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BERICHT/076: Linke Buchtage Berlin - rechtsseitig durchdrungen ... (SB)


Diejenigen rufen ihr zu: Haltet den Dieb, die es selber sind. Da wird raffendes und schaffendes Geld unterschieden, das eine in jüdischer, das andere in arischer Hand. Das eine ist abzuschaffen, weil der Kleinrentner keiner mehr ist, das andere zu erhalten, weil es die Bewegung bezahlt. Man würde hier jene Kälber sehen, die ihren Metzger selber wählen, wäre der Geruch vieler dieser Kälber nicht gerade der von Metzgern. Seltsam aber auch, zu was die Mitte derart fähig wurde: die bisher dumpfste Schicht dampft. Man sieht Antriebe, so roh und irr, so wenig bürgerlich, daß sie kaum mehr menschlich sind. Hier will etwas seinen Sprung tun. Weiß nicht, woher er kommt, wo er landet, was er in die Zähne nimmt.
Ernst Bloch - Erbschaft dieser Zeit (1935) [1]


Vor zwei Jahren kletterte eine Gruppe der sogenannten Identitären auf das Brandenburger Tor, um von diesem prominenten Ort aus allen mitzuteilen, daß junge Menschen ohne Migrationshintergrund die einzige Gruppe der Gesellschaft seien, die keine Lobby hätten. Nicht darüber nachzudenken, daß weiße Jugendliche, zumal mit akademischem Hintergrund, der bürgerlichen Mehrheit angehören und keine Schwierigkeiten mit Diskriminierung bei der Job- und Wohnungssuche oder dem Aufenthaltsrecht haben, weist als selbstgewählte Form der Ignoranz auf einen sorgfältig gepflegten Tunnelblick hin. Wer in Habitus und Sozialisation so integriert und handlungsfähig ist wie ein Martin Sellner, der als führender Kopf der Identitären gilt, hat sicherlich nicht das Problem, in dieser Gesellschaft zum Zuge zu kommen.

Das zeigt auch die mediale Beachtung, die die Identitären trotz ihrer geringen Zahl, die sie bei großangekündigten Aufmärschen auf die Straße bringen, zumindestens mit spektakulären Auftritten wie der Besteigung des Brandenburger Tores erhalten haben. Vergleichbaren Aktionen linksradikaler AktivistInnen wird weit weniger Aufmerksamkeit zuteil. Selbst militante Protestformen wie das Anzünden von Bundeswehrfahrzeugen werden nicht annähernd so stark publik gemacht wie die wenigen Aktionen dieser rechtsradikalen Gruppe. Ob dieses Attribut politische AktivistInnen, die auf dem Mittelmeer versuchen, mit einem eigens dafür gecharterten Schiff Flüchtlinge davon abzuhalten, den Boden der EU zu betreten, überhaupt angemessen beschreibt, kann in Anbetracht der Einbettung ihres fremdenfeindlichen Abwehrkampfes in den politischen Mainstream der Bundesrepublik durchaus bezweifelt werden.

Bei aller rebellischen Attitüde sind die Identitären mit ihren nationalkonservativen, deutschtümelnden und völkischen Glaubenssätzen anschlußfähig an eine zusehends sozialdarwinistisch und autoritär formierte Gesellschaft. Ihr politischer Anspruch setzt dort an, wo die geistig-moralische Wende Helmut Kohls hingeführt hätte, wenn sie zu seiner Amtszeit gelungen wäre. Dieses Projekt wird heute von der CSU in national verschärfter Form weitergeführt und findet seinen aktivistischen Niederschlag in nationalkonservativen Gruppierungen wie den studentischen Burschenschaften, aus deren Milieu die Identitären entsprungen sind.

Auf den Linken Literaturtagen Berlin wies die Politikwissenschaftlerin Judith Goetz auf den neonazistischen Hintergrund der Identitären hin. Auf der Suche nach neuen, durch staatliche Behörden weniger angreifbaren Strukturen haben die Identitären Organisations- und Aktionsformen entwickelt, die formal an linke Vorbilder anknüpfen und PR-technisch auf der Höhe der Zeit sind. "Untergangster des Abendlandes - Ideologie und Rezeption der rechtsextremen 'Identitären'", so der Titel des von Judith Goetz, Joseph Maria Sedlacek und Alexander Winkler herausgegebenen Buches, das Anlaß zu der Veranstaltung im Kreuzberger Mehringhof war.

