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LITERATURBETRIEB/046: Lyrik 2 (SB)


Der neue Conrady - Das große deutsche Gedichtbuch


Die Standardanthologie deutschsprachiger Lyrik ist seit fast 30 Jahren ein zuverlässiger Begleiter.

Im März 2001 gibt die Redaktion "Das Gedicht" (Anton G. Leitner, Hrsg.) durch die Hauptnachrichtensendungen der ARD-Rundfunk- und Fernsehanstalten bekannt, daß sie anläßlich des von der UNESCO ausgerufenen Welttages der Poesie ("World Poetry Day", 21. März 2001) "Das große deutsche Gedichtbuch" von Karl Otto Conrady zum "Gedichtband des Jahres" wählt. Die Anthologie vereine "den Kernbestand deutschsprachiger Dichtkunst in einem Band".

Tatsächlich ist "Der Conrady", wie "Das große deutsche Gedichtbuch" von Studenten der Literaturwissenschaft kurz genannt wird, schon Jahrzehnte lang ein unentbehrliches Standardwerk, nicht nur an den Universitäten unter Germanisten, sondern zum Beispiel auch für Deutschlehrer und Lyrikliebhaber. Sucht man ein bestimmtes Gedicht oder einen Eindruck vom Werk eines Lyrikers, findet man es mit der größten Chance im "Conrady".

1977 erschien der umfangreiche Band von über 1000 Seiten im damaligen Athenäum Verlag zum ersten Mal. Er sollte eine "füllige Dokumentation der Geschichte der deutschsprachigen Lyrik von den Anfängen bis zur Gegenwart" (Vorwort von Karl Otto Conrady, Juli 2000, S.7) schaffen.

Dieses Konzept hat viel Zuspruch gefunden, zumal Karl Otto Conrady als Professor für Neuere Deutsche Literatur mit der Sammlung die Absicht verfolgt:

Die Anthologie sollte weit mehr bieten als die bekannten und im Gedächtnis der Lyrikliebhaber haftenden Stücke, nämlich eine reichhaltige Sammlung der zahlreichen und unterschiedlichen 'Spielarten' deutschsprachiger Lyrik. Auch was dem Leser fern und fremd sein mochte, hatte in dem Band Platz zu finden. Etliche 'Konterbande' steckte ich mit hinein: politische, revolutionäre Texte, die manche als 'echte Lyrik' nicht recht anerkennen woll(t)en. Diese Absicht galt auch für die revidierte Fassung 1991 und ist unverändert verbindlich für die vorliegende Neuausgabe 2000.
(Vorwort, S.7)

Conrady ist der Meinung, es gäbe kein zeit- und geschichtsloses Wesen von Lyrik samt zugehörigen Wertungen. Der aufmerksame Leser merke schnell, "daß ein Disput über wichtige und folgenreiche Lebensprobleme und politische Handlungen oder Verhaltensweisen im Buch selbst durch die Gedichte geführt wird":

Wenn sich nationalistische Begeisterung und Verblendung in Strophen dokumentieren, die wegen ihres Gewichts in bestimmten Phasen der deutschen Geschichte nicht einfach übergangen werden sollen, dann ist die unmißverständliche Antwort der ins Exil Getriebenen, der Geschundenen und Verfolgten parat...
(Vorwort, S. 17)

Im Kern ist die alte Ausgabe erhalten geblieben. Die rund 2.200 Gedichte sind unter dem Aspekt revidiert, "dem Leser viele und bequeme Zugänge zur ganzen Mannigfaltigkeit deutscher Lyrik zu bieten", was auch gelingt. Nachdem Kürzungen und Hinzufügungen an der Auswahl entschieden waren, wurde ein übersichtliches und einfach erschließbares Register erstellt. Verzeichnet sind Wort- und Sacherklärungen, Gedichtüberschriften und Gedichtanfänge und Autoren in alphabetischer Anordnung. Eine weitere Suchhilfe bietet das Inhaltsverzeichnis "Die Autoren und ihre Gedichte", das nach der historischen Entwicklung der Lyrik aufgebaut ist, von den alt- und mittelhochdeutschen Anfängen bis zur Gegenwart, so daß ein unkompliziert zugängliches Archiv deutschsprachiger Lyrik mit diesem Band vorliegt.

Angesichts der so unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Gedichte stellt sich dem Leser beim Durchblättern die wohl von jeder Lyrikergeneration immer wieder neu aufgeworfene Frage: "Was macht eigentlich ein Gedicht aus?" Karl Otto Conrady hat sich sehr umfassend mit dieser Frage auseinandergesetzt. Er legt seiner Sammlung eine "neutrale Minimaldefinition" von Lyrik zugrunde, "die von Wesens- und Wertbehauptungen frei ist und auch zukünftigen Erprobungen im Feld der Lyrik jegliche Freiheit lässt":

Zur Lyrik gehören alle Gedichte, und Gedichte sind sprachliche Äußerungen in einer speziellen Schreibweise. Sie unterscheiden sich durch die besondere Anordnung der Schriftzeichen von anderen Schreibweisen, und zwar durch die Abteilung in Verse, wofür bei der 'Visuellen Poesie' die Bildgestaltung mit den Mitteln des (nicht immer nur) sprachlichen Materials und der Schrift eintritt. Der Reim ist für die Lyrik kein entscheidendes Merkmal."
(Vorwort, S.13f)

Die Auseinandersetzung mit einer Gedichtanthologie als Buchausgabe sollte die paradoxe Situation, in der die Lyrik sich heute befindet, nicht unerwähnt lassen: Gedichte, zwischen zwei Buchdeckeln gedruckt, verkaufen sich immer weniger und werden in immer kleineren Auflagen verlegt. Gleichzeitig werden Lyrikveranstaltungen hervorragend besucht und Hörbücher finden reißenden Absatz. Lyrik will also gehört werden, dem Ursprung des Wortes entsprechend: "Lyrik" war in der Antike das von der Lyra vorgetragene Lied.

