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HINTERGRUND/177: Verletzte Seele - Wie Gewalt und Katastrophen Kinder traumatisieren


die zeitung - terre des hommes, 3. Quartal 2011

Verletzte Seele
Wie Gewalt und Katastrophen Kinder traumatisieren

von Bert Strebe


Über die Berichterstattung in den Medien erfahren wir von Kriegen, Hungersnöten und Katastrophen, die sich auf der Welt ereignen. Es sind die Bilder von Opfern, die viele Menschen bewegen und sie zur Hilfe für diese Opfer motivieren. Trotz dieser Unterstützung, die Leben rettet, dauert es oft Jahre, bis der Wiederaufbau abgeschlossen ist und für die Menschen ein normales Leben wieder möglich wird.

Unsichtbar bleiben häufig die seelischen Folgen, die furchtbaren traumatischen Erinnerungen, die Kriege und Katastrophen vor allem bei Kindern hinterlassen. Dieser Aspekt fand in der Öffentlichkeit bisher wenig Beachtung. Neue Therapieansätze und Projekte machen Hoffnung, dass den Opfern von Gewalt und Katastrophen in Zukunft gezielt bei der Bewältigung ihres Traumas geholfen werden kann.

Die Arbeit mit traumatisierten Kindern ist komplex und erfordert viel Geduld. Oft ist es schwierig, die seelischen Verletzungen zu erkennen. Lebenslange oder Generationen übergreifende Folgen von Traumata gelten heute als eine wesentliche Ursache für eine sich fortsetzende Gewaltspirale. Kinder und Jugendliche, die solche Erfahrungen machen mussten, sind gefährdet, später selbst Täter zu werden. Um das zu verhindern, müssen sie die Chance erhalten, ihre negativen Erlebnisse zu bewältigen.

terre des hommes hat die Projektarbeit für traumatisierte Kinder und Jugendliche in den vergangenen Jahren intensiviert. Mittlerweile gibt es ein breites Netz von Projektpartnern, Experten und Therapeuten, die ihre Erfahrungen austauschen, um angemessene Formen der Hilfe zu entwickeln. Vielversprechende Therapieansätze werden bereits in Haiti, Südafrika, Kambodscha und Indonesien genutzt. Besonders der EMDR-Methode (siehe unten Kasten "WAS IST EMDR?") kommt dabei eine wachsende Bedeutung zu.


Radits Trauma

Die Geschichte eines Jungen aus Indonesien


Um 7:58 Uhr Ortszeit kam es im Indischen Ozean am zweiten Weihnachtstag 2004 zu einem Beben, das eine gigantische Flutwelle auslöste. Der Tsunami kostete 230.000 Menschen das Leben.

Radit war damals ein 14 Jahre alter Junge aus der indonesischen Provinz Aceh, der am Tag der Flutwelle zusammen mit seiner Mutter eine Tante in der Stadt besuchte. Als das Wasser kam, riss es ihn mit sich fort und schleuderte ihn auf eine Kokospalme. Er hielt sich mit aller Kraft fest und überstand den Ansturm der Flut. Als Radit von dem Baum wieder hinabstieg, stand er zwischen unzähligen Toten unter Trümmern.

Die Provinz Aceh war schon vor dem Tsunami kein Paradies. 30 Jahre litten die Bewohner unter einem blutigen Bürgerkrieg. Viele hatten keinen Zugang zu trinkbarem Wasser oder litten an Unterernährung. Erst der Wiederaufbau nach dem Tsunami führte zu einem Friedensschluss. An der sozialen und wirtschaftlichen Lage der Bevölkerung ändert sich jedoch nur langsam etwas.

An jenem Dezembertag 2004 starben durch den Tsunami in Aceh mehr als 160.000 Menschen, eine halbe Million wurde obdachlos. Tausende von Straßenkilometern waren unpassierbar geworden, 120 Brücken zerstört, die Mehrzahl aller Häfen verwüstet. 2.000 Schulen und acht Krankenhäuser hatte das Wasser hinweggefegt. Auch das Haus von Radits Tante wurde weggespült. Nach der Katastrophe suchte Radit verzweifelt nach seiner Mutter und seiner Tante, fand jedoch nicht einmal die Trümmer des Hauses. Abends kam er in einem Flüchtlingslager unter, am folgenden Morgen suchte er noch einmal, doch wieder ohne Ergebnis. Man gab ihm Geld, damit er nach Hause fahren konnte, in das Dorf seines Vaters.