Karl Kraus hatte die deutschen Nazis 1933 in seinem Buch "Die Dritte Walpurgisnacht" als "Untergangster" charakterisiert. Was diese tatsächlich wahrmachten, indem sie Europa in Schutt und Asche legten, findet heute seinen Wiederhall in jener ethnozentrischen Abwehrhaltung, laut der die christlich-jüdische Kultur Europas durch den Ansturm islamistischer Fundamentalisten als auch linker und liberaler Universalismen vom Untergang bedroht sei.

Wer mit der Parole "100 Prozent Identität - 0 Prozent Rassismus" bei völkisch bewegten Menschen in Deutschland und Österreich hausieren geht, scheint es nötig zu haben, den Vorwurf des Rassismus im Keim zu ersticken. Davor soll die Ideologie des Ethnopluralismus schützen. Laut ihr sei gegen fremde Kulturen nichts einzuwenden, solange ihr Einfluß auf diejenigen Territorien beschränkt bleibt, die ihnen laut der ethnizistischen Raumkonzeption der Neuen Rechten naturwüchsig zustehen. Eine solche Sortierung verschiedener Gesellschaften und Staaten in Kulturen, in denen die jeweils eigene Identität begründet sein soll, setzt ethnisch-kulturell homogene Bevölkerungen voraus, die mit entsprechenden Eingrenzungs- und Ausschließungsmaßnahmen erst einmal geschaffen werden müssen. Wird das Individuum als Teil eines ethnisch definiertes Kollektives anerkannt, dann sollen dessen Blutsbande nicht mehr veränderbare, weil naturgegebene Bedingungen der Vergesellschaftung diktieren. Ein solcher biologistischer Kulturalismus unterscheidet sich nur oberflächlich von der Blut-und-Boden-Ideologie der Nazis, so daß Identität und Rassismus wider alle Logik auseinanderdividiert werden müssen, um nicht mit dieser in einen Topf geworfen zu werden.

Wer derartige Identitätshuberei als Klammer und Fessel politisch bestimmter Herrschaft versteht, wird dem primären Feindbild vieler nazistischer Strömungen, dem "Kulturmarxismus" respektive "Kulturbolschewismus" zugerechnet. In gezielter Vermeidung jeglicher Auseinandersetzung mit der materialistischen Herrschaftskritik marxistischer Schule werden sozialistische, antipatriarchale, internationalistische und klassenkämpferische Vorstellungen rundheraus als zentraler Angriff auf die Traditionen und Werte bekämpft, mit denen sich zu identifizieren nicht nur Orientierung verschafft, sondern vor allem Zugehörigkeits- und Eigentumsansprüche fundiert. Nur so lassen sich Forderungen nach Ausschluß der Fremden von Ansprüchen auf Arbeit und Sozialleistungen begründen, nur so läßt sich eine Frontstellung etablieren, von der aus das Fremde den eigenen Interessen unterworfen werden kann.

Die von Judith Goetz beschriebene und in Bildmedien sehr präsente Adaption linker Mobilisierungs- und Aktionsformen durch die Identitären bedarf mithin keiner tieferen Ausdeutung jener Art, laut der die Zuschreibungen links und rechts letztlich austauschbar seien. Auch die Nazis hätten den Sozialismus im Namen geführt, antikapitalistische Parolen seien auch auf NDP-Demos zu vernehmen - derartige Argumente des hegemonialen Antikommunismus leuchten all denjenigen ein, die sich mit Eindrücken von der bloßen Erscheinungsebene begnügen und sich nicht die Mühe machen wollen, der Unverwechselbarkeit linker und rechter Positionen auf den Grund zu gehen.

Der modernisierte völkische Nationalismus der Identitären ist in seinem starken Bezug auf die Reconquista, so der abendlandsapologetische Begriff für die historische Abwehr des Islam in Europa, nicht anders zu verstehen denn als begriffliche Variation jenes "Volkstodes", den heutige Nazis bei allen Formen nicht blutsmäßig bestimmter Zugehörigkeit zu einer Staatlichkeit verorten, deren Subjekt in ihrem Sinne die "Volksgemeinschaft" zu sein hat. Ob zur Chiffre vom "großen Austausch" gegriffen oder die Geburtenrate muslimischer Frauen zum Problem erhoben wird, überall wittert die neue Rechte das Eindringen "volksfremder" Elemente und die Zersetzung ihrer ethnisch definierten Zugehörigkeit.


