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BERICHT/059: 21. Linke Literaturmesse - und nicht vergessen ... (1) (SB)


Spurensuche in unübersichtlichem Gelände

Podium und Diskussion am 4. November 2016 im Künstlerhaus im KunstKulturQuartier


"Wo bleibt die radikale Linke?" - die auf dem Auftaktpodium zur 21. Linken Literaturmesse in Nürnberg [1] aufgeworfene Frage nach den kaum sichtbaren Spuren, die linke Forderungen und Entwürfe in den gesellschaftlichen Kämpfen hinterlassen, ließe sich kurz damit beantworten, daß sie zu sehr mit sich selbst, ihren ideologischen Grabenkämpfen und politischen Differenzen, beschäftigt ist. Auch wenn die von zwei Konflikten dieser Art überschattete Messe ihrerseits Indizien für die Gültigkeit dieser These lieferte, so kann diese Zusammenkunft doch auch als Beleg dafür gelten, daß in ihrem Rahmen ganz unterschiedliche Akteure und Strömungen ohne offenkundige Probleme koexistieren. Zugleich ist ein Zustand bloßen Nebeneinanderhergehens weit von einer Handlungseinheit entfernt, die angesichts der Übermacht destruktiver und repressiver Kräfte erforderlich wäre.

Die drei Referenten, die diese Frage vor vollem Saal im Künstlerhaus im KunstKulturQuartier debattierten, machten es sich denn auch nicht so einfach. Daß der Gesamteindruck der Debatte dennoch eher verschwommen blieb, war nicht zuletzt einer weit gefaßten Fragestellung geschuldet, deren Behandlung sehr viel mehr Zeit bedurft hätte, um die grundsätzlichen Problemstellungen emanzipatorischer und revolutionärer Auseinandersetzung mit den herrschenden Verhältnissen auszuleuchten.

Der ehemalige Linksparteipolitiker Manfred Sohn nahm das Publikum mit auf eine Tour d'Horizon linker Fragestellungen, die neben bedenkenswerten Positionierungen auch das pastorale Talent des Aktivisten, in bedrückter Lage Mut zu machen, zum Vorschein brachte. Der expliziten Absage des ehemaligen Chefs der Landtagsfraktion Die Linke in Hannover an parlamentarische Stellvertreterpolitik ist nichts hinzuzufügen, wiewohl das in der bundesrepublikanischen Linken keineswegs selbstverständlich ist. Anders verhält es sich sicherlich mit der unterstellten Endkrise des Kapitalismus, in der die radikale Linke trotz ihrer derzeitigen Schwäche seiner Ansicht nach durchaus Eingriffsfähigkeit entwickeln könnte.

Sohns Empfehlung, sich ernsthaft mit dem Marxschen Hauptwerk auseinanderzusetzen, weist vor allem darauf hin, daß es mit der Theoriebildung insgesamt nicht zum besten steht. Wo könnte diese Forderung allerdings besser erhoben werden als auf einer Buchmesse, wo das in der reichhaltigen Geschichte der westlichen wie globalen Linken enthaltene Rüstzeug in Textform verfügbar gemacht wird? Doch fangen die Probleme schon damit an, daß die verschiedenen Schulen orthodox-, neo- und postmarxistischer Lesart nicht unter einen Hut zu bringen und sich mitunter sogar spinnefeind sind. So kam mit Sohns Empfehlung, sich der Kapitalismusanalyse der von Robert Kurz maßgeblich initiierten wertkritischen Schule zu widmen, bereits eine spezifische Deutung ins Spiel, die der Überwindung des sogenannten Arbeiterbewegungsmarxismus verpflichtet ist.

Zudem hat die Wertkritik bei aller Stichhaltigkeit ihrer Entwertungsthese den aus sich selbst heraus prozessierenden Widerspruch des Kapitalverhältnisses so weit getrieben, daß sich die Frage nach einem revolutionären Subjekt oder eines gesellschaftlichen Klassenwiderspruchs auch jenseits der Notwendigkeit, die Arbeiterklasse als kämpfenden Akteur zu benennen, wie von selbst erledigt. Das hielt den Referenten nicht davon ab, bei aller Kritik an den Kategorien vergangener Kämpfe einen Klassenkampf von oben zu postulieren, dem durch die reale Inbesitznahme der stofflichen Wirklichkeit entgegenzutreten wäre. Wie die historische Offensive, in der Sohn die Linke gerne sähe, ohne eine kämpferische Subjektivität in Angriff zu nehmen ist, die den Härten eines solchen Kampfes aus ganz persönlicher Überzeugung gewachsen wäre, bleibt im Schlagschatten der alles überblendenden Fetischkonstitution und der Abstraktheit des sich selbst verwertenden Wertes eine offene Frage.