Ein Kind voller Angst

Tagelang blieb Radit auf sich selbst gestellt, denn der Vater suchte seinerseits nach ihm und seiner Mutter. Er saß in dieser Zeit oft da und betrachtete die wenigen Kleider seiner Mutter, die die Flut welle gelassen hatte. Als der Vater zurückkehrte, verhielt er sich abweisend und kümmerte sich kaum um seinen Sohn. Dann kehrte so etwas wie Alltag ein. Radit ging wieder zur Schule. Aber es war ein Alltag ohne Mutter. Den Tsunami, der die Mutter getötet und auch ihn fast umgebracht hatte, trug Radit in seinem Inneren mit sich. Er schlief schlecht, er litt unter Konzentrationsstörungen und Kopfschmerzen, magerte ab und begann zu stottern. Dass der Vater erneut heiratete und sich von Radit abwandte, machte es für den Jungen noch schwerer. Als er in der Schule verhaltensauffällig wurde, erkannten seine Lehrer seine seelischen Verletzungen. Sie verschafften dem Jungen einen Therapieplatz in einem Projekt, das Partner von terre des hommes zur Behandlung traumatisierter Kinder eingerichtet hatten. In diesem mit Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit eingerichteten Programm konnten 6.000 Kinder und Frauen Traumahilfe finden.

Krieg, Naturkatastrophen, Vertreibung, Misshandlungen, sexueller Missbrauch und andere Formen der Gewalt können Körper und Seele beeinträchtigen und psychische Traumata auslösen. Zunächst verursachen solche Ereignisse einen Schock. Wenn der sich legt, versucht die Psyche des Menschen, die Erfahrungen zu verarbeiten. Gelingt das nicht - weil der Schmerz zu groß ist oder weil die Seele aufgrund vorangegangener Beeinträchtigungen nicht genug Kraft besitzt - entsteht das Trauma (siehe Kasten). Es macht sich durch andauernde emotionale Störungen bemerkbar, die man als posttraumatisches Stress-Syndrom oder posttraumatische Belastungsstörung bezeichnet. Die betroffenen Menschen leiden unter Depressionen, Angstzuständen, Konzentrations- und Antriebsschwäche, psychosomatischen Erkrankungen, Schlafstörungen und Schuldgefühlen. Oder sie werden aggressiv - was ein Schutzmechanismus ist: Hinter der Aggression verbergen sich Angst und Schwäche.

Kinder können Traumatisierungen oft besser überwinden als Erwachsene. Allerdings brauchen sie dafür ein geschütztes Umfeld. Sie brauchen sensible Betreuer, die die meist nonverbalen Signale des Traumas verstehen. Ohne Unterstützung von außen besteht die Gefahr, dass ihre weitere Entwicklung schweren Schaden nimmt, sowohl in Bezug auf ihre emotionale wie auch intellektuelle Entwicklung.

In Radits Fall war der Vater keine Hilfe für seinen Sohn, weil auch er durch den Tsunami und den Verlust seiner Frau traumatisiert wurde.


Erfolgreiche Therapie

Es gibt verschiedene Methoden, Traumata zu verarbeiten. Die meisten basieren auf dem bewährten psychotherapeutischen Ansatz, das »nach außen« zu holen und zu gestalten, was einen Menschen im Innern belastet und bestimmt. Dies geschieht beispielsweise durch das Malen eines Bildes. Der Effekt: Der Schmerzauslöser ist plötzlich nicht mehr im Opfer, sondern liegt in gemalter Form vor und kann nun untersucht und bearbeitet werden. Das bedeutet einerseits eine Erleichterung für den Patienten, andererseits ist es ein erster Schritt zur Verarbeitung des Erlebten.

Weitere Methoden, die bei traumatisierten Kindern erfolgreich angewandt werden, sind Theaterspiele, Schreiben, Musiktherapie, Gestalten von Objekten oder Spieltherapien mit Puppen.

Ein Verfahren, das in den letzten Jahren mit zunehmendem Erfolg eingesetzt wird, nennt sich »Eye Movement Desensitization and Reprocessing«, kurz EMDR (siehe auch Kasten »Was ist EMDR?«). Mit Hilfe von therapeutisch gesteuerten Augenbewegungen, die die Patienten beim Erinnern traumatisierender Ereignisse vornehmen, werden die Prozesse eingeleitet, um die Patienten bei der Verarbeitung zu unterstützen.

Die EMDR-Methode besitzt gegenüber anderen Behandlungsformen große Vorteile: Sie ist einfach anzuwenden, sie wirkt schnell, und die Patienten müssen nicht viel sprechen, denn Traumatisierte haben oft Probleme, sich zu artikulieren. Die Methode ist für Therapeuten leicht erlernbar, und es gibt keine kulturellen Schranken, die einer Anwendung im Wege stehen.

Radit hat die EMDR-Methode geholfen. Er brauchte sechs Therapiesitzungen, und man konnte zuschauen, wie es ihm dadurch nach und nach besser ging: Seine Augen wurden klar, das Stottern nahm ab, er wurde ruhiger. Und er konnte sich wieder freuen.


