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NEUES/004: Open Mike 2008 (SB)


Open Mike 2008


Es gibt immer mehr literarische Großereignisse in Deutschland, so daß man fast annehmen könnte, daß hierzulande Autoren-Prestige und Vermarktung der Kern und der attraktive Teil der Auseinandersetzung mit Literatur sind.

Der "open mike" in Berlin, das inzwischen wichtigste Nachwuchsforum für deutschsprachige Literaten, scheint diese Richtung endgültig eingeschlagen zu haben. Er wird seit 1995 jedes Jahr Anfang November veranstaltet und gilt als Karrieresprungbrett für junge Autoren (frühere Gewinner z.B. Karen Duve, Kathrin Röggla, Jochen Schmidt, Terézia Mora, Tilman Rammstedt, Rabea Edel und Jörg Albrecht). Die Literaturwerkstatt Berlin und der Crespo Foundation schreiben ihn mit insgesamt 7500,- Euro aus.

Am 15. und 16. November 2008 erhielt die Übersetzerin und Journalistin Sonia Petner für den Text "Zitronen" den ersten Preis, den zweiten Preis Svealena Kutschke für "Rückspiegel", die Kulturwissenschaften und Ästhetische Praxis in Hildesheim studierte. Den Lyrikpreis erhielt Thien Tran, geboren 1979 in Ho Chi Minh-Stadt (Südvietnam), der seit 1982 in Deutschland lebt und Germanistik, Philosophie und klassische Literaturwissenschaft an der Kölner Universität studierte. Der Preis der taz-Publikumsjury ging an Johanna Wack für den Text "Punkte". Sie ist Ökotrophologiestudentin, Mutter und Kurzgeschichten-Autorin, die sie u.a. auf Poetry Slams vorträgt.

Vermarkter und Veranstalter lauern mit Angeboten im Hintergrund auf vermarktungswilliges Frischfleisch und direkt im Anschluß an die Preisvergabe ist die Lesereise schon organisiert: in die großen Literaturhäuser Zürich und Frankfurt, ins Schauspielhaus Wien. Und die Wettbewerbstexte sind als Anthologie bereits im Allitera Verlag erschienen. Der Ruhm eilt dem Erfolg voraus...

Die Pressestimmen ähneln sich seit Jahren wie die Macharten der Texte. Hier ein Beispiel:

[...] machte sich bis hin zur Jury diesmal Ratlosigkeit breit. Tendenzen waren kaum auszumachen. Die Texte waren fast durch die Bank solide, Ausfälle gab es so gut wie keine. Die Themenwahl war breit gefächert, es gab Pop, es gab sensible Beziehungs- und Provinztexte und solche, die sich mit dem Schicksal und der sozialen Realität Behinderter auseinandersetzten. Was fehlte, war die Spannung, was fehlte, waren eigene Stimmen, war Waghalsiges, der Mut zum Experiment, auch der Mut zu politischen und sozialen Auseinandersetzungen. Hartz IV, Finanzkrise, Klimawandel, Kapitalismuskritik oder individueller Furor, Weltschmerz und Hass: Extreme haben in den Schreibstuben jüngerer AutorInnen anscheinend keinen Platz. Von der reinen Lust am Spiel mit Sprache ganz zu schweigen.
(Die Tageszeitung, 18.11.2008, "Freiheit ist nicht einfach", René Hamann)

Die Klage, daß die Vorträge über den Modus der schreibschulgerechten Beschreibung nicht hinauskommen, kaum gesellschaftliche und politische Konflikte thematisiert werden und man über die gesicherten Räume eines deutschen Mittelschichtlebens nicht hinausschaut, korrespondiert wohl mit der literarischen Öffentlichkeit und den Absichten einer solchen Großveranstaltung. Wie soll sich auch angesichts der gegenwärtigen Tendenz zur Geschwindigkeit und zum großen Umfang der Literaturvermarktung eine Entwicklung literarischer Qualität einstellen, die sich daran messen läßt, daß sie Grenzen überschreitet und sich nicht in Vermeidung verliert? Ein schneller und sichergestellter Erfolg hinterläßt vielleicht Spuren im Literaturbetrieb, aber nicht in der Literatur selbst.

Der Trend scheint allerdings mit den Bedürfnissen vieler Jungautoren übereinzustimmen. Dem Neuling scheint es nicht um die Entwicklung literarischer Fähigkeiten, sondern eher um eine funktionierende Schreibtechnik und den öffentlichen Auftritt zu gehen.

Wie wär 's damit, einfach mal wieder ein Buch aufzuschlagen und zu lesen, sich mitten in aufregendste Abenteuer und die unendlichen Weiten von Zeit und Phantasie hineinziehen zu lassen ... Kein Vortrag eines Jungautoren, kein Film und kein noch so professionell gestaltetes literarisches Event könnten dem entsprechen.

20. November 2008