Bei allem Elan, mit dem Sohn zum aktiven Eintreten für die kollektive Selbstermächtigung der Ausgegrenzten aufruft, was seiner Ansicht nach durchaus auch in Zusammenhängen wie denen der Solidarischen Landwirtschaft (SoLaWi) stattfindet, oder die Vernetzung von Kommune- und Rätebewegung verlangt, bleibt die Aussicht auf die finale Krise des kapitalistischen Systems bei ihm zu sehr in einer Kritik der politischen Ökonomie verhaftet, die sich außerhalb der Kategorien von Kapital und Arbeit, von privatwirtschaftlicher Eigentumsordnung und sozialistischer Vergesellschaftung auf begrifflich dünnem Eis bewegt.

Sohns Forderung, im emanzipatorischen Sinne aus dem gedanklichen Gehege des Marktes, des Geldes und der Tauschwirtschaft auszubrechen, gewährleistet keineswegs, daß nicht auch in den Unternehmenszentralen und Denkfabriken derjenigen über eine Transformation der warenproduzierenden Arbeitsgesellschaft nachgedacht wird, die maßgeblich von ihr profitieren. Die Verfügungsgewalt über deren materielle Grundlagen langfristig krisensicher zu machen verlangt vor dem Hintergrund ihrer fortschreitenden Entwertung bei gleichzeitiger Erschöpfung der natürlichen Quellen stofflicher Lebensressourcen nach Formen staatlicher Herrschaft, bei denen die demokratische Einbeziehung aller Menschen und ihre zumindest formalrechtliche Gleichstellung keineswegs selbstverständlich sein muß.

Kurz gesagt, die Adaptionsfähigkeit kapitalistischer Gesellschaften, krisenhafte Entwicklungen in einen strukturellen Wandel zu vertiefter Herrschaft münden zu lassen, ist mit der Unterwerfung der Erwerbslosen unter staatliche Verwaltung und der Entrechtung von Flüchtlingen kaum an ihr Ende gelangt. Allein die Etablierung einer bargeldfreien Warenzirkulation auf der Basis des dezentralen Rechnungswesens der Blockchain-Technologie, um nur ein Beispiel zu nennen, bahnt dem individuellem Empfinden zuwider, in wachsendem Maße über das eigene Geld zu verfügen, Möglichkeiten sozialer Kontrolle den Weg, deren Zwangscharakter den Verkauf der eigenen Arbeitskraft an mehrwertabschöpfende Unternehmer deutlich überträfe. Was tun mit einer den informationstechnischen Rationalisierungstendenzen adäquat wachsenden Zahl nicht mehr erwerbstätiger Menschen, wenn die Forderung nach einem Bedingungslosen Grundeinkommen (BGE) in angemessener Höhe bei den Sachwaltern von Staat und Kapital nicht auf offene Ohren trifft? Der massenhafte Ausschluß von selbstbestimmter Versorgung und unbeschränkter Bewegung ist keineswegs unvorstellbar, wird er doch an flüchtenden Menschen längst vorexerziert, um von den desolaten Verhältnissen in den Hungerregionen des Globalen Südens nicht zu sprechen.

Eine im Kern barbarisch verlaufende Erneuerung des Kapitalismus nicht in den Horizont möglicher Verläufe zu nehme heißt auch, den technokratischen, auf die Eroberung von "Lebensraum" gerichteten Impetus der genozidalen Logik des NS-Staates zu ignorieren. Die Notwendigkeit nationaler Ressourcensicherung auf eine völkische Basis zu stellen, die Deutsche qua NS-Rassenlehre zur Herrschaft über "minderwertige" Völker ermächtigt, hat der privatwirtschaftlichen Struktur des deutschen Imperialismus nicht geschadet, sondern deutsches Unternehmertum geradezu beflügelt, wie dessen Rolle bei der mörderischen Ausbeutung von Zwangsarbeit und der sich an jüdischen Bürgern schadlos haltenden Arisierungspolitik belegt. So sehr der antisemitische Rassenwahn als ideologisches Konstrukt vergangener Zeiten erscheint, so vital sind die sozialdarwinistischen und biologistischen Grundlagen eines Menschenbildes, das neue Formen leistungs- und sozialrassistischer Selektion hervorbringt.

