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BERICHT/036: Links, links, links - Das wollt ihr nicht erleben ... (SB)


"Kriegskinder - Portraits und Positionen"

Fotoausstellung im Rahmen der 20. Linken Literaturmesse in Nürnberg


In einer Zeit wachsender Kriegsgefahr - ja Weltkriegsgefahr - ist im Rahmen des Arbeiterfotografie-Projekts "Meine Zeit - Meine Welt" eine Ausstellung entstanden, die in großformatigen Portraits Menschen mit Kriegserfahrung zeigt und sie mit kurzen Statements zu Wort kommen läßt. Auf der Linken Literaturmesse in Nürnberg hat das eindringliche NEIN zur Politik von Imperialismus und Krieg seine Premiere.

- Einführungstext aus dem Katalog zur Arbeiterfotografie-Ausstellung


Portraits Hanne Hiob und Uwe Scheer - Foto: 2015 by Schattenblick

Foto: 2015 by Schattenblick

Die im Glasbau des Künstlerhauses im KunstKulturQuartier Nürnberg präsentierten Portraits der Gruppe Arbeiterfotografie [1] sprechen für sich selbst. Die den monochromen Fotografien in Textform beigefügten Positionen entspringen einer zeitgeschichtlichen Epoche, die auf die heranwachsende Generation so entlegen wirkt wie der Erste Weltkrieg auf die Jugend der 1960er Jahre. Das macht sie, ungeachtet ihres jeweiligen inhaltlichen Fokus, so wertvoll. "Was uns Menschen 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs zu sagen haben" ist der Titel der Ausstellung "Kriegskinder" unterschrieben - die Generation, die den Krieg in Europa selbst erlebt hat oder seinen unmittelbaren Folgen in kindlichem Alter ausgesetzt war, verschwindet allmählich. Auch die lange Jahre bei statistischen Erhebungen stabile Mehrheit der Bevölkerung, die die Beteiligung der Bundesrepublik an Kriegen ablehnt, scheint zu bröckeln. Eine mit multimedialer Wucht auf die Menschen losgelassene Feindbildproduktion, das salbungsvolle präsidiale Diktum, Deutschland solle "mehr Verantwortung übernehmen", und die systematische Verunsicherung der Lohnabhängigenklasse verfehlen ihre Wirkung nicht. Diesem Umstand soll mit einem kleinen Text Rechnung getragen werden, der sich der anwachsenden Kriegsgefahr und ihrer gesellschaftlichen Genese auf ganz subjektive Weise widmet.


Plakat mit Titel der Ausstellung - Foto: 2015 by Schattenblick

Foto: 2015 by Schattenblick

"Der Krieg, er ist nicht tot, er schläft nur", sang einst Rio Reiser und legte damit den Finger in die Wunde eines latenten Zustandes des Unfriedens, der das Potential hat, mit monströser Gewalt über die Menschen hereinzubrechen. Wo das personifizierte Übel nur "wartet, wartet auf mich, auf dich", da scheint der Mensch ganz unbeteiligt an dem zu sein, was ihn als schicksalhaftes Verhängnis ereilt. Sich fügen in eine Ohnmacht, die, wenn sie im Ernstfall manifest wird, kaum schmerzhafter sein könnte, heißt sehenden Auges zu akzeptieren, was nie und niemals zu akzeptieren ist.

"Sich fügen heißt lügen" schrieb Erich Mühsam in seinem Gedicht "Der Gefangene" 1919. Als Mitglied des Revolutionären Arbeiterrats und Vordenker der bayerischen Räterepublik zu 15 Jahren Festungshaft verurteilt, den verheerenden Weltkrieg und die gescheiterte Novemberrevolution vor Augen rief der Anarchist, der sich stets um eine gemeinsame Front mit Kommunisten bemühte, dem Volk zu: "Sei frei! Verlern es, dich zu fügen!" [2]

1934 wurde der Revolutionär von SS-Männern im KZ-Oranienburg ermordet. Er hatte geahnt, daß die Nazis seinen Tod als Selbstmord ausweisen würden und noch in der Nacht zuvor erklärt, daß er sich niemals umbringen würde. Aus heutiger Sicht, wo jeder Winkel individueller Lebenswirklichkeit der betriebswirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Bilanz unterworfen werden soll und Effizienzkriterien zur singulären Maßgabe des persönlichen Tuns nicht nur im Beruf erhoben werden, wird einer Biographie wie der Erich Mühsams bestenfalls idealistischer Stellenwert zugebilligt. Sich nicht zu fügen und Widerstand zu leisten erscheint als Rezeptur des Scheiterns, als ruinöses und selbstdestruktives Bestehen auf Prinzipien, die in sozialwissenschaftlicher Lesart als "Gesinnungsethik" auf der Müllhalde vermeintlich überkommener Großideologien entsorgt werden sollen.


