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LITERATURBETRIEB/047: Kritik 3 (SB)


"Das Nibelungenlied" in einer Neuausgabe

nicht nur für Germanisten


1 Uns ist in alten maeren wunders vil geseit: von heleden lobebaeren, von grozer arebeit, von freude und hochgeciten, von weinen unde klagen, von küener recken striten muget ir nu wunder hoeren sagen.

1 (In alten Sagen wird uns viel Wunderbares erzählt: von berühmten Helden, von großer Mühsal, von Freude und Festen, von Weinen und Klagen, vom Kampf tapferer Recken - von all dem könnt ihr jetzt Erstaunliches hören.)
(S. 8/9)

Mit diesen Worten beginnt die in der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe aufbewahrte Handschrift C des "Nibelungenliedes", eine spannende Geschichte zwischen Burgund, den Niederlanden, Island und dem Reich der Hunnen, die von Liebe, Betrug und Intrigen erzählt, von Mord, Rache und Massensterben, von einem Recken, der mit Drachen kämpft, Zwerge kennt, unverwundbar ist und eine Tarnkappe, ein Zauberschwert und den Schatz der Nibelungen besitzt.

Wären da nicht die befremdlichen Worte und die Grammatik mittelalterlicher Herkunft - eine für uns schwierig zu verstehende Sprache, mit der auch Spezialisten streckenweise Probleme haben -, man könnte den Stoff für moderne Fantasy oder einen uralten Mythos halten oder für ein Märchen. Diese Fehleinordnung liegt wohl daran, daß uns die Geisteswelt des Mittelalters heute nicht mehr oder nur noch in Ansätzen vertraut ist. Nicht nur das Vokabular hat sich seither verändert, auch die Vorstellungen - besser, die ganz andere Weltanschauung -, die man mit den einzelnen Worten verbunden hat, sind uns nicht mehr geläufig, so wie auch der Begriff "Heldendichtung" als literarische Gattung nur noch den Literaturwissenschaftlern wirklich etwas sagt, zu der das "Nibelungenlied" gehört:

Heldendichtung [...] ist in dichterische Form gefaßte Überlieferung aus der kriegerischen Frühzeit einer Gemeinschaft. Ihr Stoff stammt aus der Heldensage, die besonders eindrucksvolle Ereignisse, Menschen ('Helden') und Verhaltensweisen vor dem Vergessen bewahrt, indem sie sie auf bestimmte Muster projiziert. Denn die heroischen Erzählungen reflektieren zwar vielfach historische Ereignisse, doch ihre Wirkung und Verbindlichkeit verdankt die Heldendichtung anderen Aspekten: dem Rückgriff auf archaische Typik oder literarische Rollenmuster, der Zurückführung politischer Konflikte auf elementare menschliche Haltungen und Affekte wie Ehre, Habgier oder Rache. Die Stoffe der deutschen Heldendichtung haben ihren Bezugspunkt im Wesentlichen in der Zeit der Völkerwanderung (Dietrich von Bern: Theoderich; Etzel: Attila); ...
(aus: Volker Meid: Das Reclam Buch der deutschen Literatur, Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart 2004, S. 20)

Mehr als 2400 Strophen, bzw. knapp 10.000 Verse in 38 Aventiuren (Kapiteln), hat das Nibelungenlied. Wer es komplett lesen oder vortragen wollte, brauchte dafür ungefähr zehn Stunden. Eine Neuauflage des gesamten Textes bietet der Düsseldorfer Verlag Artemis & Winkler. Auf 856 Seiten hat die Berliner Literaturwissenschaftlerin Ursula Schulze die sogenannte Handschrift C des Nibelungenliedes neu ediert und Strophe für Strophe aus dem Mittelhochdeutschen in neuhochdeutsche Prosa übertragen, die oben angeführte Übersetzung der ersten Strophe ist ein Beispiel dafür. Ausführliche Erläuterungen zur Entstehung, Überlieferung und Rezeption, eine kommentierende Inhaltsübersicht, Sacherklärungen und ein Literaturverzeichnis ergänzen den Band. Mit dem kenntnisreichen und allgemeinverständlich gehaltenen Fachwissen aus dem Anhang wird das "Nibelungenlied" auch für Laien zu einer informativen und zugleich spannenden Lese- und Studienausgabe.

Dieses Heldenepos gilt heute als das bekannteste Werk der deutschen Literatur des Mittelalters. Keine andere mittelalterliche Dichtung hat unter Literaturwissenschaftlern und auch Geschichtsforschern eine vergleichbare Rolle gespielt - und eine so unvergleichliche Rezeptionsgeschichte in Gang gesetzt. Diverse, meist politische, Interessen förderten immer wieder eine bestimmte Auslegung des Epos, der die politische Rhetorik und die deutschen Mythen des 20. Jahrhunderts prägte.

