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BERICHT/081: Richtige Literatur im Falschen - ein hoher Preis bis heute ... (SB)



So kommt der Schreibende auf einem Umweg über den Zerfall und die Machtlosigkeit zum Schreiben, und jedes Wort, mit dem er eine Wahrheit gewinnt, ist aus Zweifeln und Widersprüchen hervorgegangen.
Peter Weiss 1965 [1]

Was bliebe über Peter Weiss zu sagen, das nicht schon tausendfach gedreht und gewendet, abgeklopft und ausgeschöpft worden wäre? Den harsch kritisierten und hoch gelobten, vom Feuilleton zerrissenen und preisgekrönten Künstler exemplarisch zum Anlaß genommen, die Literatur des Klassenkampfs auszuleuchten, bleibt dennoch ein Unbehagen, selbst bei und mit ihm kein Werkzeug in Händen zu halten, das sich, einmal angesetzt, wie von allein durch die Widerspruchslagen frißt. Seinen ästhetischen Kunstgriff entlehnend und ihn hier gleichsam als Chiffre sprechen zu lassen, zeigte er sich womöglich befremdet angesichts der Unterstellung, er ließe sich für Antworten mißbrauchen. Spreche er nicht in den eingangs zitierten Worten von der Konfrontation mit Machtlosigkeit, vom Schreiben als einem Ringen mit dem Unmöglichen, und schließlich vom aus Zweifeln geborenen Wort? Und was sollte die dabei gewonnene Wahrheit anderes sein als ein Trittstein für den nächsten Schritt, doch gewiß kein Mühlstein im Marschgepäck!

Zum Apologeten der Beliebigkeit macht ihn das nicht, weiß er sich doch als politisch positionierter Mensch und Künstler gleichermaßen in einen Kampf verstrickt, der lange vor ihm begonnen hat und nicht beendet ist. Wer von ihm wissen will, wie man gewinnt, wann wieder Frieden einkehrt oder ob nicht vielleicht ein anderer Weg erfolgversprechender sei, muß leer ausgehen. Dabei hält er nichts hinter dem Berg und verschenkt freigiebig all das, was er sagen kann. Wenn er von "kämpfender Ästhetik" spricht, ist das kein kulturindustrielles Bonmot, kein linksliterarisches Patentrezept. Weiss hat sein letztes Lebensjahrzehnt mit jenem Monumentalroman gerungen, selbst um den hohen Preis seiner physischen Substanz. Wollte man "Die Ästhetik des Widerstands" als Vermächtnis seines Lebenswerks werten, so nicht zuletzt als Zeugnis eines streitbaren Geistes, der in der ausschließlichen Widrigkeit der Verhältnisse nirgendwo vor Anker ging, um ein bescheidenes Glück zu verzehren.


Auf dem Podium - Foto: © 2018 by Schattenblick

Ingar Solty
Foto: © 2018 by Schattenblick


Wie die Erfahrung der drei vorangegangenen Symposien "Richtige Literatur im Falschen" gelehrt hat, ist es gar nicht so leicht, theoretische Diskussionen über Klassenverhältnisse, über Geschlechterverhältnisse und ihre Durchmischung immer wieder auf Literatur herunterzubrechen. Daraus resultierte die Idee, die Klassenverhältnisse aus der Literatur zu extrahieren, diese also mit der Frage zu bearbeiten, wo darin Klassenverhältnisse zum Ausdruck kommen. In diesem Sinne glich die erste Sektion der diesjährigen Tagung einem Parforceritt durch die Geschichte, aber entlang von konkreten literarischen Arbeiten an die Klassenverhältnisse der Gegenwart heran.

Ohne den folgenden Ausführungen vorzugreifen, läßt sich doch bereits an dieser Stelle von einer fruchtbaren Umsetzung dieses Vorhabens sprechen. Zum einen eröffnete diese Herangehensweise den Zugang zu besonders prägnanten, geradezu herausragenden literarischen Auseinandersetzungen mit der jeweils zeitgenössischen gesellschaftlichen Widerspruchslage. Zum anderen befleißigten sich die vier Kurzreferate der ersten Sektion zu verschiedenen "Phasen der alten Klassengesellschaft von Weimar bis Bonn" ihrerseits eines gewissermaßen verdichteten Sprachgebrauchs im Umgang mit ihrer Thematik.

Beim Symposium "Richtige Literatur im Falschen" vom 7. - 9. Juni 2018 in der Dortmunder Zeche Zollern zum Thema "Literatur in der neuen Klassengesellschaft" wurde die Sektion I von Ingar Solty geleitet, der gemeinsam mit Enno Stahl die Veranstaltung konzipiert hat. Norbert Niemann ging in seinem Vortrag "Geist und Tat", "Wissen und Verändern!" auf Gesellschaftskritik und Gesellschaftsutopie in der Weimarer Republik bei Heinrich Mann und Alfred Döblin ein. Enno Stahl setzte sich in seinem Referat "Leben und Sterben für die Utopie" mit Peter Weiss und der "Ästhetik des Widerstands" auseinander. Stefan Schmitzer brachte unter dem Titel "Falken - Spatzen - Ungeheuer" die "Freibeuterschriften" von Pier Paolo Pasolini zur Sprache. David Salomon thematisierte unter dem Stichwort "Neoliberale Rebellen?" Überlegungen zu Michel Houllebecqs "Ausweitung der Kampfzone" und Bret Easton Ellis' "American Psycho".