Die Beschwerde des SPD-Politikers Thilo Sarrazin über die angeblich zu hohe Geburtenrate türkischer Menschen oder Vorschläge britischer Politiker, die Geburtenrate sozial schwacher Familien durch die Streichung von Sozialleistungen zu regulieren, sind nur zwei Beispiele für die Wiederkehr einer national und demographisch argumentierenden Bevölkerungspolitik, die offen ist für alle Eingriffe in die soziale Reproduktion, die sich mit humangenetischen, neurobiologischen oder behaviouristischen Argumenten wissenschaftlich legitimieren lassen. Das "Verbrechergen" wird längst wieder, ohne zu erröten, diskutiert und stärkt die Befürworter eines Predictive Policing, bei dem Menschen zu Risikofaktoren für die Gesellschaft erklärt werden, auch wenn sie keine strafbare Handlung begangen haben. Wird der vulgärmaterialistischen Beglückungspropaganda der Life Sciences nicht entgegengetreten, dann steht der Schönen Neuen Welt eines Aldous Huxley nichts mehr im Wege.

All dies wird auch durch eine Rechtsentwicklung vorangetrieben, auf die Gert Wiegel, Referent für Rechtsextremismus und Antifaschismus für die Bundestagsfraktion Die Linke, einging. Seiner Ansicht nach sei der Protest gegen herrschende Verhältnisse nach rechts gerückt und spreche insbesondere vom sozialen Abstieg bedrohte Gruppen der Bevölkerung, aber auch ein Sarrazins Thesen begrüßendes Bürgertum an. Dieses regressive Aufbegehren gegen den autoritären Kapitalismus wird zwar durch Pegida und AfD repräsentiert, doch die damit aufgeworfene soziale Frage betrifft eine Klientel, die auch für die Partei Die Linke von Interesse ist, wie etwa die dokumentierte Wählerwanderung von links nach rechts seit dem Aufstieg der AfD zeigt.

Warum also erreicht die Linke, ob als Partei oder Bewegung, nicht denjenigen Teil der Bevölkerung, der sich vielleicht nur aus opportunistischen Gründen rechten Demagogen zuwendet, die die Klassenfrage reaktionär beantworten? Wiegels Antwort darauf besteht im Fehlen einer konsistenten Erklärung der Krise durch die radikale Linke, die bezeichnenderweise inmitten einer gesellschaftlichen Misere, die ihr Urteil über die zerstörerische Folgen des Kapitalismus zutiefst bestätigt, dem Aufstieg der Neuen Rechten wenig entgegenzusetzen hat. Im wesentlichen beschränken sich ihre Aktivitäten darauf, das Anwachsen des politischen Gegners nach Kräften zu begrenzen, dennoch leide die Linke darunter, daß sie kein anderes Gesellschaftsmodell beschreiben noch den Weg dahin weisen könne.

Eine wichtige Forderung an eine dementsprechend unterbemittelte "Mosaiklinke" sei denn auch, Barrieren nach rechts aufzubauen und zugleich die Sorgen der Bevölkerung über die angebliche "Überfremdung" ernst zu nehmen, ohne dabei rechte Motive aufzugreifen. Jede Ansprache an diesen Teil der Bevölkerung abzulehnen wiederum hieße, den parteipolitischen und gewerkschaftlichen Hauptstrom der Linken ebenso wie die radikalere Bewegungslinke als Klassenprojekt aufzugeben. Wichtig sei schließlich, gemeinsame Interessen in konkreten Kämpfen etwa um das Recht auf bezahlbaren Wohnraum und mehr gesellschaftliche Teilhabe erfahrbar zu machen. Was die Frage breiter Bündnisse gegen rechts betrifft, so müsse sich die radikale Linke in ihren Forderungen kenntlich machen, ansonsten wäre eine solche Bündnispolitik verfehlt.

Wurde die Bündnisfrage auf der 20. Linken Literaturmesse 2015 ausführlich diskutiert [2], so laufen antifaschistische Aktionsformen nach wie vor Gefahr, sich trotz NSU-Affäre und der kriegerischen Entuferung kapitalistischer Herrschaft affirmativ zu diesem Staat zu verhalten. Das unter Teilen der Linken durchaus vorhandene Unbehagen, sich in Bündnissen mit SPD und Grünen einzufinden und damit eine neoliberale Politik zu unterstützen, die die Rechtsentwicklung in Deutschland und der EU mitzuverantworten hat, ist zugleich Ausdruck mangelnder politischer Perspektive über sozialdemokratische Reformkonzepte hinaus wie Anlaß zur Schaffung neuer Formen öffentlich manifesten Widerstandes.

Zu letzterem berichtete der Berliner Mietrechts- und Medienaktivist Matthias Coers über die Vielschichtigkeit des sozialen Widerstands gegen die exorbitante Erhöhung der Wohnungsmieten und den daraus folgenden Ausschluß eines Gutteils der Bevölkerung von der Verfügbarkeit angemessenen Wohnraums und der Möglichkeit, in jedem Stadtteil Berlins zu leben. In den konkreten Kämpfen um billigere Mieten und gegen Zwangsräumungen lernten die Menschen notwendigerweise, miteinander zu arbeiten. In dieser grundlegend solidarischen Praxis kämen sie miteinander ins Gespräch und seien um so bereiter, keinen Rassismus, Sexismus und Antisemitismus in den Mieterinitiativen zu dulden.

