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NEUES/001: Ingeborg Bachmann-Preis 2008 (SB)


Ingeborg Bachmann-Preis 2008


Die "Tage der deutschsprachigen Literatur" in Klagenfurt sind für das Jahr 2008 beendet, der renommierte "Ingeborg Bachmann-Preis" ist wieder vergeben. Die Neuigkeiten lassen sich kurz zusammenfassen:

Dieses Jahr wurde der in Berlin lebende Schriftsteller Tilman Rammstedt mit dem mit 25.000 Euro dotierten Preis ausgezeichnet. Die Jurorin Ursula März, die Rammstedt vorgeschlagen hatte, lobte seinen Text - ein Auszug aus dem Roman "Der Kaiser von China" (ab Herbst bei DuMont zu erwarten) über die Mühen eines Enkels mit seinem Großvater, mit dem er eigentlich nach China hätte reisen sollen - für den "enormen Pointenreichtum". Parallel zur Jury-Entscheidung unter dem Vorsitz von Burkhard Spinnen entschied sich auch das Publikum für diesen Kandidaten.

Traditionell gab es weitere Auszeichnungen: Der deutsche Autor Markus Orths wurde für seinen Text "Das Zimmermädchen" mit dem mit 10.000 Euro dotierten "Preis der Jury" ausgezeichnet. Er habe ein Talent für das kluge Verschränken ungewöhnlicher Motive und Symbole. Sein Romanauszug handelt von der putzneurotischen Lynn, die, neugierig auf das Leben von Fremden, einmal die Woche unter Hotelbetten nächtigt. Der Mathematiker und Schriftsteller Clemens J. Setz aus Graz erhielt den von verschiedenen Verlagen gestifteten "Ernst-Willner-Preis" im Wert von 7.000 Euro für seinen Text "Die Waage", eine Novelle über die allmähliche Verwandlung der Hauptperson, auf die eine plötzlich im Hinterhof aufgetauchte Waage einen magischen Einfluß ausübt. Den "3sat- Preis" nahm Patrick Findeis für sein Romankapitel "Kein schöner Land" in Empfang, die Betrachtung über einen Bauern, der unter seinem Starrsinn leidet.

Die öffentliche Reaktion auf diese beiden Lesetage besteht aus allgemeiner Ratlosigkeit:

Es fehlten die Kanten. Autoren, Texte, Meinungen rauschten hintereinander durch und fielen nicht weiter auf. Wer und warum schließlich auf dem Preiskarussell (immerhin fünf Auszeichnungen für 14 Autoren) zu sitzen kam - das erschien so zufällig wie beliebig. Ästhetische Kategorien, an denen die Jury sich orientierte, waren nur in Ansätzen auszumachen. Debatten über Schreibweisen, Konstruktionszusammenhänge oder Erzählperspektiven hörte man allzu selten. Stattdessen ergingen die Jurymitglieder sich immer wieder in persönlichen Anekdoten." (Christoph Schröder, Frankfurter Rundschau, 30.06.2008)

Ein inhaltlich wie ästhetisch meist belangloser Realismus zieht sich durch die beiden Lesetage, und dass die Jury auf die vielen literarischen Unerheblichkeiten nicht etwa mit Unmut reagiert, sondern mit umso grösserem kulturtheoretischem Aufwand, macht die Sache auch nicht besser. [...] Wenn in Klagenfurt doch wirklich von handgreiflicher Verstörung die Rede gewesen wäre, wenn sich die Form der Texte ein Risiko gesucht hätte, das grösser ist als die Schilderung eines drohenden Arbeitsunfalls! Stattdessen herrscht die grosse Behaglichkeit der Stoffe und Stile. [...] Vielleicht schafft der Bachmann-Preis sich gerade selbst ab. Noch ein Wettlesen wie diesmal, und niemand wird ihn vermissen. (Paul Jandl, 30. Juni 2008, NZZ Online)

In vielen anderen Fällen verpasste die stets sehr textimmanent argumentierende Jury aber die Chance, einmal etwas grundsätzlicher über den gegenwärtigen Stand von Literatur zu debattieren. [...] Die Juroren veranstalteten ein Kammerkonzert aus Einzelstimmen. Die gegenwärtigen Kontroversen in der Literaturkritik repräsentierten sie nicht.
(Dirk Knipphals, taz, 30.06.2008)

Das eher unterschwellige Empfinden von gleichgeschalteten Inhalten und Textgestaltung, der Trend zur Uniformiertheit in der Gegenwartsliteratur, ist sicher kein Klagenfurt-typisches Erscheinungsbild. "Das Warten auf den einen, den Großen Text dauerte bis zum Schluss. Er kam aber nicht." (Elmar Krekeler, Die Welt, 30.06.2008) Das Problem scheint weitreichender zu sein. Es gibt viele Gründe, als Autor vor einer klaren Stellungnahme zu zeitgemäßen gesellschaftlichen und politischen Themen auszuweichen. "Bei allen aus mehreren hundert Bewerbern ausgewählten Teilnehmern, vierzehn an der Zahl, spielte die Handlung im Privaten: hauptsächlich Paar-, Familien- und Einsamkeitsgeschichten" (Oliver Jungen, F.A.Z., 30.06.2008). Persönliche Schwierigkeiten oder Engpässe werden nicht mehr im gesellschaftlichen Kontext gesehen, beschrieben oder reflektiert. Distanz zu halten von Gewalt, hierarchischen Bestrebungen wie Verfügung oder Unterdrückung und territorialen Bestrebungen scheint eine Art Überlebensstrategie zu werden. Der gewahrte Abstand wirkt dann bestenfalls komisch, sonst mittelmäßig oder schlimmstenfalls unverzeihlich langweilig. Das trifft auch auf den prämierten Text von Tilman Rammstedt zu, der als hochkomisch gilt und dem Burkhard Spinnen Brillanz bescheinigte, "aber zusammengesetzt aus lauter Figuren, die längst bekannt seien". Der Text besteht aus der Beschreibung des Großvaters des Ich-Erzählers, der am Ende des Lebens noch mit dem Auto nach China aufbrechen will. Er ist ein Mann, den der Enkel sich auf Distanz halten möchte, weil er seine Vereinnahmung nicht erträgt. Das Dominanzverhältnis wird nicht direkt ausgesprochen oder analysiert, sondern nur beschrieben und das Auswarten statt einer Konfliktbewältigung bis zum Tod macht die Situationskomik aus. Diese Wirkung wurde durch den professionellen Vortrag Tilman Rammstedts bestärkt, der als Mitbegründer der Lesebühne Visch & Fers und Musiker bei der Gruppe Fön Erfahrung genug gesammelt hat.

1977 wurde der erste Bachmann-Preis vergeben. Damit er so lange als Institution bestehen bleiben konnte, haben sich die Bedingungen und der Präsentationsrahmen immer wieder geändert. Um dieser dauerhaften Installation willen droht er nun den Erwartungen gemäß zur Selbstbespiegelung des Literaturbetriebes im allgemeinen und seiner unteren Stockwerke im besonderen zu werden.

1. Juli 2008