaftem Wirtschaftswachstum zu ermöglichen. Weltbankexperten bezifferten damals die Kapitallücke für alle Entwicklungsländer mit rund zehn Milliarden Dollar. Das entsprach in diesen Jahren etwa einem Prozent des BNE der Industrieländer. 0,3 Prozent sollten in Form privaten Kapitals und 0,7 Prozent in Form öffentlicher Entwicklungshilfe zur Verfügung gestellt werden. Damit war das 0,7-Prozentziel geboren. Heute hat das 0,7-Maß vor allem politisch-symbolische Bedeutung als »Indikator der Hilfsbereitschaft« der reichen Länder. Es führt der Weltöffentlichkeit Jahr für Jahr aufs Neue vor Augen, dass es mit dieser Hilfsbereitschaft offensichtlich nicht weit her ist: Im Jahr 2009 lag der ODA/BNE-Anteil Deutschlands bei gerade einmal 0,35 Prozent.

Auf die Frage, was die Verwirklichung der internationalen Entwicklungsziele, einschließlich der Millenniumsziele, tatsächlich kostet, wie viel die Entwicklungsländer selbst aufbringen können und wie hoch ihr Restbedarf an externem Kapital ist, gibt das 0,7-Prozentziel keine Antwort. Dazu ist ein Perspektivwechsel erforderlich: Weg vom angebots- und hin zu einem bedarfsorientierten Ansatz der Entwicklungsfinanzierung.

Alle Schätzungen des Bedarfs an externer Entwicklungsfinanzierung sowie des zusätzlichen Finanzbedarfs für Maßnahmen des Klimaschutzes und der Anpassung an den Klimawandel zeigen allerdings, dass die benötigten Mittel die Marke von 0,7 Prozent des BNE sogar noch bei weitem übersteigen. Solange die Staaten sich nicht gemeinsam auf andere Zielgrößen einigen, bleibt das 0,7-Prozentziel daher weiterhin sachlich und politisch relevant. Auch wenn sich also die Begründung geändert hat, die internationale Verpflichtung zur Verwirklichung des 0,7-Prozentziels bleibt bestehen. Das gilt auch für die Bundesregierung.

Zugleich müssen wir aber über dieses Ziel hinaus denken. Denn seine Verwirklichung allein ist kein hinreichender Beleg für die »Entwicklungsfreundlichkeit« eines Landes. Ob die Bundesregierung mit ihrer Politik den Menschen in den Ländern des Südens nützt oder eher schadet, hängt entscheidend davon ab, welche Handels- und Investitionspolitik sie betreibt, was sie gegen Kapitalflucht in Steueroasen unternimmt, ob sie gegen die Spekulation auf den Rohstoffbörsen vorgeht, und was sie für den globalen Klimaschutz tut.

Um die Entwicklungsfreundlichkeit der Politik sichtbar und vergleichbar zu machen, wäre ein Index sinnvoll, der über den eindimensionalen Blick auf die Erfüllung des 0,7-Prozentziels weit hinausweist. Was wir bräuchten, wäre eine Art von Globalem Solidaritätsindex oder »Entwicklungs-DAX«, der öffentlichkeitswirksam illustriert, wie solidarisch, entwicklungsfreundlich und kohärent die Politik eines Landes gegenüber den ärmeren Ländern ist. Erste Vorschläge dazu gibt es bereits, aber in Deutschland steckt die Diskussion darüber noch in den Kinderschuhen. Es ist noch ein weiter Weg, bis in der Tagesschau nicht nur über das Auf und Ab des DAX, sondern auch eines »Entwicklungs-DAX« berichtet wird.

Jens Martens ist Geschäftsführer des Europa-Büros des Global Policy Forum (GPF).

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Quelle:
die zeitung, 4. Quartal 2010, S. 2
Herausgeber: terre des hommes Deutschland e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Dezember 2010