Im Vortrag - Foto: © 2018 by Schattenblick

Judith Goetz
Foto: © 2018 by Schattenblick


Biologistische Reinheitsdoktrin in Bevölkerungs- und Geschlechterpolitik

Dementsprechend sind die Frauen unter den Identitären in der Minderheit und bei aller streitbaren Inszenierung auf Demonstrationen patriarchalen Idealen von Familie und Ehe verpflichtet. Nicht anders als in offen völkisch auftretenden Gruppierungen obliegt ihnen die Aufgabe, die biologische Reproduktion ansonsten vom Untergang bedrohter weißer EuropäerInnen zu sichern. Zugleich inszenieren sie sich als von Migration und liberaler Flüchtlingspolitik betroffene Opfer männlicher Gewalt, wie Judith Goetz, die im Forschungsnetzwerk Frauen und Rechtsextremismus aktiv ist, anhand der Kampagne (Hasthag) 120db schildert.

Dort wird nicht etwa gegen männliche Gewalt in Familie, Beruf und Öffentlichkeit als solche mobil gemacht, sondern Angst vor Vergewaltigungen durch Migranten geschürt. Frauen werden dazu aufgerufen, Gewalterfahrungen mit migrantischen Männern publik zu machen und sich im Rahmen des dabei propagierten "völkischen Feminismus" wieder in einer von naturalistischer Weiblichkeit geprägten Frauenrolle einzufinden. Diese Auslegung männlicher Sexualdelikte hält zwar keiner Kriminalitätsstatistik stand, appelliert aber wirkungsvoll an die Demütigung weißer Männlichkeit, von der nichtweißen Konkurrenz im sexuellen Wettbewerb ausgestochen zu werden. Ob imaginiert oder selbst erlebt, derartige Motive liegen nahe, wenn eine von männlichen Führungspersonen dominierte Gruppe eine Kampagne ins Leben ruft, in der rassistische Stereotypien beschworen und ein reaktionäres Frauenbild propagiert wird.

Feminismus im Sinne antipatriachaler Emanzipation ist das Feindbild von Aktivistinnen, die es wie Alina Wychera und Melanie Schmitz dank massenmedialer Verstärkung zu einiger Bekanntheit gebracht haben. Laut einem Zitat aus dem Compact-Magazin, dem die Identitären inhaltlich nahestehen, halten sich ihre Frauen für die wahren Frauenrechtlerinnen, weil sie im Hier und Jetzt an der Verbesserung der Lebensumstände von Frauen arbeiten und nicht an Männerhaß, Sprachkontrolle und Umdefinition von Problemen interessiert seien. Sie propagierten eine solidarische Gemeinschaft und wollten keinen Geschlechterkampf, als handle es sich dabei um einen nicht aus der Dominanz patriarchaler Herrschaft, sondern bloßem Abgrenzungsbedürfnis entstandenen Konflikt.

Wo gegen Vermischungen von Kulturen und Ethnien zu Felde gezogen wird, stehen tradierte, in ihrer biologischen Bestimmung eindeutig definierte Geschlechterbilder nicht minder hoch im Kurs. Männer und Frauen hätten von Natur aus unterschiedliche Aufgaben in der Gesellschaft, so eine Grundposition der Identitären. Diskriminierung entstehe erst, wenn Ungleiches gleich behandelt werde, während wahre Gleichberechtigung entstehe, wenn Ungleiches auch ungleich behandelt werde. Nur im Kampf gegen linken Gleichheitswahn lasse sich das Wesen des jeweiligen Geschlechts und des jeweiligen Volkes verwirklichen, läßt sich das politische Bekenntnis der Identitären zusammenfassen. Daß dieser "Wahn" keine empirische Gleichheit unterstellt, wie sie in der Konzeption des "Volkes" als organische Einheit allemal angelegt ist, sondern aus sozial und gesellschaftlich bedingten Unterschieden hervortretende Gewaltverhältnisse zu überwinden trachtet, wollen weiße Herrenmenschen nicht wahrhaben, weil diese Erkenntnis die eigene Suprematie in Frage stellte.

