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LITERATURBETRIEB/041: Sprache 7 (SB)


Die Zukunft der deutschen Sprache: von internationaler

Wissenschaftssprache zum europäischen Dialekt?


Freie Universität Berlin, Institut für Biologie: ein Seminar über "gene expressions, mutations, down- and upregulated factors", d.h. über manipulierte Gene. Hier eine repräsentative Antwort aus einer Umfrage, wie die Studenten mit der Anforderung fertig werden, Referate und Seminarpapiere (Papers) auf englisch verfassen zu müssen:

Man kommt relativ leicht rein, weil dieses Englisch, was in diesen Papern geschrieben wird, ist ein relativ einfaches, standardisiertes Englisch - so ein, zwei Paper, dann ist man schon ganz gut drin. Was schwieriger ist, wenn man ein Paper liest, was wirklich von einem Briten verfasst wurde. Das ist wirklich schwieriger zu lesen, als eins, das von einem Koreaner oder Japaner kommt, die dann eben diese standardisierten Phrasen und alles blockweise aneinander puzzeln.
(Deutschlandfunk, DLF, vom 15.1.2005)

Schwer genug fällt es diesem deutschen Studenten, selbst die deutsche Sprache einzusetzen, um zu formulieren, was er meint. Man könnte fast vermuten, Versatzstücke oder dem Hörer vorgeworfene Stichworte statt Genauigkeit sind sprachenunabhängig "in". Sprachliche Inhalte in Blöcken und als Puzzle verwendet, im Grundstudium erlernte englische Fachvokabeln, es klingt so, als sei das heute in Deutschland das Forschungsrüstzeug eines Studenten. Verwendet er im oben genannten Sinne Englisch, stehen statt eines Argumentationsaufbaus die Vokabeln und Phrasen und, Engländer sagen, "Chunks" (Satzbruchstücke), die man kennt, im Vordergrund. Etwas in gutklingendem Englisch zu sagen, wird zum Ersatz für die sprachliche Entwicklung eines Gedankens. Es kann nur von einer Vertiefung des inhaltlichen Verständnisses die Rede sein, wenn man davon ausgeht, daß die Sprachverwendung keine bloße Formfrage ist, sondern das Instrument, mit dem man den Inhalt der Untersuchung beeinflußt und gestaltet.

Es bestehe ein "ungeheurer Unterschied zwischen der Muttersprache und allen andern Sprachen", sagt die Schriftstellerin Hannah Arendt, in den fremden Sprachen verfalle man rasch in Klischees.

Nach Leibniz hängt die 'Wissenslust' einer Nation, die 'Öffnung der Gemüter in allen Dingen' davon ab, daß ihre Muttersprache umfassend ist, folglich auch - in einer Zeit radikalen Wandels - umfassend fortgebildet wird. Daran hängen Orientierung, Selbstbestimmung und Freiheit. Denn 'was immer Menschen tun, erkennen, erfahren oder wissen, wird sinnvoll nur in dem Maß, in dem darüber gesprochen werden kann' (Arendt).
(aus DLF vom 27.5.2004 "Lieber schlechtes Englisch als gutes Deutsch?" von Christian Meier)

Die deutsche Sprache ist nicht einfach austauschbar, ohne dabei zu degenerieren. Linguisten warnen vor einer Vernachlässigung der Sprachentwicklung. Die Sprachfähigkeit des deutschen Nachwuchses hat ihrer Einschätzung nach deutlich abgenommen. Die Möglichkeit, komplexe Texte noch verstehen oder auch sprechen zu können, sei bei vielen Schülern und auch Studenten in den ersten Semestern sehr schwach. Damit schwindet zugleich das Vermögen, Widersprüche überhaupt erkennen und formulieren zu können. Auch einen Standpunkt zu benennen oder zu formulieren, wird angesichts der Datenverarbeitung im virtuellen Raum irrelevant, wichtig sind nur noch die Informationen, nicht ihre Auswertung.

