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REZEPTION/062: Was war die Gruppe 47? (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2017

Was war die Gruppe 47?

von Hanjo Kesting


Als sie sich auf Einladung von Hans Werner Richter am 19. September 1977 im oberschwäbischen Saulgau zu einem Jubiläumstreffen versammelte, zehn Jahre nach ihrem letzten regulären Treffen, war die Gruppe 47 bereits historisch geworden, dokumentiert und interpretiert von vielen Seiten, ergiebiger Arbeitsstoff für Generationen von Germanisten. Im literarischen Leben hatte sie keine Stimme mehr. Umso kräftiger lebte schon damals die Legende, die auch heute, 40 Jahre später, noch immer weiterwirkt, wenn auch zuweilen in Zweifel gezogen oder sogar vermeintlich entzaubert.

Der Mythos der Gruppe 47 kommt, sonderbar genug, nicht von ihren dunkel beleuchteten Anfängen, der Nachkriegs- und Gründerzeit, her, sondern aus ihrer Glanzzeit gegen Ende der 50er Jahre. Geboren als Phönix aus der Asche, schwang sie sich damals hoch empor und gewann weltliterarisches Ansehen. Wie ging das zu? Und: War sie überhaupt eine Gruppe? Marcel Reich-Ranicki, einer ihrer Stammkritiker, nannte sie vorsichtig eine "Gruppierung", sein Kollege Reinhard Baumgart abwiegelnd einen "Literatenclub". Die Gegner beschimpften sie als "Mafia des Kulturbetriebs", Josef Hermann Dufhues, von 1962 bis 1966 geschäftsführender CDU-Vorsitzender, sprach gar von "geheimer Reichsschrifttumskammer" in Anspielung an die Organisation der Nationalsozialisten. Für Hans Magnus Enzensberger war die Gruppe "nichts anderes als ihre Tagung". Diese fand in der Regel einmal jährlich statt, wenn es hoch kam zweimal; "die Tagung meiner Innung", wie Uwe Johnson befand. Der Chef und Gründer Hans Werner Richter drückte es noch privater aus: "Es ist eigentlich mein Freundeskreis. Ich habe immer in meinem Leben gerne Feste gegeben, und jetzt gebe ich einmal im Jahr ein Fest, das nennt man die Gruppe 47. Ich lade alle Leute ein, die mir passen, die mit mir befreundet sind, und wir lesen uns gegenseitig vor und amüsieren uns und reden sehr Viel und tanzen abends. Und es ist ein Fest, das drei Tage dauert, und dann gehen wir alle wieder auseinander."

Die Anfänge

Definitorisch bekommt man sie nicht in den Griff, diese Gruppe, die sich beinahe zufällig gebildet hatte: am 10. September 1947 in Bannwaldsee bei Füssen. Hans Werner Richter und Alfred Andersch hatten einen kleinen Autorenkreis, nicht mehr als 15 Leute, eingeladen, um ein Zeitschriftenprojekt zu besprechen. Gerade war ihre Zeitschrift Der Ruf von der amerikanischen Militärregierung wegen "nihilistischer Tendenzen" verboten worden. Man hatte politische Gemeinsamkeiten: Antifaschismus und demokratische Erneuerung auf nichtkapitalistischer Grundlage. Daraus ergab sich auch ein literarisches Programm. Die Sprache der Nazis steckte noch in den Köpfen der Menschen, man wollte sie reinigen von rhetorischer Lüge und verquaster Metaphysik. Das bedeutete: keine "Kalligrafie", kein poetischer Hausschatz, Distanz zu den Autoren der "inneren Emigration". Der Begriff, der sich bald dafür einbürgerte, hieß "Kahlschlagliteratur".