Wer sich heute noch als Opfer linker Hegemonie inszeniert und gegen die "politische Korrektheit" der 68er-Generation polemisiert, läuft angesichts der Verbreitung deutschnational eingefärbter Diskurse in Politik und Medien Gefahr, sich lächerlich zu machen. Gleiches gilt für das Bestaunen der popkulturellen Produktivität, mit der neurechte Bewegungen in ganz Europa um jugendlichen Zulauf werben. Diese Entwicklung entspricht nicht nur dem anything goes der postmodernen Warenform in Style und Fashion, sondern ist schon einige Jahre vor dem Auftreten der Identitären in Gang gekommen, wie etwa Kinofilme wie "Fight Club" oder "300" belegen, die von neofaschistischen Gruppen in ihrer auf Leben und Tod gehenden, Freund und Feind eindeutig voneinander trennenden Glorifizierung des Überlebenskampfes gerne zitiert wurden.

Insbesondere die 2006 erstmals gezeigte und höchst erfolgreiche Comicverfilmung "300" liefert mit der schwarz-weiß gezeichneten Inszenierung des Kampfes zwischen dem griechischen Sparta und dem Persischen Reich [2] eine Folie für den abendländischen Abwehrkampf gegen die in finstersten Farben gezeichnete Aggression aus Asien. Da das Symbol der Identitären, der gelbe griechische Buchstabe Lambda auf schwarzem Grund, für Lakedaimon, den antiken Namen Spartas, steht, liegt die Verbindung zu dem auch als Manifest gegen Multikulturalismus gehandelten Film nahe. Schließlich zeigen das Kokettieren der einst als antideutsch gehandelten Zeitschrift Bahamas mit dem antimuslimischen Rassismus der AfD [3] wie die Schmeicheleien, mit denen der Identitäre Sellner das als links geltende Blatt umwirbt [4], wie durchlässig die ideologischen Fronten unter "Untergangstern" und solchen, die es werden wollen, geworden sind. Nichts ist unmöglich - warum sollte nur ein Jürgen Elsässer das ganze Spektrum vom antideutschen Stichwortgeber über Redakteur bei junge Welt und Neues Deutschland bis zum völkisch-nationalen Verleger durchschreiten können?


Im Vortrag - Foto: © 2018 by Schattenblick

Micha Brumlik
Foto: © 2018 by Schattenblick


Intellektueller Hegemonialanspruch von rechts

"Das alte Denken der neuen Rechten - Mit Heidegger und Evola gegen die offene Gesellschaft" lautet die Überschrift des Kapitels, das der Publizist Micha Brumlik zum Sammelband "Untergangster des Abendlandes" beisteuerte. Auf dem Podium im Mehringhof erklärte er die Annahme, daß Intellektualismus ausschließlich von links käme, für überholt. Man müsse sich mit dem Gedanken vertraut machen, daß es wieder Rechtsintellektuelle gibt, so Brumlik. Als Beispiel für intellektuelle Gewährsleute der neuen Rechten führte er den in Rußland einflußreichen Philosophen, Politologen und Publizisten Alexander Dugin an. Mit seiner Theorie Eurasiens, in der kulturalistische und geopolitische Argumente zur Idee eines kontinentalen Imperiums unter Führung Rußlands entwickelt werden, das als Landmacht auf einen Endkampf gegen die liberalen atlantischen Seemächte unter Führung der Vereinigten Staaten zusteuert, beruft er sich direkt auf den intellektuellen Stichwortgeber der von rechts gestellten Machtfrage, Carl Schmitt.

Auch Julius Evola, der in Italien als rechter Marcuse galt und dessen Hauptwerkt "Revolte gegen die moderne Welt" sich unter neofaschistischen Bewegungen in Europa großer Beliebtheit erfreut, gehört zu den Rechtsintellektuellen, an die die neue Rechte insbesondere in Italien anknüpft. Seine Ansicht, daß der Niedergang der europäischen Kultur bereits mit Sokrates und dem Christentum begann, weil ersterer mit seinen Fragen die Sittlichkeit der Polis zerstört habe und letzteres die verhängnisvolle Überzeugung propagiere, daß alle Menschen gleich seien, mündete in die Schlußfolgerung, daß Rangordnungen und Aristokratien das einzige Mittel seien, das die Menschheit zum Heiligen, zum unantastbar Absoluten führe. Evola propagierte eine radkial antijüdische und antichristliche Auffassung, die die hierarchische Ordnung der Antike idealisierte. Da ihm der NS-Staat zu modern war, träumte er von einem Führerstaat nach Art des Römischen Imperiums, dessen Gesellschaft nach Prinzipien des hinduistischen Kastenwesens organisiert sein sollte.