Der Leser von Hypertexten muß den Zusammenhang zwischen den Begriffen, Argumenten und Informationen selbst herstellen. Im sogenannten linear verfaßten (gedruckten) Text dagegen kann man sich darauf verlassen, daß der Autor den Leser schrittweise von Anfang bis Ende durch den Inhalt führt und dabei seine Meinung entwickelt und begründet - eine überholte Vorgehensweise? Heute begnügt man sich nur noch mit kurzen, oberflächlichen Statements, die man wechseln kann, und gibt sich beweglich - tauglich für ein erfolgreiches Management seines Lebens in einer Gesellschaft, die auch den letzten Freiraum für die Entwicklung kritischen Denkens, die Sprache, systematisch einschränkt. Was bleibt, ist nicht einmal mehr die Erinnerung an einen Mangel, sondern reine Unkenntnis: statt einer Klärung im Gespräch nur noch der kurze Witz bzw. der inhaltsleere Spruch.

Die Präsidentin des Goethe-Instituts, Jutta Limbach, weist darauf hin, daß Sprache die kulturellen Eigenheiten eines Landes widerspiegele, und sie beklagt die "Manie der Anglizismen" und die "geradezu anbiedernde Bereitschaft", auf die eigene Sprache zu verzichten, um Internationalität zu demonstrieren. Das ist der aktuelle Stand einer Entwicklung, die mit einem Blick auf die Geschichte der Wissenschaftssprache nachvollziehbar wird: Im 19. Jahrhundert zählten deutsche Wissenschafter in allen Wissenschaften zu den Vorreitern. Zum Beispiel war Deutsch vor dem ersten Weltkrieg die mit Abstand wichtigste Fremdsprache in den USA. Ein Grund neben anderen war die Bedeutsamkeit der deutschen Wissenschaft. Jeder berühmte deutsche Wissenschafter unterrichtete ausländische Schüler, lehrte im Ausland, vertrat seine Wissenschaft auf internationalen Konferenzen, und zwar auf Deutsch, zum Beispiel Robert Koch, Siegmund Freud, Max Weber oder Albert Einstein. In internationalen Bibliographien war mindestens ein Drittel aller Titel deutschsprachig, wobei nicht alle aufgeführten Werke auch von Deutschen geschrieben worden waren.

Nach dem Ersten Weltkrieg war deutsch für fünf bis sechs Jahre auf internationalen Konferenzen verboten und mußte große Einbußen im Ausland erleben. Ein weiterer entscheidender Verlust für die deutsche Wissenschaft war die Vertreibung vieler Wissenschafter ins Exil. Bis 1936 gingen mindestens 1.600 deutsche Hochschullehrer meistens in angelsächsische Länder. Deutsch als internationale Wissenschaftssprache hatte aber noch nicht endgültig an Bedeutung verloren. Bis in die 80er Jahre war der deutsche Anteil an wissenschaftlichen Publikationen noch enorm hoch. Danach veröffentlichte die nächste Wissenschaftergeneration zunehmend in englisch. Inzwischen wird die deutsche Sprache international entbehrlich. Denn Wissenschaft, Handel, Unterhaltungsindustrie, Musik, Sport wird auf englisch betrieben.

Immer häufiger wird öffentlich die Frage diskutiert, was es nicht nur für die deutsche, sondern auch für die andern nicht- englischen Sprachen bedeutet, wenn ganze Bereiche des modernen Lebens nicht mehr in ihnen abgehandelt werden. Englisch erscheint zunehmend attraktiv, deutsch dagegen eher verstaubt und provinziell. Auch im Job werden Englischkenntnisse immer wichtiger. Das führt dazu, daß eher schlechtes Englisch als gutes Deutsch gesprochen wird und mit der Zeit die deutsche Sprache darunter leidet. "Die Grammatikkenntnisse vieler Germanistikstudenten entsprechen nicht mal mehr dem, was noch vor dreißig Jahren von einem Hauptschüler erwartet wurde", erklärt Ulrich Schmitz, Linguistikprofessor an der Universität Essen. Dabei wird Deutsch heute noch von 120 Millionen Menschen in aller Welt als Muttersprache gesprochen, das sind mehr als Französisch- (100 Millionen) oder Italienisch-Sprechende (55 Millionen). Weltweit lernen rund 15 Millionen Menschen Deutsch als Fremdsprache.