Das "Nibelungenlied" entstand um 1200 in schriftlicher Form und nimmt historische Ereignisse aus dem 5. und 6. Jahrhundert auf, z.B. den Untergang des burgundischen Reiches mit König Gundahari. 14 Lieder der sogenannten "Älteren Edda" behandeln den Nibelungenstoff (z.B. das "Alte Atlilied", 9. Jahrhundert - Hunnenkönig Atli will den Nibelungenhort erpressen -, das "Alte Sigurdlied", 8.-11. Jahrhundert - Sigurd gewinnt für Gunnar Brünhild - und das "Jüngere Sigurdlied", 13. Jahrhundert - Brünhild veranlaßt den Mord an Sigurd). Die letzten handschriftlichen Überlieferungen stammen aus dem 16. Jahrhundert. Dann scheint der Text vergessen worden zu sein.

Die im 18. Jahrhundert wiederentdeckte Handschrift C bietet die älteste erhaltene vollständige Niederschrift des Epos und war die im Mittelalter deutlich dominierende Fassung. Sie weist besondere Eigenarten und zahlreiche Strophen auf, die in anderen Handschriften nicht vorkommen, so auch die berühmten einleitenden Verse und die Schlußstrophe, die nur in C mit den Worten "daz ist der Nibelunge liet" endet. Handschrft A und B sprechen hier von "der Nibelunge not", eine ganz andere inhaltliche Aussage. Die Rezeption im 18. Jahrhundert stand zunächst unter dem Zeichen der Gleichwertigkeit deutscher literarischer Vergangenheit mit der anderer Völker ("deutsche Illias"). Im Zusammenhang mit den Befreiungskriegen (1813-1815 gegen Napoleon I.) wurde das "Nibelungenlied" zum deutschen Nationalepos, in dem man später spezifisch "deutsche" Werte verkörpert finden wollte wie Einsatzbereitschaft und Kampfkraft. Während es im Mittelalter eher als Beispiel von Treulosigkeit und Verrat galt, wurde es seit L. Uhlands Vorlesungen (1830) als Beispiel "deutscher Treue" angesehen, später "Nibelungentreue" genannt (Reichskanzler von Bülow, 1909).

Der Dichter des Werkes ist unbekannt. Anonymität gilt als Merkmal der Heldendichtung, die seit Ende des 12. Jahrhunderts aus der mündlichen Form in eine schriftliche überführt wurde. Spekulationen über Namen und Herkunft des Verfassers haben zu hitzigen Auseinandersetzungen unter den Literaturwissenschaftlern geführt; die Suche danach erscheint aber müßig. Man kann sich nur auf Anhaltspunkte stützen, die sich aus dem Werk selbst ergeben: Der Dichter kannte das Donauland zwischen Passau und Wien geographisch am besten, doch identifizieren kann man ihn nicht. Man nimmt an, daß er ein Kleriker war, weil er literarisch gebildet gewesen ist: Er kannte Minnelieder, religiöse Gedichte, die neuen höfischen Epen und die mündlich tradierte Heldendichtung wie die Geschichten von Siegfried, vom Untergang der Burgunden, von Dietrich von Bern.

Der Unbekannte faßte die jahrhundertealte mündliche Erzähltradition von den Nibelungen zusammen, schrieb sie nieder und gab ihr einen zeitgemäßen Bezug, so daß sie den höfischen Romanen über König Artus in nichts nachstand. Aus der Niederschrift und den Bemerkungen über das Zeitgeschehen schließt man auf die Entstehungszeit. Das Nibelungenlied stammt also aus dem frühen Mittelalter, aber es spielt einige weitere Jahrhunderte davor. Die Position des Dichters zu den Ereignissen ist jedoch zeitbezogen: Persönliches Glück und Macht tragen schon den Keim zum Untergang in sich. In den Vorausdeutungen wird zur Abkehr von diesen Bestrebungen gemahnt. Die Geschichte besteht nicht nur aus "Action", sondern enthält in Anlehnung an den höfischen Epos die Beschreibung zeremonieller Handlungen, Gespräche und Schilderungen zum Beispiel von Heereszügen und Gefechten. Kurz, das Nibelungenlied ist eine bunte Mischung - nicht gerade "stilecht" oder literarisch "rein" -, an der außer Literaturwissenschaftlern wohl noch kein Leser oder Hörer aus welchem Jahrhundert auch immer Anstoß genommen hat.

Literatur hatte im frühen Mittelalter noch deutlich eine mündliche Tradition. Sie war kein totes Schriftwerk, sondern blieb im Vortrag lebendig. Die Worte wurden feierlich gesprochen oder gesungen. Hofsänger entwickelten eine Art Standesdichtung für die adlige Oberschicht, deren kriegerische Taten sie verherrlichte. Um den Kern der Erzählung wörtlich zu erhalten und mündlich weiterverbreiten zu können, wurden die Erzählstoffe in einer bestimmten Form vorgetragen, durch die sich der Vortragende den Inhalt besser merken konnte. Unsicher ist, ob der Dichter der späteren Niederschrift des Nibelungenliedes die Strophenform aus der mündlichen Sagentradition kannte, oder ob er sie aus dem Minnesang übernommen hat.