Portraits Liliane Rosengarten und Kurt Julius Goldstein vor dunklem Hintergrund - Foto: 2015 by Schattenblick

Foto: 2015 by Schattenblick


Portrait Liliane Rosengarten - Foto: 2015 by Schattenblick

Foto: 2015 by Schattenblick


Portrait Kurt Julius Goldstein - Foto: 2015 by Schattenblick

Foto: 2015 by Schattenblick

Dies hat auch Auswirkungen auf die gesellschaftliche Akzeptanz von Kriegen, deren Gewalt durch den jeweiligen Titel der "Friedensmission" oder des "Antiterroreinsatzes" nicht weniger blutig wird. So haben Friedensbewegte der Begriffsklauberei herrschender Sprachregelung, mit der etwa der Eintritt der Bundeswehr in den Syrienkrieg zu einer bloßen Militärintervention nichtkriegerischen Charakters erklärt wird, nur wenig entgegenzusetzen, wenn sie ihr einen Frieden gegenüberstellen, der auf die bloße Abwesenheit von Waffengewalt beschränkt ist. Auch wenn dieser Zustand in der Bundesrepublik ein Leben in relativer materieller Sicherheit und körperlicher Unversehrtheit ermöglicht, so ist das schon im NATO-Staat und EU-Beitrittskandidat Türkei ganz anders. Die dort unter dem Label des Terrorverdachts firmierende Unterdrückung säkularer, linker und kurdischer Menschen hat längst die Qualität eines Krieges gegen die eigene Bevölkerung erreicht, was die europäischen Verbündeten nicht davon abhält, die türkische Regierung zum Zwecke der Flüchtlingsabwehr wie als geostrategischen Eckpfeiler der NATO zu hofieren und sich mit der Verfolgung linker Türken und Kurden hierzulande zu Sachwaltern ihrer politischen Repression zu machen.

Dagegen mit der Inbrunst gerechter Empörung über verletzte Grund- und Menschenrechte zu klagen läßt zwar den macht- und interessengeleiteten Charakter herrschender Politik hervortreten, delegiert das Problem allerdings auch an juristische Instanzen, deren Aufgabe gerade nicht darin besteht, die Staatsräson so maßgeblich zu erschüttern, daß ihre Ausführung ernsthaft behindert wird. So erteilte der damalige Generalbundesanwalt Kay Nehm der rot-grünen Bundesregierung höchstrichterliche Absolution, indem er mehr als fünfzig bei ihm eingegangene Strafanzeigen gegen Mitglieder der Regierung und des Bundestags für gegenstandslos erklärte. Er wollte den ihnen zur Last gelegten verfassungswidrigen und strafrechtlich verfolgbaren Tatbestand der Vorbereitung eines Angriffskrieges partout nicht entdecken. Da die Bundesregierung durch die Beteiligung am Krieg der NATO gegen Jugoslawien erklärtermaßen ein friedliches Zusammenleben der Balkanvölker ermöglichen wolle, könne es sich Nehm zufolge bei dieser Aggression nicht um einen Angriffskrieg handeln.

Seit 1999 hat sich dieses mühelos die Quadratur des Kreises vollziehende Rechtsverständnis des NATO-Imperialismus etwa durch die Doktrin der Schutzverantwortung so sehr verselbständigt, daß es kaum mehr in Anspruch genommen werden muß. Rechtsfragen spielen bei der Kriegsbeteiligung der Bundeswehr in Syrien nur noch eine marginale Rolle, gerade weil die Praxis militärischen Handelns weder mit ihrer rechtlichen noch moralischen Legitimation in Deckung zu bringen ist. So schließt die "Solidarität mit Frankreich" die Solidarität mit den zahllosen Opfern, die die Aushungerung und Eroberung des Iraks durch NATO-Staaten gefordert - und nebenbei die Voraussetzung für die Existenz des Islamischen Staates geschaffen - hat, oder die Solidarität mit den kurdischen und türkischen Friedensaktivisten, die in jüngster Zeit zwei Anschlägen in der Türkei zum Opfer fielen, entschieden aus. Was bleibt, ist Rhetorik nach Feldherrenart, feilgeboten zum Beispiel durch den verteidigungspolitischen Sprecher der SPD-Fraktion, Rainer Arnold. Er mahnte an, daß den "warmen Worten" in Richtung Frankreich Taten folgen müßten, und blieb deren kalte Konkretisierung nicht schuldig: "Man kann aus der Luft Terroristen verjagen, und man konnte auch schon Regimes stürzen" [2].