Die Folgen des Triumphzuges des globalisierten Englisch (BSE - Basic Simple English) quer durch sämtliche Wissenschaften sind noch nicht abzusehen. Systematische Einschränkung der sprachlichen Möglichkeiten durch den Gebrauch einer Fremdsprache zum Beispiel wirken sich regulierend auf das Denken aus. Aber auch in der Muttersprache scheinen Kategorisierungen und eine gezielt ungenau gehaltene Ausdrucksweise angesichts der unbewältigbaren Informationsfülle, politischer Repressionen und Unsicherheiten eine Überlebensstrategie geworden zu sein, was den Anwendungsfähigkeiten der Sprecher und nicht zuletzt der Entwicklung der deutschen Sprache einen erheblichen Abbruch tut. Kann man im Inhalt der folgenden Nachricht auch die Zukunft der deutschen Sprache erkennen?

Sprachensterben in Afrika - Wissen verrinnt Das jahrhundertealte traditionelle Wissen afrikanischer Völker geht verloren, da viele Sprachen aussterben. Darauf machten Teilnehmer einer UN-Konferenz für Handel und Entwicklung in der mosambikanischen Hauptstadt Maputo aufmerksam.

Nach UN-Angaben wird mehr als die Hälfte der weltweit 6000 Sprachen in diesem Jahrhundert verloren gehen. Ein Drittel der Sprachen entfällt auf Afrika, 200 von ihnen wird bereits von weniger als 500 Personen gesprochen. Die Hälfte der Menschheit spricht nur acht Sprachen: Chinesisch, Englisch, Hindi, Spanisch, Russisch, Arabisch, Portugiesisch und Französisch.
(aus: Schattenblick, NACHRICHTEN\VOM TAGE/WISSENSCHAFT/2996: Aus Forschung und Technik vom 08.03.2005)

Deutsch als europäischer Dialekt? In Europa wird schon heute die Mehrzahl der Staaten zu Provinzen herabgestuft. Ihre Sprachen scheinen den Status von Dialekten anzunehmen. Wie ein letzter Aufschrei, um diese Entwicklung aufzuhalten, die schon längst begonnen hat, erscheint da die wenig effektive, weil nur an den Symptomen herumkurierende Forderung des Vereins Deutsche Sprache nach gesetzlicher Verankerung des Deutschen, was seinen Qualitätsverfall jedoch nicht aufhalten wird.

In Anlehnung an die Verfassungen anderer Länder hat der Verein Deutsche Sprache (VDS) eine Verankerung der deutschen Sprache im Grundgesetz gefordert. Wie der VDS-Vorsitzender Walter Krämer in den "Sprachnachrichten" schrieb, sei es mehr als in den meisten anderen Ländern Europas und der Welt in Deutschland die Landessprache, die das Gemeinwesen zusammenhält. Nun will eine Arbeitsgruppe des Dortmunder Vereins bei Politikern aller Parteien für die Idee werben. Verfassungen in anderen Ländern nähmen ausdrücklich auf die Landessprache Bezug.
(aus: Schattenblick, NACHRICHTEN\VOM TAGE)

Die veränderte Lage der Sprache, ihre Verarmung, ist Teil viel umfassenderer gesellschaftlicher Veränderungen. Das Problem der Reduzierung sprachlicher Ausdrucksmöglichkeiten ist also weitreichender anzugehen. Der Sprachverein bewirkt mit seinen Aktivitäten nur eine Verankerung der Sprache in den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen, die die sprachlichen Möglichkeiten krass reduzieren - und damit wohl genau das Gegenteil seiner ursprünglichen Absicht. Denn Unterstützung bei genau jener gesellschaftlichen Instanz, der Rechtsprechung, zu suchen, die bisher alles getan hat, um die beschriebenen Tendenzen zu festigen, weil sie den Bundesbürger nicht durch selbstentwickeltes oder gar kritisches Denken rebellisch sehen will, ist nicht nur kontraproduktiv, sondern schreibt darüber hinaus die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse fest. So gesehen ist die Abnahme der Sprachfähigkeit, und damit die Unfähigkeit zu eigenem Denken, nicht an die Nationalität der Sprachgemeinschaft oder den Entwicklungsstand einer Sprache gebunden, sondern an ihre staatlich geführte Regulation.


Erstveröffentlichung am 20. Mai 2005

5. Januar 2007