Zwar sei es in Berlin einfacher als in kleinen Städten, radikale Positionen nach vorne zu bringen, aber die Frage des Wohnens brenne überall auf den Nägeln, wie Coers anhand einiger Daten über die notgedrungene Mobilität der Menschen hier wie in anderen Teilen der Welt belegte. Dabei glaube in Berlin keiner an die neoliberale Bezichtigung, selbst daran schuld zu sein, die Miete nicht bezahlen zu können, sei der Verlust des Arbeitsplatzes oder der schlechte Job im Niedriglohnsektor doch eine allgemein erlittene Realität, die sich auch nicht durch mehr Anstrengung bei der Jobsuche verändern lasse. Angesichts der umfassenden Rationalisierung der Arbeit sei der Staat immer weniger in der Lage, einen gesellschaftlichen Zusammenhalt herzustellen. Statt dessen werde die - in Berliner Quartieren oft noch nicht entmischte - Bevölkerung sozial und ethnisch parzelliert, was in der Schaffung von Gated Communities seinen sichtbaren Ausdruck findet.

Keinesfalls dürfe noch einmal der Fehler der Privatisierungspolitik wiederholt werden, so Coers mit Seitenhieb an die Adresse der Berliner Linkspartei, statt dessen müßten die Mieter die Anwälte zum Jagen tragen und die Politik vor sich hertreiben. Anstatt Hoffnungen auf eine bessere Zukunft in den Staat zu setzen, gehe es um kollektive Selbstermächtigung, ob beim Urban Gardening in der Transition Town-Bewegung oder dem gemeinsamen Erarbeiten theoretischer Kenntnisse unter Mietrebellen. Wenn die radikale Linke einen Daseinszweck habe, dann könne dieser auch darin liegen, das stetige Wachstum gescheiterter Alternativprojekte zu behindern. Sich um sich selbst zu kümmern sei nichts linkes, und wenn in Lebensalternativen organisierte Aussteiger nach 30 Jahren bei der kleinen Warenproduktion ankämen, sei das nicht minder desillusionierend.

Etwas mehr Wasser in den Wein goß eine Berliner Sozialarbeiterin, der es auf dem Podium zu idyllisch zuging. Sie erinnerte daran, daß es allein zur Ausbildung einer Fachkrankenschwester einer kollektiven Struktur bedürfe, die sich nicht von selbst ergebe. Für sie sei die Forderung nach Selbstermächtigung ein Mittelschichtsding, daß außer acht lasse, welche Probleme verletzliche Menschen hätten, um sozialen Widerstand und damit eine Gegenmacht zu organisieren, die auch Wirkung zeige.

Die von ihr angesprochene Machtfrage, auch das stieß auf keinen Widerspruch, wird im Zweifelsfalle nicht von der linken Opposition, sondern vom Staat selbst aufgeworfen, wenn die ihm zuwiderhandelnden Menschen gewaltsam zu seiner Räson gebracht werden. Die Gefahr wachsender Repression, derzeit vorgeführt am Beispiel kurdischer und türkischer Aktivistinnen und Aktivisten, die in der Bundesrepublik Gefahr laufen, zu langjährigen Haftstrafen verurteilt zu werden, wenn sie nur eine Demo organisieren oder Zeitschriften in der Türkei verbotener Organisationen verteilen, ist auch hierzulande gegeben, wie die entsprechenden Vorbereitungen legislativer und exekutiver Art belegen.

So gibt es mehr als genug Anlaß, die Scherben ideologischer Zerwürfnisse zusammenzukehren und sich darüber klar zu werden, wo der nicht mit dem silbernen Löffel im Munde geborene Mensch unter den Bedingungen internationaler Krisenkonkurrenz und sozialdarwinistischer Erfolgsauslese steht. Sollte dabei herauskommen, daß die Gräben noch tiefer sind, weil Isolation und Unterwerfung selbst mit fortschrittlichen Motiven bemäntelt werden können, dann trüge das ebenfalls zur Klärung und damit Handlungsfähigkeit bei. Selbst eine Verkaufsmesse mit Ambition, mehr als das zu sein, kann zum Fokus von Prozessen werden, die in diese Richtung weisen.


Das ehemalige Komm vom Hinterhof aus - Foto: © 2016 by Schattenblick

Der Veranstaltungsort von seiner schönsten Seite
Foto: © 2016 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] http://www.linke-literaturmesse.org/

[2] http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbrb0031.html
http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbrb0032.html
http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbrb0033.html


9. November 2016


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