Martin Heidegger, der mit seinem Buch "Sein und Zeit" 1927 auch viele linke und jüdische Studierende wie Hans Jonas, Herbert Marcuse und Hannah Arendt erreichte, erwies sich ebenfalls als erbitterter Antisemit und Gegner des Christentums. Für Brumlik repräsentiert er den intellektuellen Zeitgeist Ende der 1920er Jahre, wo das Denken in Kategorien völkischer Zugehörigkeit und Schicksalsgemeinschaft auch unter Intellektuellen verbreitet war. Der Identitäre Martin Sellner schreibe seine Abschlußarbeit über die Schwarzen Hefte von Martin Heidegger, wurde in der anschließenden Diskussion erwähnt.

Heute hätte man es nicht nur mit "Untergangstern", sondern einem Wiedergängerphänomen zu tun, denn rechte Intellektuelle habe es zuletzt so nur in der Weimarer Republik gegeben. Sie seien durchaus in linker Theorie bewandert und machten Anleihen etwa an die Kulturindustriethese der Frankfurter Schule. Selbstverständlich seien sie antikapitalistisch und ökologisch, zumal die Erde in ihren Vorstellungen wie den Überzeugungen rechter Vordenker zu den heiligen Bereichen des Lebens gehöre. Ihre Frontstellung gegen Immigration, Multikulturalismus und Islam umfasse auch die Ablehnung universaler Menschenrechte, da diese den Schutzraum des klassischen Nationalstaats unterminierten.

Zu fragen ist allerdings auch, was an politischer Glaubwürdigkeit bleiben soll, wenn als links geltende Intellektuelle mit den Wölfen imperialistischer Kriege heulen, sobald diese unter dem Vorwand geführt wurden, ein zweites Auschwitz zu verhindern, Frauen aus patriarchaler Herrschaft zu befreien, einen Diktator zu beseitigen oder die Menschenrechte durchzusetzen. Während die ideologische Gemengelage immer undurchsichtiger zu werden scheint, sorgt die Marktlogik feuilletonistischer Fieberkurven für die konformistische Formierung sogenannter Meinungen, anstatt eindeutig Position wider kapitalistische Herrschaft und rassistische Barbarei zu beziehen.


'Auch bei uns haben Frauen das letzte Wort: als Chefin.' Werbekampagne der Bundeswehr in Berlin im Juni 2018 - Foto: 2018 by Schattenblick

Wie emanzipatorische Ideale für einen soften deutschen Imperialismus rekrutiert werden ...
Foto: 2018 by Schattenblick


Aus der Defensive nach vorne kommen ...

In der anschließenden Diskussion vertrat Brumlik die Ansicht, daß die durch Digitalisierung und Globalisierung befeuerten Widersprüche zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen derart eskaliert seien, daß das klassische Modell des mehr oder weniger sozialdemokratischen Wohlfahrtstaates an sein Ende gelangt sei. Das deutlichste Symbol dafür sei der überall zu beobachtende Niedergang der Sozialdemokratie. Für ihn persönlich ergebe sich daraus das Problem, auf so etwas wie ein Bekenntnis zum Liberalismus zurückgestoßen zu werden. Auf einer kurz zuvor in Berlin abgehaltenen Konferenz zur Bedeutung des Begriffs Emanzipation sei diskutiert worden, ob die linken oder linksliberalen Intellektuellen nicht die Fragen der horizontalen Ungleichheit - die unterschiedliche Bewertung sozialer Identitäten - übermäßig stark betont und dabei die Frage der vertikalen Ungleichheit - des Klassenantagonismus - vergessen hätten. Hier fiel der Name Didier Eribon, der in "Rückkehr nach Reims" die Gründe für den Rechtsschwenk ganzer Bevölkerungen und der Krise des sozialdemokratischen Wohlfahrtstaates literarisch ausgelotet hat.

