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REZENSION/004: Rolf Lappert - Über den Winter (Roman) (SB)


Rolf Lappert

Über den Winter

von Christiane Baumann


Mit leisen Tönen. Rolf Lappert erzählt in seinem Roman "Über den Winter" hintergründig über den Verfall einer Familie, soziale Kälte und künstlerische Verantwortung

Was sind Attribute für ein erfolgreiches Leben? Als Lennard Salm, der Protagonist in Rolf Lapperts neuem Roman "Über den Winter", einen Ratgeber "Wie man Erfolg hat. Im Leben" in einem Internetcafé sieht, hat er für dessen Besitzer nur die lakonische Bemerkung "Kann bestimmt nicht schaden" übrig. Salm ist Konzeptkünstler, das heißt, er nutzt Bilder, Skulpturen, Collagen, Installationen oder Fotos, um sie in möglichst spektakulärer Aktionskunst in neue Zusammenhänge zu stellen. Es geht dabei nicht um das fertige Kunstwerk, sondern um das Konzept des Künstlers, die Umsetzung seiner Idee. Die Aktion an sich wird zum Werk, das tradierte Perspektiven aufbrechen und neue Blickwinkel ermöglichen will. Gleich mit seinem ersten Projekt landete Salm, 26-jährig und frisch vom Studium kommend, ein "Skandälchen", als er hunderte von den Nationalsozialisten verbotene Bücher sammelte und in einem spektakulären Akt verbrannte, um aus ihrer Asche das Wort VERGESSEN auf einem Acker entstehen zu lassen, aus dem wenig später dann weiße Margeriten das Wort ERINNERN wachsen ließen. Dass ihm diese Aktion seinerzeit den Ruf eines " oberflächlichen Möchtegern-Provokateurs" einbrachte, erfüllt Salm zumindest mit Unbehagen.

Rolf Lappert stellt in seinem neuen Roman mit Lennard Salm eine Künstler-Figur in den Mittelpunkt und rückt damit das Nachdenken über Kunst und Ästhetik im digitalen Zeitalter in den Fokus. Lappert, 1958 in Zürich geboren, ist Mitte Fünfzig und wie sein Romanheld in der Welt herumgekommen. Zeitweise lebte er in Frankreich und Irland. Nach seiner Ausbildung als Grafiker begann er Prosa und Lyrik zu schreiben, arbeitete später erfolgreich als Drehbuchautor für das Schweizer Fernsehen und versuchte sich auch als Jazzclub-Betreiber. 2008 sollte ihm sein Roman "Nach Hause schwimmen" erstmals größere öffentliche Beachtung und einen Platz in der Endrunde für den Deutschen Buchpreis sowie den Schweizer Buchpreis verschaffen. Mit "Über den Winter", seinem mittlerweile siebten Roman neben Lyrik-Bänden, kam Lappert in diesem Jahr erneut unter die Finalisten zum Deutschen Buchpreis, auf die so genannte Shortlist.

Der Leser begegnet Lennard Salm an der süditalienischen Küste, als er im Ferienhaus eines reichen Mäzen "Schwemmgut", an den Strand gespülte Gegenstände von ums Leben gekommenen Flüchtlingen, für ein neues Kunstprojekt sichtet und sichert, mit dem er "der Welt das Elend mit den Mitteln der Kunst" vor Augen führen will. Salm ist sich trotz leichten Unbehagens des Zynismus' seines Tuns nicht bewusst. Doch der Tod stört dieses Projekt und bricht in die bereits zerstörte Idylle der Nobel-Feriensiedlung ein, deren vermögende Eigentümer ihren Besitz wie eine Festung gegen nächtliche Übergriffe von Jugendlichen aus der Umgebung verteidigen. Tote Flüchtlinge werden an den Strand des Urlaubsrefugiums gespült. Dass die Bewohner der Feriensiedlung bereits zwei dieser Toten beerdigt haben, erfährt Salm, als er in einem angetriebenen Boot eine dritte Leiche, die eines Säuglings, entdeckt und die Polizei verständigen will. Da niemand die Identität der Toten kennt und niemand, schon gar nicht die Behörden, sich für sie interessiert, hatte die Feriengemeinschaft beschlossen, die Toten ohne viel Aufhebens zu begraben. Unweigerlich fühlt man sich an einen Satz aus Lutz Seilers Roman "Kruso" erinnert: "Flüchtlinge werden wie Flüchtlinge behandelt: Es gibt sie nicht, und also gibt es keine Leichen - sie existieren einfach nicht". Diese Menschen werden nicht nur heimatlos, sie verlieren ihre Identität. Assoziationen drängen sich auch zu Jenny Erpenbecks Roman "Gehen, ging, gegangen" auf, der jenen Flüchtlingen nachspürt, die in Deutschland schließlich nach einer beispiellosen Odyssee als Heimat- und Obdachlose stranden. Doch während die toten Flüchtlinge anonym bleiben, bekommt der Tod für Lennard Salm plötzlich ein Gesicht. Die Nachricht vom Tod seiner älteren Schwester Helene beendet nicht nur seinen Aufenthalt an der italienischen Küste, sie wird zu einer Zäsur, die sein gesamtes bisheriges Leben in Frage stellt.