So etwas musste geübt werden, und schon in Bannwaldsee fing man damit an. In Hans Werner Richters Erinnerungen heißt es: "Neben mir auf dem Stuhl nimmt der jeweils Vorlesende Platz. Es ist selbstverständlich, hat sich so ergeben. Nach der ersten Lesung - es ist Wolfdietrich Schnurre - sage ich: 'Ja, bitte zur Kritik. Was habt ihr dazu zu sagen?' Und nun beginnt etwas, was keiner in dieser Form erwartet hatte: der Ton der kritischen Äußerungen ist rau, die Sätze kurz, knapp, unmissverständlich. Niemand nimmt ein Blatt vor den Mund. Jedes vorgelesene Wort wird gewogen, ob es noch verwendbar ist, oder vielleicht veraltet, verbraucht in den Jahren der Diktatur, der Zeit der großen Sprachabnutzung. Jeder Satz wird, wie man sagt, abgeklopft. Jeder unnötige Schnörkel wird gerügt."

Die Autoren hatten zu schweigen, wenn ihre Texte kritisiert wurden, allenfalls zu lernen. Es ging um konkrete Schreibhilfe, von Kollegen für Kollegen. An diese Regel hat sich Richter lange gehalten, er vermied das Theoretisieren, die programmatische Grundsatzdiskussion. Die Gruppe 47 - ihr nüchterner Name wurde schon in Bannwaldsee gefunden - wollte keine Schule bilden, kein Konzept vertreten, keine Richtung bevorzugen. Sie war ein lockerer Verbund, der die unterschiedlichsten künstlerischen Temperamente ertrug, politisch buntscheckig, ästhetisch vielfältig. Persönliche Freundschaft und kritische Grausamkeit schlossen einander nicht aus. Man schottete sich nicht ab, suchte und integrierte vielmehr neue Talente.

Das war vor allem Richters Verdienst, der Jahr für Jahr mit seinen berühmten Postkarten zu den Tagungen einlud. Günter Grass hat ihn als Meister der Integration gerühmt: "Er hatte dieses merkwürdige und seltene Talent, Dinge so unter der Hand zu vermitteln. In seinem Auftreten war er ein liebenswerter aufgeklärter Despot. Das, was er von oben herab sagte, das war die Regel, so hatte das abzulaufen. Und er hat uns etwas unter der Hand beigebracht, was ich Toleranz nennen möchte. Ich jedenfalls habe davon viel profitiert."

Der Weg zum Ruhm

Richter, alljährlich ein Literaturfürst für drei Tage, erkannte, dass die Autoren neben dem kritischen Austausch auch Starthilfe brauchten, wenigstens in der Anfangszeit der Gruppe. Die Tagungen fanden zwar in der tiefsten Provinz statt, in Altenbeuern, Inzigkofen, Niederpöcking oder Großholzleute, aber sie wurden geschickt inszeniert und öffentlich ins Gespräch gebracht. Bald kamen Verleger, Journalisten, Rundfunkredakteure, sie bildeten den wachsenden Kometenschweif der Gruppe, die ihrerseits ins Licht der Öffentlichkeit geriet. Es ging, anfangs noch bescheiden, um Rundfunkhonorare und Verlagsverträge. 1950, auf der siebten Tagung, wurde erstmals der Preis der Gruppe 47 verliehen. So mauserte sie sich zum Handelsplatz, zur Literatenbörse. Es war Wirtschaftswunderzeit. Die Schriftsteller der Gruppe, durchweg oppositionell zum Geist der Adenauerrepublik, nahmen auf ihre Weise daran teil. Die Kahlschlagliteratur war passé, neue Autorinnen und Autoren betraten die literarische Bühne: Ingeborg Bachmann, Siegfried Lenz, Paul Celan, Ilse Aichinger. Mit Techniken der Abstraktion und Reduktion und sprachlicher Verschlüsselung formulierten sie ein existenzielles Unbehagen.