Eine Zuhörerin hielt es hingegen für kontraproduktiv, die unterschiedlichen Kontexte der Klassenpolitik und Identitätspolitik gegeneinander zu stellen. Dies führe in eine selbstgestellte Falle, vielmehr seien beide Stränge der Kritik miteinander zu verbinden, um zu neuer linker Handlungsfähigkeit zu gelangen. Für Brumlik ist es in dieser Situation, in der es politisch noch keine Antwort auf die gesellschaftliche Krise im allgemeinen und die Krise der Linken im besonderen gebe, vor allem wichtig, regressive Antworten nach Art der Identitären zurückzuweisen.

Ein Zuhörer erinnerte daran, daß in US-amerikanischen Strategieschmieden bei der Konzeption von Großraumordnungen häufig auf rechtskonservative Vordenker wie Leo Strauss und Carl Schmitt zurückgegriffen werde. Auch die chinesische Seidenstraße sei ein Land-und-Meer-Projekt im Sinne Carl Schmitts. Für die nationalen Dimensionen rechtsradikalen Denkens gebe es unter den Technokraten in den ThinkTanks und Ministerien viele Multiplikatoren. So habe das Pentagon unter US-Präsident George W. Bush die Komplettausgabe von Carl Schmitt auf englisch herausgegeben. Wie im Falle Ungarns unter Orban würden in den USA unter Trump demokratische Staaten mit Checks und Balances in rassistische Systeme umgewandelt.

Zugleich vertreten linksliberale Intellektuelle in der Bundesrepublik häufig sozialdemokratische Vorstellungen mit gewichtigen Anteilen an neoliberaler Doktrin. Wo unter diesen Bedingungen die Schnittstelle angesiedelt sei, dem performativen Durchmarsch der Rechten etwas entgegenzusetzen als auch den schmutzigen Anteil am Neoliberalismus im sozialdemokratischen Denken zu bewältigen, fragte dieser Zuhörer. Micha Brumlik verwahrte sich dagegen, die kritische Theorie in irgendeiner Weise als neoliberal zu bezeichnen, und verwies zur Illustration des objektiven Dilemmas der Linken auf Frankreich unter dem neoliberalen Präsidenten Macron, was sich anhand des Kampfes zweier Linien innerhalb der Partei Die Linke auf deutsche Verhältnisse herunterbrechen lasse.

Alles in allem erscheinen die Aussichten für Linke, die aufgrund ihrer revolutionären Agenda nicht ohnehin an ein politisches Wirken am Rande der Gesellschaft gewöhnt sind, wenig verheißungsvoll. Nachdem alle Niederlagenanalysen der sozialistischen Staatenwelt verfaßt und die traditionsreichen marxistisch-leninistischen Parteien wenn nicht ohnehin vollständig korrumpiert, dann auf Miniaturformat eingedampft wurden, gilt es, neu über gesellschaftliche Widersprüche und ihre emanzipatorische bis revolutionäre Überwindung nachzudenken. Hilfreich sind zweifellos die Diskussionen, die auf linken Foren unter dem Stichwort "Neue Klassenpolitik" geführt werden. Auch ist die Linke auf dem sozialökologischen Kampffeld alles andere als gut aufgestellt, werden hier doch Weichen gestellt für eine Zukunft, in der Verteilungsfragen tendenziell in Vertreibungs- und Vernichtungskriege ausufern können. Wenn die existentiellen Gefahren, der Menschen in aller Welt seit jeher durch die extraktivistischen Strategien der kapitalistischen Landnahme ausgesetzt sind, die wohlhabenden Metropolengesellschaften erreichen, wird es ein leichtes sein, Handlungsnotstände für autoritäre Lösungen geltend zu machen. Um so mehr bleibt die Positionierung der Linken auf der Seite derjenigen, die kein Gesicht und keine Stimme, keinen Ort und keinen Namen haben, ein verläßlicher Maßstab für politisches Handeln von unten.


Fußnoten:


[1] Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt am Main 1962, S. 45

[2] Kino für Herrenmenschen - "300" predigt den Kulturkampf (SB)
https://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/sele0895.html

[3] http://redaktion-bahamas.org/editorial/2018/nr-78/

[4] https://www.youtube.com/watch?v=WLWm2DZwgAY


Berichte und Interviews zu den Linken Buchtagen im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT

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10. Juli 2018


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