Die Rückkehr zur Familie nach Hamburg führt zu einer Verkehrung der Dinge: Salm verliert auf dem Heimflug vom warmen Süden in den kalten Norden sein Gepäck und strandet in Hamburg wie ein Flüchtling. Er ist ein Heimatloser im winterlichen Deutschland, seiner Heimat. Eine Ästhetik der Kälte beginnt den Roman zu bestimmen und lebt sich sowohl in sprachlichen Bildern, als auch in der Handlung selbst aus. Salms unstetes Künstlerleben, sein Vagabundieren durch die Welt, erweist sich als Flucht vor sich selbst, vor jeglichen Bindungen - keine Beziehung zu einer Frau ist von Dauer. Aber es ist vor allem eine Flucht vor Verantwortung. Salm lebt in einer Freiheit, die Verantwortung für sich, für die Gesellschaft und für seine Kunst ausschließt und ist dabei zu einem Einzelgänger und Egomanen geworden. Seine Beziehungslosigkeit trägt a-soziale Züge. So weiß Salm kaum noch etwas über seine nächsten Angehörigen. Wie lebt sein pflegebedürftiger Vater, zu dem er doch Nähe verspürt? Was hat das Leben Helenes ausgemacht? Wie gehen seine Geschwister Bille und Paul miteinander um? Wie kommt seine Mutter mit ihrem Leben, mit der zerstörten Familie zurecht? Die Rückkehr in die Heimat und zur Familie wird so für Salm zu einer Rückkehr zu sich selbst, zu dem, was ihn als Mensch ausmacht. Dass dabei der Konzeptkünstler Salm auf der Strecke bleibt, ist schließlich eine logische Konsequenz, denn eine Kunst, die voyeuristisch das Elend von Flüchtlingen ausstellt, ohne soziale Verantwortung zu übernehmen und einzufordern, hat ihren Anspruch auf Menschlichkeit und damit ihre Existenzberechtigung verloren.

Mit Helene entsteht im Roman eine Gegenwelt zu Salms zweifelhafter Künstlerexistenz. Helene macht ihrem Namen als die Fromme und Gute alle Ehre und bedient dabei auch manches Klischee. Selbst von Geburt an herzkrank, gehörte sie zu den Schwachen der Gesellschaft und opferte sich für die Bedürftigen und Obdachlosen geradezu auf. Helene, die - wie Lennard und Bille langsam dämmert - wohl die "Lebenstüchtigste" der vier Geschwister war, übernahm nicht nur für sich, sondern auch für Menschen, die an der sozialen Peripherie leben, Verantwortung. Diese Verantwortung überträgt sie testamentarisch ihren Geschwistern. So "erbt" Lennard ihre Mitgliedschaft in einem gemeinnützigen Verein zur Unterstützung Obdachloser. Ihr sozial engagiertes Wirken wird für Lennard zur Herausforderung und zum Maßstab, der sein bisheriges Leben immer fragwürdiger erscheinen lässt. Er tritt schließlich das Erbe an und beginnt, Verantwortung zu übernehmen: für seinen Vater, für den er sorgen möchte, für ein herrenloses Pferd, dem er mitten in der Großstadt das Gnadenbrot gibt, um es "über den Winter" zu bringen und für die alte Frau Hinrichsen, die er verzweifelt zu retten versucht, als sie in ihrem Bett durch ein defektes Heizkissen fast verbrennt. Sie ist nicht die einzige, die es im Roman nicht "über den Winter" schafft. Lapperts Roman erzählt in leisen Tönen, aber gnadenlos den Verfall einer Familie und lotet dabei in unterschiedlichen Konstellationen das Spannungsverhältnis von individueller Selbstverwirklichung und gesellschaftlicher Verantwortung aus. Neben Helene ragt Lennards Vater Albert Salm heraus, dessen Lebensgeschichte im Kapitel "Vom Innenleben der Vulkane" mit einem ganz eigenen Zauber erzählt wird. Steht Albert Salm einerseits für den Verzicht auf einen Lebenstraum, die Erforschung der Vulkanwelt, so andererseits für moralische Integrität und soziales Verantwortungsgefühl. Ihn charakterisiert eine Größe, die sich auch darin zeigt, dass Paul, sein jüngster Sohn, nie erfährt, dass er das Ergebnis eines Seitensprungs seiner Mutter ist, der zur Trennung der Eltern führte. Albert Salm trägt noch jenes "bildungsbürgerliche Wissen" in sich, das in einer Welt, die sich darauf beschränkt, an der Oberfläche zu kratzen, verloren zu gehen droht. Dieses Wissen und die Gewissheit, das Richtige getan zu haben, geben ihm letztlich Zufriedenheit.