Auf dem Podium - Foto: © 2018 by Schattenblick

Norbert Niemann
Foto: © 2018 by Schattenblick


Gesellschaftskritik und -utopie bei Heinrich Mann und Alfred Döblin

Norbert Niemann forschte in den umkämpften Jahren zwischen 1918 und 1933 nach der Rolle der Dichter und Denker. Ihn beschäftigten ihre kritischen Analysen, ihr Kampf mit Worten und nicht zuletzt die Frage, warum dieser Kampf gescheitert ist. Joseph Roth schreibt in einer Besprechung von Heinrich Manns "Diktatur der Vernunft" 1924: "Niemals haben die deutschen Dichter so laut gesprochen wie sie jetzt schweigen. Man hört es, und es verurteilt selbst diejenigen, von denen es ausgeht." Und weiter: "Diese Vorrede war notwendig, um eine Erscheinung zu erklären, die in allen anderen europäischen Ländern eine Selbstverständlichkeit wäre und bei uns eine Tat ist. Heinrich Mann, seit Jahren der einzige Rufer von Geist, (...) schreibt ein Buch." Das klinge doch ziemlich aktuell, so Niemann. Auch in der gegenwärtigen Öffentlichkeit müsse man Stimmen, die den gesellschaftspolitischen Erschütterungen mit der reflektierten Kraft des Geistes und der Sprache begegnen, mit der Lupe suchen. Allenthalben zeugten die damaligen Texte von einer Dominanz des Schweigens im allgemeinen Geschrei, von einer Ohnmacht der kritischen Intelligenz gegenüber einer hoch emotionalisierten politischen Öffentlichkeit.

Für ihn bleibe Heinrich Mann neben Alfred Döblin bis heute ein zentraler Bezugspunkt in der Literaturgeschichte. Er fühle sich beiden nahe, weil sie kompromißlos auf der Seite der Benachteiligten und der Ausgebeuteten, der von verzerrten Wirklichkeitsdarstellungen und falschen Versprechungen Hereingelegten standen und gleichzeitig ebenso eindeutig die Bewegungsfreiheit der Sprache, die Autonomie des Denkens verteidigten, sie als Voraussetzung für demokratische Verhältnisse begriffen. Dennoch scheint ihr Nachdenken über die Zusammenhänge des Abrutschens einer Gesellschaft in die totalitäre Barbarei aus dem historischen Bewußtsein weitgehend verschwunden zu sein. Wenn das Bewußtsein für Literatur als Erkenntnismedium und Wahrnehmungskorrektiv auch ohne Autodafés in Auflösung begriffen sei, gehe das Schweigen der Schriftsteller im allgemeinen Geschrei weiter. Was für gegenwartsnahe Diskussionsgrundlagen würden hingegen Alfred Döblins "Wissen und Verändern!", offene Briefe an einen jungen Menschen von 1931, und Heinrich Manns Essay "Die Tragödie" von 1923 bieten!


Blick auf Gebäude und Förderturm der Zeche Zollern - Foto: © 2018 by Schattenblick

Literatur im "Schloss der Arbeit"
Foto: © 2018 by Schattenblick

Heinrich Mann schreibt in sechs unter diesem Titel zusammengefaßten Aufsätzen zu einer Zeit, da der Aufbruch längst in die Krise übergegangen ist. Den eigentlichen Feind sieht er in der Macht des Kapitals, zwischen einer Ökonomie als Selbstzweck und der geistigen Abstumpfung und sittlichen Verrohung einer ganzen Gesellschaft bestehe ein unmittelbarer Zusammenhang. Wirtschaft sei zu einer Diktatur ohne Putsch geworden. Bereits 1915 hatte er seine Auffassung von der Verantwortung eines Schriftstellers skizziert: "Literatur und Politik hatten denselben Gegenstand, dasselbe Ziel. Sie mußten einander durchdringen, um nicht beide zu entarten. Geist ist Tat, die für die Menschen geschieht, und so sei der Politiker Geist und der Geistige handle." Und über die Schriftsteller, die sich dieser Verantwortung nicht stellen, wie sein jüngerer Bruder Thomas Mann: "Wenn man ihnen sagte, daß sie das Ungeheuere, das jetzt Wirklichkeit ist, daß sie das äußerste von Lüge und Schändlichkeit eigenhändig mit herbeigeführt haben."