Im Nibelungenlied zählt die Form der Strophen sogar als stilistische Eigenart. Sie wurde nach dem Epos benannt. Die "Nibelungenstrophe" besteht aus vier paarweise gereimten Langzeilen, die durch eine Zäsur in An- und Abvers (je drei Hebungen) gegliedert sind. Eine zusätzliche vierte Hebung im letzten Abvers stellt eine deutliche Schlußmarkierung dar. Das bedeutet, daß die Strophen kleine Sinneinheiten darstellen. Der letzte Abvers wird für formelhafte Wendungen gebraucht, die Vorausdeutungen enthalten. Ihre Funktion bestand für den Vortragenden in der rhythmischen Gliederung (zum Beispiel in Sprechgipfeln) und inhaltlichen Akzentuierungen. Um eine Gedächtnisstütze zu haben, hatte die Erzählung außer dem Handlungsgerüst diese Unterteilung und war dadurch in Länge und Zeit einschätzbar.

Wer nach all diesen Informationen nun endlich die hier viel umschriebene Handlung des Epos zusammengefaßt wissen will, der sei statt dessen auf das nicht zu ersetzende Abenteuer verwiesen, die atemberaubende Geschichte höfischen Lebens und der Konflikte seiner Helden in vollem Umfang selbst zu lesen. Die Prosaübersetzung von Ursula Schulze will den Inhalt möglichst genau wiedergeben und wird als Notwendigkeit gesehen, um "durch Reimnot entstehende unfreiwillige Komik sowie eine künstliche Patina zu vermeiden" (S. 797f). Die Übertragung ins Neuhochdeutsche ist "leserfreundlich" (S. 791) und die "Veränderungen der deutschen Sprache in 800 Jahren, die vor allem die Bedeutung der Wörter" (S. 795) und die Syntax betreffen, sind sehr einfühlsam berücksichtigt. Trotzdem bleibt die Funktion der strophischen Gliederung und der kunstvolle Aufbau des mittelhochdeutschen Textes erhalten, indem die neuhochdeutsche Übersetzung in Absätzen parallel zu den mittelhochdeutschen Strophen gedruckt ist.

Die künstlerische Form der Langzeile und die Wirkung der Reime kann allerdings nur noch im mittelhochdeutschen Text nachempfunden werden. Etwas befremdlich wirkt hier zunächst die bearbeitete Edition mit Leseerleichterungen. Letztlich sind die sehr durchdachten Aussprachehilfen durch das Schriftbild bzw. die Schreibweisen zwar etwas gewöhnungsbedürftig, jedoch begründbar und sehr nützlich.

Das Nibelungenlied in der Bearbeitung von Ursula Schulze wird von der "Blauen Reihe" der Winkler Weltliteratur sorgfältig und in den Bücherfreund ansprechender Gestaltung präsentiert. Die Reihe versammelt "jene Klassiker [...], die heute noch lesenswert sind", was dem gegenwärtigen Trend entspricht, denn auf die Gefahr, daß das belletristische bzw. literarische Lesen im Internetzeitalter zugunsten des informativen Lesens zurückgeht und die Klassiker der deutschen Literaturgeschichte endgültig in Vergessenheit geraten könnten, wird mit einer umfangreichen, sortierten Nachlaßverwaltung reagiert. Heute liegen fast alle literarischen Texte deutscher Sprache in gründlich bearbeiteten Editionen vor. Kaum ein Leser bedient sich aber noch der literarischen Überlieferung, denn die Einsicht, warum man sich noch auf Kenntnisse über alte sprachliche Zeugnisse des Denkens und Handelns - sprich Literatur - konzentrieren sollte, ist fast verlorengegangen, ebenso wie die Mühe, sich in die Geschichte des deutschen Sprachsystems einzudenken, was allerdings die Ausdrucksmöglichkeiten erweitern würde. Daß zudem inhaltlich gesehen mit literarischen Studien intellektuelle, philosophische und politische Denkweisen zugänglich gemacht werden könnten, ist heute kein Gegenstand der Betrachtung mehr.

Diese Ausgabe des Nibelungenlieds könnte dazu beitragen, die Kenntnis der deutschen Sprache und Literatur nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und damit eine Verarmung der Ausdrucksmöglichkeiten aufzuhalten.


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Ursula Schulze, geboren 1936, ist Professorin a.D. für deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin. Sie hat Bücher und Abhandlungen zum Nibelungenlied und anderen Werken der mittelalterlichen Literatur veröffentlicht (Klappentext).


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Das Nibelungenlied
Vollständige Ausgabe
Mittelhochdeutsch - Neuhochdeutsch
Nach der Handschrft C neu übersetzt
und herausgegeben von Ursula Schulze
Artemis & Winkler im Patmos Verlagshaus,
Düsseldorf und Zürich, August 2005
856 Seiten, Blaue Reihe, 26,- Euro
ISBN 3-358-06990-5


Erstveröffentlichung am 20. September 2005

5. Januar 2007