Rolf Lapperts Roman "Über den Winter" ist sorgfältig gebaut. Nach einem Prolog schließen sich sechs Kapitel an, die jeweils mit einer Überschrift und einem Motto versehen wurden. Dabei schlagen die Motti Brücken über Kontinente und Kulturen, weiten den Blick für historische Zusammenhänge und weisen nicht zuletzt auf literarische Bezugsfiguren. So tritt Joseph Conrads Erzählung "Herz der Finsternis" über die englische Kolonialpolitik in Belgisch-Kongo zum Ausgang des 19. Jahrhunderts in den Dialog mit den Flüchtlingen von Lampedusa. Conrad, eigentlich polnischer Herkunft, verlor seine Eltern frühzeitig, nachdem die Familie aufgrund des Kampfes seines Vaters für die polnische Unabhängigkeit in russische Verbannung kam. Später fuhr er zur See und erwarb schließlich 1886 die britische Staatsbürgerschaft. Zitiert wird auch aus dem Roman "Das dunkle Schiff" von Sherko Fatah, einem deutschen Schriftsteller mit irakischen Wurzeln, dessen Held Kerim am Dschihad teilnimmt und dann zum Flüchtling wird. Koloniale Ausbeutung und Verbannung, Flucht und Heimatlosigkeit werden plötzlich als in der Geschichte immer wiederkehrende Vorgänge erkennbar. Weitere Motti bezieht der Roman von dem britischen Schriftsteller David Mitchell und von US-amerikanischen Autoren. Zu nennen sind Jim Harrison, Nicole Krauss, Philip Roth und John Updike, dessen Roman "Bessere Verhältnisse" auf Parallelen beider Helden weist, die - jeder auf seine Weise - auf der Suche sind nach dem, was Leben und Menschsein jenseits von Ruhm und Wohlstand ausmacht.

Lapperts genaues, geradezu akribisches Erzählen über Alltägliches zerstört die Fassade einer scheinbar intakten sozialen Wirklichkeit und offenbart schlaglichtartig den Verfall einer Familie ebenso wie den eines einst reichen Wohnviertels in Hamburg-Wilhelmsburg. Dieser Verfall wird zum Symbol für die Morbididät einer bürgerlichen Gesellschaft, die sich von ihren humanistischen Grundprinzipien verabschiedet hat. Salms alter Vater muss, um ein einigermaßen würdevolles Leben finanzieren zu können, Möbel und Wertgegenstände veräußern. Seine Nachbarin, die alte Frau Hinrichsen, lebt in Armut und buchstäblich in der Kälte, da sie sich eine Heizung nicht leisten kann. Doch selbst in dieser beklemmenden Not lässt sie sich ihre Würde nicht nehmen. Diese hat der alte, pflegebedürftige Hausbesitzer Blohm bereits verloren. Sein Sohn, der sich für eine verfehlte Erziehung rächt, pflegt und quält ihn zugleich, was in einer Gesellschaft, in der das soziale Miteinander der Einsamkeit gewichen ist, unbemerkt bleibt. Zu den Verlierern gehört der Obdachlose, der sich seine Würde dadurch bewahrt, dass er Salms Zehneuroschein als Almosen zurückweist und ihn nur im Tausch gegen eines seiner Fundstücke annimmt. Ein Gescheiterter ist auch der Bauer, dessen Hof ihn nicht mehr ernährt und der ohne Existenzgrundlage vor den Trümmern seines Lebens steht. Und es gibt Nadja, in die sich Salm verliebt und die mit der Erziehung ihres halbwüchsigen Sohnes überfordert ist. Sie vertuscht den Tod ihrer Schwiegermutter, um in deren Wohnung bleiben zu können, da der Eigentümer das Haus leerziehen und verkaufen will. Aber vor allem sind da die toten Flüchtlinge, denen ein würdevolles Begräbnis versagt bleibt und aus deren Elend sich künstlerisch Kapital schlagen lässt. Lapperts Romantitel "Über den Winter" steht für eine soziale Kälte, die den Leser aus dem Roman ankriecht und weit mehr ist als "Sozialromantik" ("Die Zeit").

Lennard Salm nimmt Abschied von einer Kunst, die ihren sozialen Anspruch aufgegeben und damit ihren Sinn verloren hat. Rolf Lappert tritt mit seinem Roman den Beweis an, dass der Verfall einer Familie, in Thomas Manns "Buddenbrooks" beispielhaft erzählt, sich als literarisches Thema mit diesem Meisterwerk der deutschen Literatur keineswegs erschöpft hat. Lappert gelingt es, in subtilen Bildern und leisen Tönen vom Alltag her die Entfremdung und Bedrohung unserer heutigen Welt einzufangen und dabei soziale Disparitäten offenzulegen.

Rolf Lappert:
Über den Winter.
Roman.
Carl Hanser Verlag, München, 2015.
384 Seiten,
22,90 Euro,
ISBN: 9783446249059

15. November 2015


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