Die Wahrheit ist einfach
sagt sie
den Offenen, Jungen
denen, die zu lernen bereit sind, noch
nicht verschüttet unter Müll und Gewohnheit
denen, die noch heben den Blick
zukunftshungrig, zu rühren von Schönheit
die fällt -
schaut von draußen, vom Weltenraum her
auf diese Erde - atemberaubend
wie sie sich dreht, ruhig, zugewandt
der Wärme, der Sonne, unser heimatlicher Planet
bläulich, weiß, ocker und grün
wunderbar in sich gerundet
Spiel der Kräfte, kreisend, innen wie außen
freundlich uns meist, zuträglicher Lebensraum uns
seit hunderttausenden Jahren - doch
hundert Jahre Zukunft zu denken
ist heute ein Wagnis
Sind die Systeme, die uns leben lassen
noch belastbar? Oder unterwegs bereits
zu anderer Gewichtung?
Wisst ihr, wie die Welt vor lächerlichen
hundertachtzig Jahren war? Achtzehnhundert-
zweiunddreißig? Goethes Tod. Unglaublich die Veränderung!
Wenn in ein Spiel von Kräften Neues tritt
auch nur in winziger Dosierung
Neues eintritt, unablässig - ändert sich
in kleinsten Schritten auch das Ganze
Langsam, aber unausweichlich und irgendwann dann
nicht mehr langsam
Ist die Dosierung heute winzig?
Wenn wir es schneien machten - luftig
zierlich, schwerelos die Flocken, einzeln
nicht der Rede wert -
es Tage, Wochen schneien machten
dann könnte schließlich drüber dunkelblau der Himmel stehn
wir wüßten doch, was über unsern Köpfen droht.
Ein winz'ges Stück, das sich aus den getürmten Wächten
löst und fällt und rollt, ein lächerlicher Ball zuerst
wir wüssten, dass er rollen wird
und säßen wir
bei Grog gemütlich tief im Tal
und dehnten auch die Zeit fast nach Belieben
wir wüssten, dass er fällt und wächst -
und die Lawine stürzt
Die Erde
braucht uns nicht, sie dreht sich weiter
der Mensch kein Trauer-, nur ein Zwischenfall
(nur ihre Schönheit sähe niemand so wie wir)
Viel
ist über sie hinweggegangen - spurlos fast
Die Selbstvertilgung
dieses rabiaten Schädlings brächte
Erleichterung für alles, was nach ihm noch lebt
Verbrennen wir - tagtäglich - Energie und schicken
die Spaltprodukte unbesehen in den Himmel - jede
Heizeinheit und jeder Kilometer, den wir fahren, fliegen, zählt -
kippt irgendwann das alte Gleichgewicht
ein neues kommt, ein anderes
Das ist es schon.
Alle Stoffe, die wir in den Boden, in die Flüsse
in die Meere geben und die dort zuvor nicht waren
ändern etwas, Schritt um Schritt. Alles
was wir anders machen, als wir's vorgefunden haben
ändert etwas -
nichts geht verloren, jeder kleinste Akt
geht in Millionen andre ein, summiert sich, wächst
geduldig, bis der Schwellenwert erreicht ist
Sechs Milliarden Menschen machen derzeit Änderung
sechs Milliarden hat die Erde nie bisher gesehen
bald sind es sieben. Zehn Milliarden? - Alle
wollen leben so wie wir.
Also weiter so? MaschinenPower und Musik - tagesfröhlich
schielend auf den Nachbarn, der ja auch nichts tut...?
Kollektive Dummheit wird
kollektiv bestraft
Wir ändern uns - oder
ES ändert uns - das Kommende. Die Wahrheit ist einfach
Die Freiheit zu tun, was immer uns einfällt
( die wir in Wirklichkeit nur scheinbar hatten, nur
auf Zeit )
diese 'Freiheit' zu entbehren scheint ein Schmerz -
das Fallen aus dem Gleichgewicht, wenn die Systeme
kippen - wird
ungleich schmerzlicher
Ihr also, ihr Jungen, innerlich Jungen, ihr lernt?
Blickt immer noch auf?
Liefert die Hoffnung nicht aus
den Vielen, den Maul-
würfen hektisch blind gelebter Tage
Nehmt die Welt in die Hand, eure
zärtliche, harte Hand, tut
das Unumgängliche - allen Widerständen zum Trotz
ehe Not es endlich erzwingt
wenn es - vielleicht schon -
zu spät ist
Rainer Luce, 1990
* Quelle: © Rainer Luce Mit freundlicher Genehmigung des Autors veröffentlicht im Schattenblick zum 24. August 2011 |