In "Die Tragödie" untersucht Heinrich Mann den Wandel des Begriffs "Nation" vor dem Hintergrund der Entwicklung des Bürgertums seit der Französischen Revolution. Deren revolutionäre Ideale behinderten den Erwerb, also gab der Bürger sie bald auf. Anfangs als Patriarch, verwechselte er seine Geschäftsinteressen noch mit denen Gottes, und Nation bedeutete ihm nicht mehr als ein sonntägliches Gefühl von Vaterland. Doch bald kommt ein neuer Typus von Bürger auf, in dem "nur noch die durchfiltrierten Instinkte der Klasse" wirksam sind. Vaterland ist für ihn gleichbedeutend mit Profitmachen: "Denn wie dient man dem Vaterland? Mit Geldverdienen. Dieser Typus steckt nicht nur den Mehrgewinn, sondern das Vaterland selbst in den Sack." Mann spricht von einer Transformation des Begriffs der Nation zur ideologischen Waffe, um "das Volk so gründlich hineinzulegen, daß es sich selbst auf keine Weise mehr helfen kann". Die Geldinteressen der Reichsten werden das einzig Bestimmende, und da die Pressefreiheit auch ohne ausdrückliches Verbot an der Totalität der Weltideologie erstickt, greift eine Art "Betäubung des ganzen Landes" um sich: "Sie haben das Raffen zum Maß der Dinge erhoben, auch Menschen haben für sie nur dies Maß."


Fördertum auf Zeche Zollern - Foto: © 2018 by Schattenblick

Hoch hinaus, um tief hinunter zu kommen ...
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Heinrich Mann fordert eine Umkehrung der Machtverhältnisse, Gesellschaft müsse wieder der Ökonomie übergeordnet werden. Dem Nationalismus begegnet er mit Internationalismus, ohne den es kaum noch fortgeschrittene Geistigkeit gebe. Er träumt von einer europäischen Identität, die er als gegenseitige Durchdringung von Geist und Tat definiert. Daß seiner Utopie weder die Abschaffung des Privatbesitzes noch die Diktatur des Proletariats vorschwebt, teilt er mit Alfred Döblin, dessen Beschreibung und Analyse des gesellschaftlichen Stands der Dinge in seinen offenen Briefen an einen jungen Studenten von 1931 erhebliche Deckungsgleichheit aufweist. Bei Döblin scheint der Begriff Sozialismus auf den ersten Blick nahezu abstrakt, wenn er als zentrale Aufgabe des Intellektuellen definiert, an einer Vergeistigung mitzuwirken. Im heutigen Sprachgebrauch wäre das in die Schaffung von Voraussetzungen für eine Emanzipation aus der Fremdbestimmung und der Selbstunterwerfung zu übersetzen, so der Referent.

Dieses Konzept hat Döblin angesichts der politischen Realitäten 1931 Kritik eingebracht. Wie Siegfried Kracauer schrieb, liefere Döblin eine Ideologie, die es ihm erlaube, sich im Namen des Sozialismus nicht um den Sozialismus zu kümmern. Dennoch sprach er dem Buch das Verdienst zu, ein Gespräch darüber zu eröffnen, was die Intelligenz angesichts der großen Wirtschaftskrise und des Erstarkens der Nationalsozialisten tun könne. Döblin hat sich in seinen offenen Briefen nicht in erster Linie Analyse und Kritik zur Aufgabe gemacht. Vielmehr will er ein Verständnis dessen erschließen, was vor allen Ideologien und politischen Programmen Grundlage einer ethischen Haltung des Menschen bildet. Er möchte "Sozialismus wieder als Utopie herstellen", ihn aus der Umklammerung von Totaltheorien lösen und seinen Orientierung suchenden jungen Adressaten gegen die Fehlleitung durch ideologische Dogmen wappnen. Sozialismus leitet er ab aus einer "Position jenseits der bloßen Gerechtigkeit als die urkommunistische Position der menschlichen individuellen Freiheit, der spontanen Solidarität und Verbindung der Menschen gegen Widerwillen, Neid, Haß, Unrecht, Vergewaltigung".

Von seinen antidogmatischen Prämissen ausgehend, kritisiert er den historischen Materialismus als zu einseitig ökonomisch und zu ausschließlich deterministisch. Sein Verhältnis zu Marx ist ambivalent, dessen Bedeutung im Prozeß der menschlichen Befreiung sieht er in der konsequenten Vertiefung und Ausbreitung der alten Ideen auf das Wirtschaftsgebiet, doch habe er in allem versagt, was darüber hinausgeht. Wir sind nicht nur Rädchen im dialektischen Getriebe der Geschichte, sondern können wissen und dann auch verändern. Andererseits beschränkt sich Döblin bei der Charakterisierung des Nationalsozialismus auf kaum mehr als ein paar unzureichende Schlagworte. Im Jahr 1931 war es für Döblins Wiederherstellung einer Utopie des Sozialismus als prozeßhaft wachsende Kraft zum Widerstand viel zu spät. Dennoch löst "Wissen und Verändern!" wie kaum ein anderer Text der deutschen Literaturgeschichte das Anliegen ein, eine Art geistiges Fundament zu legen, von dem aus für jedes Individuum die hinter populistischem Lärm versteckten Machtstrukturen wieder sichtbar würden, um sich dann erst auch politisch gründlich neu zu positionieren, so Niemann. Sich damit und mit Heinrich Manns Essayistik der 20er Jahre in der Gegenwart auseinanderzusetzen wäre beim derzeitigen Stand der gesellschaftlichen Dinge ein gar nicht zu überschätzender Gewinn, würden deren Argumente öffentlich diskutiert, wenn es denn jetzt nicht auch schon wieder zu spät dafür ist.


