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FRAGEN/003: Möge sich niemand mehr auf den Duden verlassen (VDS)


Sprachnachrichten Nr. 37/März 2008

Im Gespräch: Möge sich niemand mehr auf den Duden verlassen

Die Fragen stellte Max Behland


Die allgemeine Empörung über neue Rechtschreibregelungen schwindet; viele ihrer Anhänger fordern die bedingungslose Anwendung, ohne die Regeln genau zu kennen oder Hintergründe und Konsequenzen beurteilen zu können. Wir befragten dazu einen der renommiertesten deutschen Linguisten, Professor Dr. Helmut Glück. Obwohl sich manche Anglizismenjäger feindselig über Germanisten äußern, sprach er gern mit uns.


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Sprachnachrichten: Herr Professor Glück, was halten Sie vom derzeitigen Stand der Rechtschreibreform?

Glück: Wenig. Immerhin haben die Aufräumarbeiten inzwischen begonnen.

Sprachnachrichten: Der Staat kann Privatpersonen nicht befehlen, wie sie zu schreiben haben, aber er kann es seinen Organen und Behörden vorschreiben, also auch Schulen und Universitäten. Fühlen Sie sich gemaßregelt?

Glück: Nicht persönlich. Im Falle eines Konflikts wäre ich in der Lage zu begründen, wie meine Orthographie beschaffen ist und warum ich so schreibe, wie ich schreibe. Die Lehrerinnen und Lehrer an den Schulen haben es da schwerer. Sie müssen sich an widersprüchliche Regelungen halten und den Kindern Schreibungen beibringen, die teilweise falsch sind - falsch, weil sie grammatische Gesetze verletzen. Dennoch stehen sie so im Duden.

Sprachnachrichten: Sie haben kürzlich vehement gefordert, Examensarbeiten nur zu werten, wenn Rechtschreibung, Zeichensetzung und Stil korrekt sind. Wie müssen Ihre Studenten schreiben, wenn sie nicht in Ungnade fallen wollen?

Glück: Es ging nicht um eine Neuerung, sondern darum, daß ein Prüfungsausschuß meiner Universität öffentlich in Erinnerung gebracht hat, was eine geltende Prüfungsordnung vorschreibt, nämlich: Abschlußarbeiten müssen in deutscher Sprache abgefaßt sein. Der Ausschuß hat - aufgrund von Beschwerden - lediglich erläutert, was das bedeutet. Es ging nicht um Gnade oder Ungnade, sondern um eine Selbstverständlichkeit: Eine akademische Abschlußarbeit muß sprachlichen Mindestanforderungen genügen. Sonst gibt es eine Quittung - über die Note.

Sprachnachrichten: Ist die Rechtschreibung Gegenstand von Forschung und Lehre an den Universitäten, oder überläßt man das Thema einem (Oberlehrer-)Gremium wie dem "Rat für deutsche Rechtschreibung"?

Glück: Die Rechtschreibung ist seit langem Gegenstand von Forschung und Lehre. Seit wenigstens 20 Jahren wird intensiv über die grammatischen und historischen Grundlagen der deutschen Orthographie geforscht. Man weiß heute sehr viel mehr über die vor allem syntaktischen Mechanismen, die die Getrennt- und Zusammenschreibung und die Klein- und Großschreibung steuern, als man 1996 wußte, in dem Jahr, in dem die fatale "Neuregelung" der deutschen Rechtschreibung dekretiert wurde. 1996 wurde vieles aus purer Unkenntnis falsch gemacht. Auch die Regeln, denen die Wortbildung, die Formenbildung und die Schreibung von Fremdwörtern im Deutschen unterliegen, verstehen wir besser als vor zehn Jahren. Das Thema Rechtschreibung war und ist nicht dem "Rat für deutsche Rechtschreibung" (er wurde Ende 2004 eingerichtet) oder seinen Vorgängern überlassen gewesen. Daß man sich im Vorläufer-Gremium dieses Rates, der "Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung", für Forschungsergebnisse nicht interessierte oder sie, schlicht und ergreifend, nicht verstand, muß allerdings erwähnt werden.