Die Geschichte der Lyrik setzt sich fort. Ob ihre Dokumente weiterhin vornehmlich in der traditionellen Druckweise der sog. Print-Medien zur Hand sein werden oder in der neuen Welt der Computer ihr Zuhause finden, ja von den elektronischen Apparaten selbst auch produziert werden, das bleibt abzuwarten. Und ob Verlage überhaupt noch Gebilde dieser eigentümlichen Gattung Lyrik, mit denen Umsatzurekorde nicht zu erwarten sind, in ihre verlegerische Obhut nehmen (können), - wer weiß das schon?
(Vorwort, S.24)

Gedichte müssen nicht mehr gedruckt vorliegen, damit sie im literarischen und gesellschaftlichen Leben wahrgenommen werden. Darüber hinaus werden in der Kulturlandschaft immer mehr Effekte eingefordert. Es mangelt nicht an Darreichungsformen und Kontaktmöglichkeiten mit der Poesie. Die Treffen der Dichter, Slammer, modernen Troubadoren, Rapper und Musiker sind zum multimedialen Massenspektakel geworden. Man gibt sich kreativ, erweckt den Eindruck von Innovation und stellt rhythmisch orientierte und instrumental unterstützte Darbietungsformen mit großem Aufwand auf die Beine. Aber wer widmet sich bei der übermäßigen Stimulation der Sinne noch mit Sorgfalt dem Inhalt des Textes, der zum schmückenden Beiwerk geworden ist? Kann noch von einer Erweiterung der sprachlichen Möglichkeiten, die solche komplexen syntaktischen und semantischen Formen wie Gedichte eigentlich bieten, gesprochen werden? Lyrik birgt eine höchst ökonomische Form des Vortrags in sich und könnte ein intensiv vorgetragenes Lied oder eine Erzählung sein, die ohne weitere Hilfen konzentriertes Zuhören bewirken würde. Das allerdings entspricht kaum noch den gegenwärtigen sprachlichen Fähigkeiten. Karl Otto Conrady ist sich als genauer Leser und Zuhörer, als Liebhaber und Kenner des Genres, dieser Sprachentwicklung bewußt:

Ohnehin leben wir wohl in einer Sprachphase der Unsicherheit und Unbestimmtheit und haben uns längst in einer Ausdrucksweise des Ungefähren und Ungenauen eingerichtet. Nur nicht sich präzise festlegen: das scheint in einer Welt unbewältigter Informationsfülle, komplizierter Politik und schnell wechselnder Reize den Sprachgebrauch zu steuern. Gerade Politiker meiden gern, was ihnen eigentlich abträglich ist, das genaue Wort und die klare Ausformulierung ihres Ziels und des Wegs dorthin.
(aus DeutschlandRadio Berlin, Politisches Feuilleton, 14.6.2002, Karl Otto Conrady: Kleines Plädoyer für genauen Sprachgebrauch)

Trotz des Wiederauflebens der mündlichen Tradition ist es den meisten Dichtern immer noch wichtig, geschrieben zu erscheinen, wohl wissend, daß im Zeitalter der nüchternen Faktenübermittlung komplexe und komprimierte Schriftstücke wie Gedichte entbehrlich sind und den Lese- und Konzentrationsgewohnheiten nicht mehr entsprechen. Auch diese Entwicklung ist nicht mehr zu übersehen: Gegenwartsgedichte bemühen sich um die Rückeroberung der Tradition. Reim und Rhythmus, Sonette und Langgedichte als formbetonte Gebilde sind nach den Phasen der Politisierung der Gedichte und den Alltagsgedichten der "Neuen Subjektivität" wieder im Trend.

Insofern ist "Der neue Conrady" immer noch und immer wieder aktuell.


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Karl Otto Conrady wurde 1926 in Hamm/Westfalen geboren. Er ist emeritierter Professor für Neuere deutsche Literatur, Universität Köln. Von 1996 bis 1998 war er Präsident des westdeutschen PEN- Zentrums. Conrady studierte in Münster und Heidelberg Deutsch und Latein, promovierte 1953 und lehrte an den Universitäten in Saarbrücken, Kiel und Köln. Sein Aufsatz "Deutsche Literaturwissenschaft und Drittes Reich" (1966) gehört zu einem der wichtigsten Beiträge in der Auseinandersetzung mit der Germanistik im Nationalsozialismus. Zu seinen bedeutendsten literaturwissenschaftlichen Veröffentlichungen gehören "Das große Deutsche Gedichtbuch" und eine zweiteilige Goethe-Biographie.


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Der Neue Conrady
Das große deutsche Gedichtbuch
von den Anfängen bis zur Gegenwart
hrsg. von Karl Otto Conrady
Erw. und aktualisierte Neuausg., 2. Auflage 2001
Patmos Verlag GmbH & Co.KG, Artemis & Winkler Verlag,
Düsseldorf und Zürich
gebunden, 1307 Seiten
ISBN 3-538-06894-1


Erstveröffentlichung am 3. August 2005

5. Januar 2007