Auf dem Podium - Foto: © 2018 by Schattenblick

Enno Stahl
Foto: © 2018 by Schattenblick


Peter Weiss und die "Ästhetik des Widerstands"

Wie Enno Stahl darlegt, fokussiert der Monumentalroman die Strukturen und Kämpfe der Arbeiterbewegung in der Zeit zwischen 1937 und 1945. Insbesondere wirft Peter Weiss die Frage auf, wie politischer Kampf und ästhetische Betrachtung in ein produktives Verhältnis gebracht werden können. Dies demonstriert er von Beginn an paradigmatisch, indem er eine sprachlich aufs Äußerste verdichtete Beschreibung und Deutung des Pergamon-Altars hin aufs Weltgeschehen wendet. Betrachtet und diskutiert wird das antike Relikt von einigen bildungshungrigen Arbeitersöhnen, unter denen sich reale Personen befinden, wie die von den Nationalsozialisten als Mitglieder der Schulze-Boysen/Harnack-Gruppe ermordeten Hans Coppi und Horst Heimann. Der Roman wird von zahlreichen Personen bevölkert, die es wirklich gegeben hat, dem Berliner Sozialarzt Max Hodann etwa oder Bertold Brecht, die Weiss auch persönlich kennengelernt hat. Bei der Arbeit am Buch hatte der Autor intensiv über kommunistische Widerstandskämpfer geforscht, Überlebende oder Angehörige interviewt, um den Realismus der Darstellung zu erhöhen, wie er in seinen Notizbüchern verrät. Er versucht jedoch nicht, diese Personen getreu ihrem realen Vorbild zu rekonstruieren: "Ich benutze die authentischen Namen im Roman als Chiffre." Es sind vorrangig literarische Figuren, die den Bedeutungsabsichten des Romanrealismus unterworfen werden. Weiss: "Hier ist die Rede von einer Ästhetik, die nicht nur künstlerische Kategorien umfassen will, sondern versucht, die geistigen Erkenntnisprozesse mit sozialen und politischen Einsichten zu verbinden, kämpfende Ästhetik." Der Roman will demgemäß einen eigenständigen Beitrag zum Klassenkampf leisten.

Weiss stellt den kommunistischen Widerstand dar, der in der Bundesrepublik bis heute im Schatten des Gedenkens an den Widerstand der Weißen Rose oder den der Offiziere steht. Das Buch liefert zudem Material zu einer Geschichte des spanischen Bürgerkriegs aus Sicht deutscher Brigadisten und wirft immer wieder Schlaglichter auf die Situation der Linken in Schweden. Der Text ist in seinem Duktus ein fast kassandrahafter Monolog, jedoch in umgekehrter Prophetie als deutende Rückschau, die zu bewerten versucht, was bestimmte Ereignisse und Erscheinungen zu bedeuten hatten, wo welche Fehler gemacht wurden. Woher rührte die katastrophale Fehlbewertung der politischen Situation Anfang der 30er Jahre? Hohe Arbeitslosigkeit, eine ungeheure Schwächung der Kampfkraft des Industrieproletariats. Die unselige Sozialfaschistenkampagne der KPD und der Kommunistenhaß der Mehrheitssozialisten lähmten die Arbeiterbewegung. Dem weitaus mächtigeren Feind, dem Kapitalismus, war so nicht beizukommen. Er ist jederzeit in der Lage, durch eine weltweite Krise eine entzweite Arbeiterschaft zu entmachten. "Die Leiter der Arbeiterparteien, verblendet in ihrer Uneinigkeit, gaben dem Imperialismus noch einmal eine Frist, daß er sich erholen und rüsten könne zur höchsten Möglichkeit der Ausplünderung, dem Krieg."


Blick vom Förderturm auf Gleisanlagen - Foto: © 2018 by Schattenblick

Infrastruktur der Kohleförderung
Foto: © 2018 by Schattenblick

Die bedrückende Hinrichtungsszene der Schulze-Boysen/Harnack-Gruppe ist im Roman so etwas wie das Menetekel der Arbeiterbewegung. Bald wird der Nationalsozialismus besiegt sein, doch sogleich folgt die nächste Konfrontation im Kalten Krieg: "Nicht von unten, vom Willen der geprüften Menschen her, sondern von oben, von den Zentralen der mächtigen Sieger würde die Entwicklung bestimmt werden. Wir würden sehen, wie der Sozialismus erbaut wurde, dort wo es keine Bereitschaft dafür gab, wo finstere politische Rückständigkeit herrschte, während in den Ländern, in denen die kommunistischen Parteien erstarkt und die Bevölkerung auf seiten der antifaschistischen Kräfte stand, der Boden für den Einzug der Streber und Spekulanten bereitet wurde." Mit dieser neuen Weltordnung sei die revolutionäre Bewegung entscheidend geschwächt worden. Mit den Faschisten wurde Nachsicht geübt, sie wurden als Verbündete gebraucht. Ihr Ziel war das gleiche gewesen, das der Westen jetzt verfolgte. Das Hinterland war gesäubert worden von denen, die gegen den Faschismus gekämpft hatten.