Sprachnachrichten: Wenn Sie in seltenen Einzelfällen Zweifel haben, was wir auch bei Ihnen nicht ausschließen wollen, schlagen Sie dann im Duden oder im Wahrig nach? Und wie entscheiden Sie sich, wenn beide voneinander abweichen?

Glück: Inzwischen sind die Varianten ein lästiges Problem. Sie kamen dadurch zustande, daß bei vielen problematischen oder offensichtlich falschen "Reform"-Schreibungen inzwischen wieder die strukturell richtige alte Schreibung zugelassen ist, aber eben nur als Variante. Die falsche "Reform"-Schreibung gilt leider meist weiterhin. Der Duden stellt stets die "Reform"-Schreibung an die erste Stelle und die "alte" Schreibung dahinter. Auf diese Weise versucht die Duden- Redaktion, die selbst an den mißratenen "Reformen" beteiligt war, die "Reform" doch noch unter die Leute zu bringen. Der Wahrig ist mir an diesem Punkt sympathischer, dort findet man die richtige Schreibung leichter. Im Wahrig steht zwar die "Reform"-Schreibung auch als Leitvariante, aber dann kommt ein "auch", und dahinter steht dann die richtige Schreibung. Beim Duden heißt sie, wenn sie überhaupt vorkommt, "alte Schreibung", und sie steht in eckigen Klammern. Ein Beispiel: der Duden hat "selig sprechen" und "selig preisen" und danach "[alte Schreibung: seligsprechen, seligpreisen]". Der Wahrig verzeichnet nur die beiden richtigen Schreibungen "seligsprechen" und "seligpreisen". Deshalb schaue ich eher im Wahrig nach, wenn es einmal nötig ist.

Sprachnachrichten: Ist denn Orthographie eine weitgehend willkürliche Regelung? Wie weit darf die Willkür gehen? Die neueste Reform der Reform der Rechtschreibreform hat, besonders in Einzelfällen, viele Regelungen eingeführt, für die keinerlei Bedarf bestand. Die Beispiele sind bekannt und inzwischen schon fast totgeredet worden.

Glück: Orthographie ist keineswegs etwas Willkürliches. Sie ist historisch gewachsen und hat Strukturen entwickelt, die man rekonstruieren und in Form von Regeln darstellen kann, und zwar für alle betroffenen Bereiche. Orthographie hängt in wesentlichen Punkten nicht an den einzelnen Wörtern, wie viele glauben, sondern wird von der Grammatik gesteuert, namentlich von der Syntax und der Wortbildung. Willkürlich war - jedenfalls an zentralen Punkten - die "Reform" von 1996. Die seither vorgenommenen Modifikationen des Rechtschreibdiktats von 1996 galten seiner Entschärfung und Glättung und der Korrektur einiger offensichtlicher Fehler. Die "Reformer" waren zum großen Teil keine Wissenschaftler, sondern Funktionäre aus Gewerkschaften und Schulbuchverlagen sowie Sprachdidaktiker. Nachdem sie sich einmal warmreformiert hatten, waren sie nicht mehr zu bändigen. Sie hielten zäh an ihren Irrtümern fest und tun das bis heute. Deshalb haben wir heute so viele Varianten. Das ist ein Fortschritt, weil wir sonst nur die falschen Schreibungen von 1996 hätten. Es ist gleichzeitig ein Problem, weil die vielen Varianten die Einheitlichkeit der Rechtschreibung stören und weil die "Reformer" alles tun, ihre falschen Schreibungen zu erhalten und zu verbreiten, etwa über den Duden, den viele Menschen immer noch für maßgeblich in Rechtschreibdingen halten. Das ist er längst nicht mehr.

Sprachnachrichten: Regeln sollten eindeutig sein und auch ohne Linguistik-Fachstudium verständlich. Da die meisten Schüler keineswegs alle Wortarten auseinanderhalten können - manche Lehrer übrigens auch nicht -, können sie auch die daran orientierten Schreibregeln nicht verstehen und nicht richtig anwenden.

