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LITERATURBETRIEB/033: Kritik 2 (SB)


Ein bewährter Begleiter hat sich überlebt


Das "Sachwörterbuch der Literatur" von Gero von Wilpert versäumt bei manchen Fachbegriffen den Anschluß an die neuere Forschung

Wer Germanistik oder Literaturwissenschaften an einer deutschen Universität studiert hat, für den war "Gero von Wilpert" wie das "Sachwörterbuch der Literatur" genannt wurde, ein unentbehrliches Standardwerk. Spätestens wenn eine Prüfung anstand, dürfte das handliche einbändige Lexikon zu Rate gezogen worden sein. Es behauptete neben den Enzyklopädien sowie den mehrbändigen Literaturlexika seinen Rang, weil es den Versuch unternimmt, "die dichterischen Gattungen und Formen nicht nur beschreibend und literaturhistorisch darzustellen, sondern sie in erster Linie auf ihre Wesenszüge und Eigengesetze sowie ihren dichterischen Aussagewert zu befragen." (Vorwort) Dem Zeitgeist entsprechend galt es wohl gerade deshalb zu seiner 1. Auflage 1955 als das beste deutschsprachige Lexikon der Literaturwissenschaft, jedoch auch wegen des Umfangs in der Anzahl der behandelten Begriffe und den bibliographischen Angaben.

Für die 8. überarbeitete und erweiterte Auflage aus dem Jahr 2001 wurde das Lexikon "von Grund auf neu durchgesehen und auf den neusten Stand gebracht sowie um rund 500 Artikel erweitert", wie es im Gesamtverzeichnis des Alfred Kröner Verlags heißt. Das Werk soll mit nunmehr 5.500 Stichwörtern "in einzigartig bewährter Prägnanz und Präzision die Begriffssprache der Literaturwissenschaft" samt historischem Überblick und ergänzten Literaturangaben erschließen.

Grundsätzlich jedoch hielt der Verfasser daran fest, nur feste literaturwissenschaftliche Begriffe aufzunehmen und kein bloßes Hilfswörterbuch aller heute in der Literaturwissenschaft benutzten Fremdwörter, Schlag- und Modewörter sowie die sich selbst erklärenden oder verunklarenden Begriffsprägungen aller Richtungen der Literaturtheorie zu bieten.
(aus dem Vorwort von Gero von Wilpert)

Das ist zwar eine klare Stellungnahme des Herausgebers, allerdings gerät sein Werk damit zunehmend ins Hintertreffen, denn heute werden eher themenorientierte Begriffserklärungen gebraucht; die Literaturwissenschaft ist in den letzten zwanzig Jahren zu methodischen Fragen zurückgekehrt und gibt inhaltlich der Theoriebildung breiten Raum. Gero von Wilpert ist zwar - obwohl inzwischen Emeritus - weiterhin bereit, "eventuelle Lücken" in seinem Hauptwerk zu schließen und für Anregungen jederzeit dankbar. Eine gründliche Revision wird von ihm aus oben genannten Gründen jedoch nicht zu erwarten sein.

So wird durch das Fehlen von heute unabkömmlichen Grundbegriffen der Anschluß an zeitgenössische Diskurse nicht mehr gewährleistet sein. Begriffe wie Aspekt, Aktion, Figurenkonstellation, Element, Raumsemantik, Sprechsituation (im Unterschied zur Kommunikationssituation), Lautpoesie (im Unterschied zur Lautmusik) und Zeitstruktur fehlen. Vielleicht ist es nicht möglich, ihre "Wesenszüge und Eigengesetze sowie ihren dichterischen Aussagewert" zu bestimmen, was übrigens ebenso "verunklarende Begriffprägungen" von Wilpert selbst sind, zumal, wenn auf ihrer Basis die Begriffe im Lexikon erklärt werden. Das erscheint dann sehr herausgelöst aus jedem Hintergrund und mit sich selbst erklärt, zum Beispiel der Grundbegriff "Drama":

Drama (griech.=Handlung), eine der drei natürlichen Grundformen der Dichtung, die im Ggs. zur subjektiven Stimmungshaftigkeit einmaligen Einzelerlebens und dem Bekenntnischarakter in der Lyrik und zur breiten Stoffülle vergangenen Geschehens in der Epik e. knappe und in sich geschlossene, organisch erwachsene *Handlung unmittelbar gegenwärtig in *Dialog und *Monolog, und zwar nicht nur durch das die Phantasie anregende Wort, sondern auch durch szen. Darstellung auf der Bühne zur Anschauung bringt und damit dem Zuschauer durch Entlastung der nachschaffenden Phantasie e. direktes äußeres wie inneres Mitgehen ermöglicht. Das eigtl. Drama ist auf die Bühnendarstellung hin angelegt und findet in ihr seine Vollendung wie die Partitur in der musikal. Wiedergabe [...].
(S. 187)

Mit einer solchen Definition kann heute angesichts der vielfachen Verwendung dramatischer Elemente in den Medien kaum noch ein Studierender oder Schreibender etwas anfangen.

Was von Wilpert nicht zur Kenntnis genommen wird, sind die aktuellen Vortrags- und Verbreitungsformen von Literatur, zum Beispiel Poetry-Slams, Fanzines oder Pop-Literatur. Diese Auslassungen sind mit Sicherheit nicht zufällig, denn die multimedialen Erzählweisen verändern die literarischen Darstellungsformen so sehr, daß man sich nicht mehr auf das Lesen beschränken kann, sondern gleichzeitig die multimedialen Effekte berücksichtigt werden müssen, so daß am Ende weniger der Inhalt zählt, als das Spektakel, der Showeffekt. Dies liegt zwar voll im Trend, hat aber mit Literatur nichts mehr zu tun. Fragt sich allerdings, ob es längerfristig der Entwicklung des Literaturbetriebs zuträglich ist, eine Auseinandersetzung mit diesen neuen Erscheinungsformen zu negieren oder zu vermeiden.

In der neu präsentierten Form zeugt das "Sachwörterbuch der Literatur" eher davon, in welcher Konzeption Literatur von einer intellektuellen Elite zu einer bestimmten Zeit präsentiert worden ist.


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Prof. Dr. Gero von Wilpert (geboren 13.3.1933 in Estland) studierte 1953 bis 1957 an der Universität Heidelberg deutsche Literaturwissenschaft, klassische Philologie und Sprachwissenschaft. 1957 bis 1972 war er Lektor und freier wissenschaftlicher Schriftsteller in Stuttgart und 1973 bis 1994 Professor für deutsche Literaturwissenschaft in Sydney/Australien. Er ist heute Fellow der Australian Academy of the Humanities.


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Wilpert, Gero von
Sachwörterbuch der Literatur,
2001 by Alfred Kröner Verlag Stuttgart,
8. überarb. u. erw. Auflage, 2001
925 Seiten, Leinen, Oktavformat
ISBN 3-520-23108-5


Erstveröffentlichung am 6. September 2001

5. Januar 2007