Mitte der 50er Jahre setzte ein zweiter Zustrom ein, als Autoren wie Martin Walser, Peter Rühmkorf, Hans Magnus Enzensberger auf den Plan traten. Und dann kam - 1958 in Großholzleute - Günter Grass, der aus dem Manuskript der Blechtrommel las. Sein Auftritt wirkte, glaubt man den Berichten, wie ein Elementarereignis, "wild, raubtierhaft, voll böser Phantasie" - so erinnerte sich Joachim Kaiser. Grass erhielt damals den Gruppenpreis, wie vor ihm Günter Eich, Heinrich Böll, Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann und Martin Walser. Die Liste der Namen liest sich wie der Kanon der frühen westdeutschen Nachkriegsliteratur. Namen von Autoren sind darunter, die bis heute bestimmend geblieben sind. Für die Gruppe 47 war die Lesung von Grass der definitive Durchbruch. Von diesem Tag an war sie eine Institution. Ein Gipfelpunkt war erreicht, aber zugleich ein Wendepunkt. Jede Tagung war von nun an ein Medienspektakel. Waren es anfangs 17, später 70 Teilnehmende gewesen, so waren es nun 200, mitsamt dem belebenden Tross der Agenten, Literatur-Groupies und Berichterstatter. Und einige der Stammmitglieder, wie Heinrich Böll, begannen sich bereits abzuwenden.

Politisierung und Zerfall

Martin Walser schlug angesichts der unaufhaltsamen Aufblähung ironisch vor, die Gruppe zu sozialisieren: als Forum für alle. In Wahrheit wurde sie zum Forum der Etablierten. Und zum Jahrmarkt der Eitelkeit, auf dem mehr und mehr die Kritiker den Ton angaben. Erstmals wurden Tagungen ins Ausland verlegt: nach Sigtuna in Schweden, nach Princeton in den USA. Dort kam es 1966 zum Eklat, den der junge, gerade 22-jährige Peter Handke anzettelte, als er die westdeutsche Literatur der Zeit in Bausch und Bogen verdammte und jubelnde Zustimmung des Auditoriums erntete: "Es ist eine ganz, ganz unschöpferische Periode in der deutschen Literatur doch hier angebrochen, und dieses komische Schlagwort vom 'Neuen Realismus' wird von allerlei Leuten ausgenutzt, um doch da irgendwie ins Gespräch zu kommen, obwohl sie keinerlei Fähigkeiten und keinerlei schöpferische Potenz zu irgendeiner Literatur haben. Es wird überhaupt keinerlei Reflexion gemacht. (...) Was für eine völlig läppische und idiotische Literatur!"

Politisch kannte die Gruppe 47 keine Berührungsängste. Gäste aus der DDR waren dort regelmäßig vertreten: Hans Mayer als Kritiker, Johannes Bobrowski - der 1962 in Berlin den Gruppenpreis erhielt - als Autor. Und die Teilnahme von Stephan Hermlin und Wolf Biermann wurde nur durch ein Ausreiseverbot verhindert. Aber auch von innen begann sich die Gruppe zu politisieren. Es gab Resolutionen zur SPIEGEL-Affäre, zum Springer-Boykott. Resolutionen, die von einzelnen Autoren der Gruppe angestoßen wurden. Die letzte reguläre Tagung fand 1967 in einem fränkischen Gasthaus statt, das den symbolischen Namen "Pulvermühle" trug. Die Politisierung der Gesellschaft im Zeichen der Studentenrevolte ereilte auch die Gruppe 47, die in Fraktionen zerfiel. Höhnisch skandierten Studenten das Wort "Dichter", das jetzt wie ein Schimpfwort klang. Es war das Ende. Aber die Gruppe war auch literarisch nicht mehr am Puls der Zeit. "Sie bestand nun also", wie Joachim Kaiser feststellte, "aus erstens relativ erfolgreichen, zweitens relativ alten Leuten. Da Richter nun tatsächlich ein älterer Herr war, war ihm die junge Literatur verhältnismäßig ferngerückt. Da kannte er sich, grob gesagt, nicht mehr so aus."

Zehn Jahre später in Saulgau der Epilog, das sogenannte Veteranentreffen. Die 30. Tagung der Gruppe - und ihre letzte. Äußerlich war alles wie einst und doch ganz anders. Ein Versuch, eine literarische Lebensform noch einmal als Vorbild und nach wie vor brauchbares Modell hinzustellen. Wieder saß Hans Werner Richter auf dem Chefsessel. Und Wolfdietrich Schnurre improvisierte nicht nur eine Laudatio auf den Initiator der Gruppe 47, sondern las auch seine Erzählung Das Begräbnis, mit der die erste Tagung 1947 in Bannwaldsee eröffnet worden war. Hans Werner Richter endete, wie stets, knapp und lakonisch: "Wir sind also am Ende angekommen. Naja. Was soll ich sagen? Ich bedanke mich. Na Schluss, wir machen Schluss!"