STICHWORT TRAUMA

Der Begriff Trauma kommt aus dem Griechischen und bedeutet »Wunde«. Unterschieden wird zwischen körperlichen und seelischen Traumata. Die amerikanische Psychiatrieprofessorin Judith Lewis Herman, die die komplexe posttraumatische Belastungsstörung definiert hat, bezeichnet ein psychisches Trauma als »das Leid der Ohnmächtigen«. Sie sagt: »Das Trauma entsteht in dem Augenblick, in dem das Opfer von einer überwältigenden Macht hilflos gemacht wird. Ist diese Macht eine Naturgewalt, sprechen wir von einer Katastrophe. Üben andere Menschen diese Macht aus, sprechen wir von Gewalttaten. Traumatische Ereignisse schalten das soziale Netz aus, das dem Menschen gewöhnlich das Gefühl von Kontrolle, Zugehörigkeit zu einem Beziehungssystem und Sinn gibt.«

Kriegserlebnisse, Folter und familiäre Gewalt, aber auch bloße Bedrohungen, Ausgrenzung, Unterdrückung und anhaltende soziale Ungerechtigkeiten können traumatisierend wirken.

Nicht jeder Mensch, der etwas Schreckliches erlebt, wird automatisch traumatisiert. Das Entstehen eines Traumas hängt von der individuellen Widerstandsfähigkeit ab. Stress, Schmerz und Trauer führen nicht automatisch zu einer psychischen Störung. Aber sie können dazu werden, wenn sie die Belastungsgrenzen des Menschen übersteigen und nicht mehr verarbeitet werden.


WAS IST EMDR?

Francine Shapiro, eine heute 63 Jahre alte amerikanische Psychologin, ist die Erfinderin des »Eye Movement Desensitization and Reprocessing« (EMDR). Sie hatte eine Krebsdiagnose zu verkraften und litt deswegen unter Ängsten und Depressionen. Dann aber entdeckte sie beim Spazierengehen im Park, dass ihre Angst und die düsteren Gedanken weniger wurden, wenn sie die Augen bewegte. Sie entschloss sich, das Phänomen näher zu untersuchen - so entstand EMDR.

Der Patient führt sich eine seiner belastenden Erinnerungen vor Augen und friert sie gedanklich ein. Gleichzeitig hält ihn der Therapeut mit langsamen Fingerbewegungen dazu an, die Augen rhythmisch zu bewegen. Diese Bewegungen sind es, die die Angst des Patienten vor seiner Erinnerung verringern.

Der Vorgang erinnert an Hypnose, hat damit aber nichts zu tun. Es geht darum, die traumaauslösenden Ereignisse anzuschauen, von der Angst zu entkoppeln und beides dann als Teil der eigenen Geschichte in die Psyche zu integrieren. Seine Erlebnisse kann der Mensch nicht abstreifen, aber er kann die Gefühle, die damit verbunden sind, »überschreiben«.

Was genau bei EMDR abläuft, ist noch nicht endgültig geklärt. Man vermutet, dass die rhythmischen Augenbewegungen zur Synchronisation der beiden Hirnhälften führen, die nach traumatischen Erfahrungen oft gestört sind. Auch im sogenannten REM-Schlaf, in den Traumphasen, in denen wir Erlebnisse des Tages verarbeiten, bewegen wir die Augen in erheblichem Maße.


DER TERRE DES HOMMES-TRAUMAFONDS

Traumahilfe ist der Förderschwerpunkt der terre des hommes-Gemeinschaftsstiftung. Im Jahr 2010 wurde der »Stiftungsfonds Hilfe für traumatisierte Kinder« aufgelegt. Die im Fonds enthaltenen Mittel belaufen sich derzeit auf knapp 500.000 Euro. Angestrebt ist das Ziel von 1.000.000 Euro.

Die terre des hommes-Gemeinschaftsstiftung ist eine zivilrechtlich unselbstständige Stiftung, die von terre des hommes e.V. als Treuhänder verwaltet wird. Seit 2005 betreut die gemeinnützige Stiftung als steuerlich selbstständige Körperschaft eigene Projekte und kann durch Zustiftung unterstützt werden.

Näheres unter www.tdh-stiftung.de oder bei terre des hommes, Bärbel Baum,
Telefon: 05 41 / 71 01-155, eMail: b.baum@tdh.de


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Quelle:
die zeitung, 3. Quartal 2011, S. 4
Herausgeber: terre des hommes Deutschland e.V.
Hilfe für Kinder in Not
Ruppenkampstraße 11a, 49084 Osnabrück,
Tel.: 0541/71 01-0, Fax: 05 41/70 72 33
E-Mail: info@tdh.de
Internet: www.tdh.de

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Der Verkaufspreis wird durch Spenden abgegolten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. November 2011