Glück: Regeln müssen vor allem ihrem Gegenstand angemessen sein. Rechtschreibregeln müssen richtige Schreibungen produzieren, wenn sie richtig angewandt werden. Sie müssen dem System, das sie steuern, paßgenau entsprechen, in unserem Fall: Sie müssen dem Sprachsystem und seinen Regeln angemessene Schreibungen hervorbringen und falsche Schreibungen unterdrücken. Nun ist die Rechtschreibung allerdings nicht nur regelgesteuert, sondern wird, parallel dazu, von den Wörterbuchmachern im Einzelfall festgelegt. Man nennt dies die "doppelte Kodifikation" der Rechtschreibung. Zum einen gibt es Regeln, die richtige Schreibungen bewirken müssen, zum anderen gibt es Wörterbücher, in denen (fast) jeder Einzelfall geregelt ist. Ein Schreiber, der eine bestimmte Schreibung sucht, sucht entweder nach der passenden Regel und wendet sie an, oder er greift zum Rechtschreibwörterbuch und schlägt dort nach. Er verläßt sich im zweiten Fall darauf, daß die Lexikographen ihm die Arbeit abgenommen haben, nämlich die korrekte Anwendung der Regel. Und das ist seit 1996 leider ein Problem geworden, denn man kann sich auf die Rechtschreibwörterbücher nicht mehr verlassen.

Regeln können nicht einfacher sein als das System, das sie steuern. Ein Schüler, der die Wortarten nicht auseinanderhalten kann und einen Satz nicht wenigstens grob in seine Teile zerlegen kann, wird mit der Rechtschreibung Probleme haben und behalten. Man kann das orthographische Regelwerk nicht so versimpeln, daß man ohne elementare Kenntnisse der deutschen Grammatik richtig schreiben kann. Wer das behauptet, ist ein Demagoge. Dafür, daß die Kinder das grammatische Grundwissen erwerben, das man zum Rechtschreiben braucht, ist der Deutschunterricht schließlich da. Daß man die wichtigsten Rechtschreibregeln benutzerfreundlich und für Kinder kindgerecht formulieren kann und sollte, ist eine Selbstverständlichkeit. Es wird übrigens immer wieder als Fortschritt verkauft, daß die "Neuregelung" mit ein paar Dutzend weniger Regeln auskomme als die alte Orthographie. Das ist eine Propagandabehauptung, die suggerieren will, weniger Regeln bedeuteten weniger Schwierigkeiten. Man hat einfach den grammatischen und lexikalischen Stoff, der zu regeln war, anders sortiert und in umfangreicheren Regeln zusammengefaßt. So kam man auf eine geringere Zahl von Regeln.

Sprachnachrichten: Sprache und Schreibung haben auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun, aber in manchen Fällen ist die geltende (neue) Rechtschreibung nicht sprachrichtig und führt zu Zweideutigkeiten.

Glück: Das sehe ich anders: Die Schreibung einer Sprache gehört zu dieser Sprache. Sie ist nichts Äußerliches, nichts Zweitrangiges, das hinter der gesprochenen Sprache rangiert und von ihr abhängt. Gesprochenes und Geschriebenes beziehen sich auf dasselbe grammatische System, sie verwenden, jedenfalls im Kernbereich, denselben Wortschatz, sie bedingen sich gegenseitig. Es gibt kein einfaches Abhängigkeitsverhältnis. Darüber ist man sich in der Forschung weitgehend einig. Nur in der Form des Ausdrucks (und in seiner materiellen Substanz, den Lauten und den Schriftzeichen) erscheinen sie getrennt, als Lautsprache und Schriftsprache.