Der Eifer der Aufklärer

Es war noch lange nicht Schluss. Die Erosionsarbeit der Historiker hat auch die Gruppe 47 nicht verschont, ja, bei den Germanisten an den Universitäten und den Journalisten in den Feuilletons wird sie seit den 90er Jahren immer häufiger negativ gesehen. Es gab Polemiken, sogar eine Streitschrift, die die Gruppe als antisemitisch verurteilte. Heute muss fast nur ihr Name genannt werden, um Abwehrreflexe auszulösen. Dabei kommt dem Auftritt Paul Celans auf der Tagung in Niendorf im Mai 1952 eine Schlüsselrolle zu. Über seine Lesung, die nicht besonders gut aufgenommen wurde, soll Hans Werner Richter damals gesagt haben: "Der spricht ja wie Goebbels." Das wurde 25 Jahre später von Walter Jens kolportiert, und Richter selbst hat es in seinen später veröffentlichten Tagebüchern nicht dementiert. Die Reaktion war derart, als habe man eben darauf gewartet. Dabei lässt sich die Äußerung nur vor dem Hintergrund von Richters völlig anderen, fast entgegengesetzten ästhetischen Vorstellungen verstehen: Er reagierte allergisch nicht nur auf den Schwulst der Nazi-Sprache, sondern auch auf ein dichterisches Pathos, das diesem Schwulst auf den ersten Blick oder den ersten Klang ähnlich war. Richter mochte sich bei Celans Lesung an die weihevolle Attitüde eines Stefan George erinnert fühlen, die all das verkörperte, was er, der Begründer der Gruppe 47, ästhetisch wie politisch nicht wollte, zumindest nicht in diesem historischen Augenblick. Im Übrigen blieb Celans Verhältnis zu Richter weitgehend ungetrübt. Und was seine Niendorfer Lesung betrifft, so widerlegen die Rundfunk- und Verlagsangebote, die ihn danach erreichten, ihre angebliche Erfolglosigkeit.

Dennoch gibt es seit rund 20 Jahren im Umgang der Öffentlichkeit mit der Gruppe 47 einige fundamentale Missverständnisse: der Antisemitismus-Vorwurf ist das gravierendste, aber nicht das einzige. Martin Mosebach sprach 2011 in Stockholm mit Blick auf die Autoren der Gruppe 47 mit negativem Zungenschlag von "sozialdemokratischem Realismus". Dabei erweist jede auch nur dürftige Kenntnis der literaturgeschichtlichen Fakten eine solche Kennzeichnung als unhaltbar. Sie beruht hauptsächlich auf der fälschlichen Gleichsetzung der Gruppe 47 mit Günter Grass, ihrem berühmtesten Autor. Aber Argumente helfen hier wenig: Die Gruppe, die einst nahe daran war, mit der westdeutschen Nachkriegsliteratur identifiziert zu werden, löst 70 Jahre nach ihrer ersten Zusammenkunft überwiegend negative Reaktionen aus. Man kann darin reichlich Stoff finden zum Nachdenken über die Wandelbarkeit historischen Urteilens. Sind es wirklich nur Missverständnisse? Die ödipale Gereiztheit einer jüngeren Autorengeneration, die lange im Schatten der Älteren schrieb und nie die Chance besaß, in deren gesellschaftliche Rolle einzutreten, dürfte bei ihrem Zustandekommen eine nicht geringe Rolle spielen, nicht zuletzt die Dialektik eines affektbestimmten Aufklärungswillens, der sich in blindem Eifer vom Ziel wirklicher Aufklärung immer weiter entfernt.

Hanjo Kesting ist Kulturredakteur der Zeitschrift Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Zuletzt erschien bei Wallstein Begegnungen mit Siegfried Lenz. Essays, Gespräche, Erinnerungen.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2017, S. 58 - 62
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. September 2017

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