Dennoch ist für Weiss die Arbeiterbewegung noch lange nicht am Ende: "Und wenn es auch nicht so werden würde, wie wir es erhofft hatten, so änderte dies doch an den Hoffnungen nichts. Die Hoffnungen würden bleiben, die Utopie würde notwendig sein, der Drang zum Widerspruch, zur Gegenwehr würde nicht erlahmen." Zum Anfang des Buches zurückkehrend, deutete Weiss in einer geschichtsphilosophischen Metapher den im Fries Pergamon-Altars dargestellten Kampf um in den Widerstand der unterdrückten Massen "gegen die Gewalten, die ihnen immer wieder nehmen wollten, was sie sich erkämpft hatten". Der Kampf ist nicht vorbei, er wird nie vorbei sein, das ist die Botschaft der "Ästhetik des Widerstands", so der Referent.


Blick aus der benachbarten Ausstellung zur Geschichte des Bergbaus - Foto: © 2018 by Schattenblick

Lange Fluchten des Vergessens und der Erinnerung
Foto: © 2018 by Schattenblick

Während das Buch von seiten der bürgerlichen Presse Ablehnung erfuhr und vielfach als Gesinnungsästhetik abgetan wurde, debattierte die Linke das Werk trotz und wohl auch wegen seiner gegenüber dem Staatssozialismus nicht unkritischen Haltung sehr lebhaft. Eine Art Katalysatorfunktion hatte dabei wohl die von Wolfgang Fritz Haug mitinitiierte Berliner Volksuni, wo das Buch in zahlreichen Literaturkreisen und Diskussionsrunden behandelt wurde. Überall in Deutschland interessierten sich kritische Geister dafür, insbesondere im Kontext der sogenannten Vergangenheitsbewältigung. Carl-Henrik Hermansson, langjähriger Vorsitzender der KP Schwedens, richtete 1982 einen Studienkreis zur "Ästhetik des Widerstands" für Gewerkschaftsfunktionäre ein und erfaßte die Ergebnisse systematisch: Dieser Roman mache deutlich, "wie wichtig es für die unterdrückte Klasse ist, sich Wissen zu verschaffen, um die Privilegien der Herrschenden aufzuheben". Der Betriebsratsvorsitzende der Tageszeitung Svenska Dagbladet zog folgendes Resümee: "Ich glaube, es wird ein Teil von einem ersehnten notwendigen Widerstand gegen all das, was der Gewerkschaft ständig von innen droht: Bürokratie, Gleichgültigkeit, Autoritätsglaube, Korporatismus, Feigheit und mangelnder Aufruhrgeist." Was kann sich ein Autor mehr wünschen, als daß seine Literatur nicht nur für ihre ästhetische Gelungenheit geschätzt wird, sondern darüber hinaus einer politischen Praxis unmittelbare Bezugspunkte stiftet, so Enno Stahl.

Dann fährt er ernüchternd fort: Doch das ist Schnee von gestern. Die Frage muß jetzt sein, was man heute daraus lernen kann. Birgt dieses Werk eine Sprengkraft, die weiterhin nutzbar zu machen wäre? Wie können wir daran anknüpfen, eine Literatur zu schaffen, die in ähnlicher Weise Stoff für kritische Auseinandersetzungen böte, die noch dazu geeignet wären, in politische Praxis überführt zu werden? Unter den aktuellen Bedingungen scheine das eher schwierig, denn die eindeutige Klassenlage, die es Weiss möglich machte, so konsistent von der Bewegung der Ausgebeuteten zu sprechen, stelle sich inzwischen sehr viel komplexer und verworrener dar. Konfliktlinien finden sich nicht nur zwischen Arbeitnehmer und Kapital, sondern zwischen Billigjobern und Inhabern lukrativer Normalarbeitsverhältnisse, Freelancern und Stammpersonal. Die soziale Unsicherheit, die Prekarität durch unklare, befristete oder deregulierte Beschäftigungsverhältnisse zieht sich quer durch alle Schichten. Zwischen der Lage der türkischen Putzfrau im Niedriglohnsektor und der eines Uniwissenschaftlers mit einem entsprechend dem Tarif entlohnten Zeitvertrag klafften Welten. Wer würde heute Peter Weiss lesen und daraus Motivation für das eigene politische Handeln schöpfen? Er selbst hat eine Antwort gegeben: Es ist das Prinzip der Kunst, etwas zu tun, obgleich die Umstände dagegen sind. Nach Auffassung des Referenten müsse es darum gehen, in Literatur und Politik Koalitionen zu schmieden, wo jetzt noch vielfältig facettierte Widersprüche dominieren, darin Linien der Hauptwidersprüche aufzuzeigen und daran entlang Bewegung zu sammeln.