Die "reformierte" Orthographie führt in der Tat zu falschen, weil systemwidrigen Schreibungen. Man muß schon zwischen einem "vielversprechenden" und einem "viel versprechenden" Politiker unterscheiden können, auch orthographisch. Daß Wörter wie "lieb", "weh" oder "leid" längst Adjektive sind und als Adjektive klein geschrieben werden müssen, ist auch keine sensationelle Erkenntnis. Oder auch "feind". Der Duden teilt mit, daß man schreiben solle "jemandem Feind [alte Schreibung: feind] bleiben, sein werden (veraltend)". Jemandem "spinnefeind sein" soll man aber klein schreiben. Der Duden schreibt vor: Das tut mir Leid [alte Schreibung: leid]. Das ist falsch, weil systemwidrig. Die Schreibung von Das ist mir lieb regelt er auf den ersten Blick gar nicht. Man findet sie versteckt in einem Beispiel, nämlich das Liebste groß zu schreiben. Bei weh hat er dann die richtige Schreibung: Das tut mir weh.

Sprachnachrichten: Daß im Deutschen alles geschrieben werde, "wie es gesprochen wird", ist ein verhängnisvolles Gerücht: Vater und Faden haben denselben Anlaut, werden aber unterschiedlich geschrieben; Vater und Vase beginnen mit demselben Buchstaben, werden aber im Anlaut verschieden ausgesprochen. Hätte da nicht Regelungsbedarf bestanden.

Glück: Seit über die deutsche Rechtschreibung nachgedacht und debattiert wird, wird gefordert, sie phonetisch zu begründen, nämlich seit dem 17.Jahrhundert. Das beruht auf einem Mißverständnis: Die Schrift ist nicht dazu da, das Gesprochene direkt, Laute in den Buchstaben "eins zu eins" abzubilden, sondern sie soll die Sprache insgesamt repräsentieren. Die Groß- und die Kleinschreibung hat im Gesprochenen kein Äquivalent, die Getrennt- und Zusammenschreibung auch nicht, und die Interpunktion kann man ebenfalls meistens nicht hören. Dieses Mißverständnis scheint vor allem bei Deutschdidaktikern unausrottbar zu sein.

Es ist immer wieder gefordert worden, "überflüssige" Buchstaben abzuschaffen, namentlich das V, das Q und das X. Sie gehören zum lateinischen Erbe unserer Sprache, die sich nicht nur beim F-Laut orthographische Variation erlaubt. Orthographische Variation ist oft sinnvoll, denn sie erlaubt Differenzschreibungen bei Wörtern die man gleich ausspricht, etwa Leib und Laib, war und Ware und wahr, Moor und Mohr, Lid und Lied.

Sprachnachrichten: Was könnten sich die Mitglieder des Rates für deutsche Rechtschreibung bei ihrer Auswahl gedacht haben, als sie offenbar wahllos bei einzelnen Wörtern Veränderungen beschlossen, für die es keinerlei Bedarf gab?

Glück: Der jetzige Rat kann für den Unsinn der "Reform" von 1996 nicht pauschal verantwortlich gemacht werden, denn ihm gehören einige der Rechtschreib-Rowdys von damals nicht mehr an. Hoffen wir, daß er verantwortungsvoller mit seinen Aufgaben umgeht als sein Vorgänger.

Sprachnachrichten: Für alle, denen kein öffentlich-rechtlicher Arbeitgeber die kryptischen Neuregelungen vorschreibt, stellt sich die Frage, ob es nicht sinnvoll wäre, generell nur diejenigen der neuen Regeln zu übernehmen, die allgemein verständlich oder sogar vernünftig sind, und den Rest unbeachtet zu lassen - wie es große Zeitungsverlage mit ihrer individuellen Hausorthographie tun?

Glück: Das sehe ich auch so. Möge sich niemand mehr auf den Duden verlassen.

Sprachnachrichten: Und welche Rechtschreibung verwenden Sie selbst? Vielleicht sogar unterschiedliche in verschiedenen Situationen?

Glück: Ich bleibe im wesentlichen bei der "alten" Rechtschreibung, weil sie in vielen Fällen die richtige ist, den strukturellen Regeln entspricht. Wenn es sein muß, schreibe ich muss oder dass, niemals allerdings selbstständig oder allgemein bildende Schule oder jemanden zufrieden stellen.


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Quelle:
Sprachnachrichten Nr. 37/März 2008, Seite 3
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. September 2008