Portrait Erika Baum - Foto: 2015 by Schattenblick

Foto: 2015 by Schattenblick


Portrait Ludwig Baumann - Foto: 2015 by Schattenblick

Foto: 2015 by Schattenblick


Portrait André Shepherd - Foto: 2015 by Schattenblick

Foto: 2015 by Schattenblick

Die staatliche und gesellschaftliche Ordnung, die mit "friedenserzwingenden Maßnahmen" wiederhergestellt werden soll, ist aufgrund ihrer auch zu Friedenszeiten immanenten Gewaltverhältnisse am eigenen Niedergang nicht unbeteiligt. Nach Frieden zu rufen, ohne hinzuzufügen, ob der der Hütten oder der der Paläste gemeint ist, fügt sich so homogen in die begriffliche Entuferung des Krieges ein, daß der Ruf verhallt, bevor er nennenswerte gesellschaftliche Resonanz erzeugt. Den Kampf gegen Krieg und Militarismus fruchtbar zu machen kann hingegen dort gelingen, wo der Mensch die vorherrschenden Gewaltverhältnisse unmittelbar erfährt und in der Ohnmacht seines Schmerzes überwinden will. Das gilt nicht nur für Kriege, von denen man hierzulande nur aus den Medien erfährt, das gilt für die vielen sozialen Kämpfe, die an den Fronten des kapitalistischen Weltsystems gegen Hunger, Obdachlosigkeit, Armut und Verelendung geführt werden.

Der stille Tod von Millionen Menschen, die nicht genügend zu essen haben, keine medizinische Versorgung erhalten, an kontaminiertem Trinkwasser erkranken, durch den Ressourcenhunger industriell hochentwickelter Staaten von ihrem Land vertrieben werden, durch Sklavenarbeit mit dem Resultat vorzeitigen Sterbens ausgebeutet werden, bei der Flucht vor lebensbedrohender Bedrängnis umkommen, ist Ausdruck eines permanent gegen Menschen, denen wenig mehr als ihre physische Existenz zur Verfügung steht, geführten sozialen Krieges. Das zur Einspeisung in die große Maschine oder zum Abschuß durch die selbsternannten Ordnungshüter des Planeten freigegebene nackte Leben mag de jure über einen Rechtsanspruch verfügen. De facto ist es den jeweiligen Produktionsverhältnissen und Ausschlußkriterien auf eine Weise ausgeliefert, daß die dabei wirksam werdende Anomie kein Sonderfall jihadistischer Schreckensherrschaft, sondern der Normalfall sich freiheitlich und weltläufig gebenden Desinteresses ist.

Darüber hinaus tobt ein Krieg gegen nichtmenschliche Lebewesen, die zu Tausenden spurlos von der Oberfläche des Planeten verschwinden, weil ihre Lebensräume ressourcentechnisch erschlossen oder industriell vergiftet werden, und zu Abertausenden in den Schlachtfabriken verenden, ohne daß ihre Konsumenten auch nur ein Verhältnis dazu entwickelten, schmerzempfindende und zu Empathie fähige Lebewesen auf dem Teller zu haben. Die Zerstörung der Natur wird erst in ihrem ganzen Ausmaß wahrgenommen, wenn der Erhalt menschlicher Lebensvoraussetzungen in Frage gestellt ist, und das auch nur zur Behebung dieses Problems. Zu erkennen, daß der Schmerz negierten Lebens unteilbar ist, ist auch hier keine Frage objektiver Wahrheit, sondern der subjektiven Position, nicht zu akzeptieren, was fraglos als inakzeptabel zu verwerfen ist.


Portraits Karl C. Fischer und Stéphane Hessel - Foto: 2015 by Schattenblick

Foto: 2015 by Schattenblick

Es ist mithin nicht gleichgültig, aus welcher politischen Haltung heraus gegen den Krieg protestiert wird, sondern von folgenreicher Bedeutung, ob egalitär und klassenbewußt oder nationalistisch und kulturalistisch argumentiert wird. Ganz und gar nicht trivial ist auch die Frage der eigenen Teilhaberschaft an herrschenden Verhältnissen, werden die Kriege im Globalen Süden doch nicht zuletzt um die Erträge und Ressourcen geführt, die die hochproduktiven Metropolengesellschaften Europas, Nordamerikas und Ostasiens zur Sicherung dieser Machtposition verbrauchen. Rio Reiser hat in einer späten Variation des Liedtextes "Krieg" eine kleine, aber wesentliche Änderung vorgenommen. Dort wartet der Krieg nicht mehr "auf mich, auf dich", dort heißt es vielmehr, daß er "sehr gut versteckt (...) wartet in mir, in dir." [3] Einen kritischen Blick auf die eigene Verstrickung in Feindseligkeit und Aggression zu werfen und die Bindewirkung des Strebens nach gesellschaftlicher Anerkennung als integratives Moment zu bestreitender Verhältnisse zu durchschauen, kann dem Versuch, Schlimmeres aktiv zu verhindern, anstatt passiv auf bessere Zeiten zu warten, durchaus auf die Sprünge helfen. Ob sich Widerstand lohnt, kann nicht die Frage sein, denn der Mensch ist kein Lohnempfänger, der in unterwürfiger Dankbarkeit ausführt, was ihm ansonsten gewaltsam abverlangt wird.


Fußnoten:


[1] INTERVIEW/016: Linksliteraten - Die linke Optik ...    Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann vom Verband Arbeiterfotografie im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbri0016.html

[2] http://www.gedichte.eu/ex/muehsam/brennende-erde/der-gefangene.php

[3] https://www.das-parlament.de/2015/49/themenausgaben/-/397458

[4] http://www.riolyrics.de/song/id:137


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30. Dezember 2015


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