Auf dem Podium - Foto: © 2018 by Schattenblick

Stefan Schmitzer
Foto: © 2018 by Schattenblick


Zu den "Freibeuterschriften" von Pier Paolo Pasolini

Stefan Schmitzer arbeitete anhand der "Freibeuterschriften" - direkt an das Publikum gerichteten Texten aus den späten 60ern und frühen 70ern - Pier Paolo Pasolinis These von einer noch einschneidenderen gesellschaftliche Umwälzung als der des Faschismus heraus. Sie bringt demnach natürlich gewachsene Alltagskulturen der Subproletarier, Kleinbauern und Proleten zum völligen Verschwinden und mit ihnen auch die schiere Möglichkeit zu artikulierten Klassenstandpunkten. An ihrer Stelle bleibt eine mediale Variante bürgerlichen Bewußtseins übrig, die sich selber verkennen muß. Der Unterschied zwischen Faschisten und Antifaschisten sei sekundär geworden. Vorstufen dessen, was wir heute Popkultur oder Gegenkultur nennen, erscheinen als Vorboten Thatchers und Reagans als Wegbereiter der völligen Durchsetzung liberaler Marktideologie durch die identitäre Konsumierbarmachung individuell antikapitalistischer Haltungen. Die ersten Hippies demonstrierten, daß sie nicht zu den Hungerleidern, diesen unterentwickelten Habenichtsen, diesen zurückgebliebenen Barbaren gehörten. Wir sind Bankangestellte, Studentensöhne der Neureichen, wir kennen Europa, wir haben Bücher gelesen, wir sind Bürger. Unsere langen Haare beweisen, daß wir Privilegierte auf der Höhe der Zeit sind. Die langen Haare deuten also rechte Inhalte an. Pasolini beklagt in seinen letzten Jahren einen Zustand, in dem "Rechte und Linke körperlich eins geworden sind".

Die ästhetischen Rezepte des Autors, der die repressiv-tolerante Konsumgesellschaft als das Neue aufkommen sieht, wenden sich dem behaupteten älteren Natürlichen zu. Er betont das gesellschaftlich Vermittelte seiner Figuren und inszeniert eben jene Unterschiede, die er in dem Moment schwinden sieht. Künstlerischer Realismus ist hier die Rekonstruktion fragmentierter oder gar im Erlöschen befindlicher Vergangenheiten entgegen einem gesellschaftlich dominanten Narrativ.

Der Kapitalismus beansprucht die Integration aller Lebensbereiche, setzt die Bourgeoisie mit der Menschheit insgesamt gleich. Im Prozeß der Vereinzelung und Desolidarisierung wurden die vollends bürgerlich ideologisierten Subproletarier der Selbstverantwortlichkeit ausgeliefert. Die Wirklichkeit der Alltagskultur ist vorbewußt als Ideologie mit Generationen von Körpern verwachsen, die Sprache der globalen Kultur beginnt zu leben wie damals die Kultur der Kleinbauern und Proletarier lebendig schien. Da nun das Ende der Geschichte wirklich geglaubt wird, so daß sich Geschichte wieder zaghaft regen könnte und solidarische Perspektiven auf der Höhe der Produktionsmittel oder Sprachmittel nicht auszuschließen sind, ist eine Rückbesinnung auf jene multiplen und widersprüchlichen Vergangenheiten zu beobachten, von denen Pasolini im Moment ihres Untergangs geredet hat.


Blick auf den Förderturm von den Gleisanlagen aus - Foto: © 2018 by Schattenblick

LWL-Industriemuseum am Standort Dortmund
Foto: © 2018 by Schattenblick

Doch geschieht dies auf Betreiben und in der Rhetorik der Rechten, die auf eine wesentliche Differenz zum liberalen Mainstream mit seiner in Plastik erstarrten bürgerlichen Massenkultur beharren, aber autoritär gewendet als Identität ohne materielles Korrelat wie Volk, Natur, Sexus, Religion und Heimat. Bei ihrer Rückeroberung der Differenz zu Gender, faulen Künstlern und Islam können sich die Rekonquistadores des Beifalls beim Publikum sicher sein. Dieses hat in Jahrzehnten der Ununterscheidbarkeit der Konkurrenten und der unausgesetzten Drohung, aussortiert zu werden, sehr gut gelernt, im Abweichler und Nonkonformisten bei Sexualität, Habitus und selbst Vokabular wieder seinen Feind, den Privilegierten, den Parasiten zu erkennen, so der Referent.

Wie geht die ästhetische Sphäre mit diesem Angriff auf eine Alltagskultur und eine lebendige Sprache um, aus der heraus Emanzipatorisches zu formulieren wäre? Die soziale Welt, die man mit den erlernten und geläufigen Mitteln realistisch schildern kann, löst sich auf. An ihre Stelle tritt ein karrikaturhafter und über jedes für möglich gehaltene Maß hinaus grausamer Idiotenzirkus oder vorsätzlicher Ignorantenstolz. Die Menschen handeln massenhaft gegen ihre Interessen im Sinne jenes bürgerlichen Individuums, das sie ohnehin nie ganz sein durften. Wie gehen wir um mit einer Wiederkehr voneinander getrennter Milieus, nun aber als Farce jener Identitäten und wahnhafte Volkstumsfetische? Im Sinn der faktisch dominanten identitären Diskurse ist es nicht möglich, den Zusammenhang zwischen einem Moment und dem nächsten, einer Ebene des Gesellschaftsganzen und der anderen literarisch zu erfassen. Machen wir es wie Pasolini damals und beharren auf der Totalität der angegriffenen Lebenswelt, wie der Autor auf der Fragmenthaftigkeit des Italiens der 50er Jahre? Halten wir am Solidaritätsanspruch der bürgerlichen Welt fest und machen ihn insoweit wahr, wie er gegen Identität und Autoritätsgeschwätz der Neufaschisten gestellt werden kann? Was hieße das ästhetisch, von welchem Menschen spräche man so und zu wem?, hat Stefan Schmitzer ein ganzes Bündel weiterer Fragen im Köcher.


Auf dem Podium neben Stefan Schmitzer - Foto: © 2018 by Schattenblick

David Salomon
Foto: © 2018 by Schattenblick


Überlegungen zu "Ausweitung der Kampfzone" und "American Psycho"

David Salomon hatte sich um das Jahr 2000 in Marburg gemeinsam mit Kommilitonen in einem Workshop unter dem Titel "Das Unbehagen in der Postmoderne" auch mit Michel Houllebecqs Debütroman "Ausweitung der Kampfzone" und "American Psycho" von Bret Easton Ellis auseinandergesetzt. Beide Romane seien damals als Beschreibungen einer spezifisch neoliberalen Form von Entfremdung interpretiert worden, als Schilderung der sich zumindest den Protagonisten der Romane als alternativlos darstellenden sozialen Realität. Sowohl die exzessive Benennung der Designerlabels beinahe jedes erwähnten Kleidungs- oder Möbelstücks bei Ellis als auch die bei Houllebecq ausgeführte These der Parallelität sexuellen und wirtschaftlichen Erfolgs schienen tendenziell die Herrschaft kapitalistischer Verwertung über alle gesellschaftlichen Lebensbereiche zu beschreiben. Beide Autoren stehen für eine Literatur, die den Neoliberalismus in Form einer Kulturkritik dar- und bloßstellt.

In den nachfolgenden Überlegungen ging es Salomon darum, beide Romane weniger als Ausdruck literarischer Analyse oder Kritik eines bestimmten Zeitgeists, sondern stärker als Rekonstruktion einer klassenspezifischen Problematik zu deuten. Patrick Bateman, der Serienkiller bei Ellis, ebenso wie der namenlose Ingenieur und Dramatiker bei Houllebecq, interessierten ihn als Verkörperungen spezifischer sozialer Lagen im neoliberalen Kapitalismus der später 80er und frühen 90er Jahre. Sie stehen geradezu exemplarisch für eng mit dem postfordistisch-neoliberalen Kapitalismus verbundene Klassenfraktionen der oberen Mittel- und unteren Oberschichten, für die ein antikapitalistischer Impuls die eigene ökonomische Existenz radikal in Frage stellen würde.

Ellis' Roman spielt im New York der späten 80er Jahre und stellt eine schillernde Yuppie-Welt aus, in der wirtschaftlicher Erfolg nicht nur zum guten Ton gehört, sondern selbstverständlich zu sein scheint. Der Protagonist faßt seine materielle Situation selbst im doppeldeutigen Satz zusammen: "Ich bin reich - Millionen sind es nicht." Die Inhalte der Arbeit an der Wall Street sind für Bateman Mittel und nicht Zweck seines Handelns. Gezeigt wird ein sorgloses Leben in einer Spaßgesellschaft, die im wesentlichen aus Besuchen in teuren Restaurants, Mode, Fitneß und Gütern der Kulturindustrie besteht. Allein, auch Spaß ist nicht Zweck des Handelns. Jedes einzelne Element des Vergnügens, der Zerstreuung, des Konsums erweist sich selbst wiederum als bloßes Mittel zur Anpassung an die Normen der Umgebung und Selbstbehauptung im Statuskampf.


Eingang mit Jugendstilelementen - Foto: © 2018 by Schattenblick

Portal zur Maschinenhalle
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Die Figuren des Romans bewegen sich permanent in der völligen Sinnentleerung, unfähig selbst dazu, sich als heteronom bestimmte, als unfreie zu erfahren oder zu empfinden. Wie sehr sie hierbei bloße Charaktermasken sind, wird in der Erzählung immer wieder dadurch gezeigt, daß sich Figuren verwechseln oder anderen ähnlich sehen, also maximal austauschbar erscheinen. Das einzige, was Bateman von den übrigen Personen seiner Umgebung zu unterscheiden scheint, ist seine Mordlust. Daß hierbei nicht restlos geklärt bleibt, ob es sich um reale Taten oder Gewaltphantasien handelt, gehört zum Verwirrspiel, das Bateman mit seiner Umgebung treibt. Letztlich vermag ihn auch das scheinbare Doppelleben nicht auszufüllen. In der Sinnlosigkeit des Tötens und Quälens reproduziert er nur die Leere seines übrigen Stils. Wie die Markennamen sind auch die Tötungs- und Foltertechniken bloße Surrogate für einen fehlenden Sinn, letztlich für Scheitern der Subjektiviät, die ihr eigenes Scheitern vor sich selbst im Kannibalismus zu verschleiern sucht und am Ende doch in Lethargie und Depressionen verfällt.

Weit entfernt davon, ein gelingender Individualismus oder Hedonismus zu sein, erscheint der Neoliberalismus als radikale Zerstörung auch des Individuums. Bateman und die Seinen sind weder fähig zur Selbstbeherrschung noch dazu, als Klassensouverän über andere Klassen zu herrschen, die ihnen bestenfalls in Gestalt von Bettlern oder in Form von besonders erfolgreichen Repräsentanten ihres eigenen Schlags begegnen. Nicht zufällig ist eines seiner Leitmotive die Ikone Donald Trump, für Batemann der Inbegriff des Erstrebenswerten.

Die Welt, die Houllebecq in "Ausweitung der Kampfzone" enthüllt, ist auf den ersten Blick eine gänzlich andere. Der namenlose Ich-Erzähler und seine Kollegen sind weder so schön noch so reich wie die Yuppies in New York. Als Informatiker geben sie Lehrgänge zur Einführung in Computerprogramme für wechselnde Kunden, die sie aus Paris in die französische Provinz führen. Die Illusion, zur herrschenden Klasse zu gehören, ist den Figuren Houllebecqs versperrt. Sie changieren, nicht schlecht bezahlt, doch weit davon entfernt, zu Reichtum kommen zu können, eher im Mittelfeld der Mittelklasse. Und doch verweist der Roman auf ein ganz ähnliches Problem wie der von Ellis. Auch hier versucht ein Protagonist, seine Tage mit Leere zu füllen. Auch hier scheitert ein Subjekt gerade dadurch, daß es eigentlich nichts tut, was den Wertmaßstäben seines beruflichen und alltäglichen Lebens wirklich zuwiderläuft. Wenn Houllebecq seinen Erzähler sagen läßt, "die folgenden Seiten bilden einen Roman, ich verstehe darunter eine Abfolge von kleinen Geschichten, deren Held ich bin", so ist dies nicht einfach nur ein Bruch mit klassischer Poetik des Romans, sondern entspricht zudem genau dem Lebensgefühl eines Protagonisten, der unfähig ist, seinem Lebensvollzug so etwas wie Identität oder Autonomie zugrunde zu legen.

Die Welt des Ich-Erzählers ist ähnlich eintönig wie das Leben Batemans. Er schreibt Tiergeschichten, welche die Sinnlosigkeit der menschlichen Verhältnisse auf den Begriff zu bringen versuchen. Es ist ein intellektueller Ausflug, so etwas wie ein Versuch zur Eroberung von Reflexionsräumen, die allerdings weder Resonanzräumen noch Praxisräumen entsprechen. Auch daran scheitert Subjektivität, ein Scheitern, daß sich bei Houllebecq wie bei Ellis in verschiedenen Stadien vollzieht. Erscheint der Protagonist zunächst unglücklich und zynisch, aber doch insofern souverän, als er das Ungemach der Welt erkannt und seinen Platz darin gefunden hat, so wird der schrittweise Verfall der letzten Reste von Selbstbestimmung dadurch markiert, daß er in die Fänge der Medizin gerät.

Höhepunkt des Romans ist freilich jene Szene, in der der Ich-Erzähler versucht, seinen in Liebesdingen unbeholfenen Kollegen zu einem Abenteuer zu verhelfen. Der Plan scheitert kläglich. Auch das Mädchen, das sich zunächst auf ein Gespräch mit ihm einließ, zieht mit einem anderen von dannen. In dieser Konstellation nähert sich der Ich-Erzähler Bateman maximal an, wenn er versucht, den enttäuschten Kollegen dazu zu bringen, die Frau und ihren Liebhaber zu ermorden. Der Kollege kneift jedoch im letzten Moment und stirbt noch in derselben Nacht bei einem Autounfall, so daß der Mordplan ohne Konsequenzen bleibt.

Ellis und Houllebecq beschrieben beide die Tragödie scheiternder Subjektivität in einer spezifischen Klasse. Sie zeichnen dieses Scheitern nicht bei den Abgehängten oder manifesten Verlierern des Neoliberalismus nach, sondern gerade dort, wo die Anpassung an neoliberale Normen mit einem gewissen Erfolg verbunden ist. Es ist nicht zu weit hergeholt, angesichts der Mordlusts Batemans, die nicht selten auch mit der Verwertung seiner Opfer einhergeht, eine Verbindung von scheiternder bürgerlicher Subjektivierung und Faschismus zu vermuten. Auch Houllebecqs Protagonist ist von solchen Impulsen nicht frei. In beiden Fällen handelt es sich um ein solidaritätsentfremdetes Milieu, das die Erfahrungen eigener Wirkungslosigkeit in ein Oszillieren zwischen Autoaggression und Sadismus zu kompensieren sucht, schließt Salomon seinen Vortrag.


Bei der Diskussion - Foto: © 2018 by Schattenblick

Erasmus Schöfer
Foto: © 2018 by Schattenblick


Kein Grund zur linken Melancholie

Nach einem solchen Parforceritt durch verschiedene Perioden der Klassengesellschaft könne sich leicht linke Melancholie einstellen, so Ingar Solty. Wir rezipieren Theorien der Niederlage, sei es die Frankfurter Schule, Stuart Hall oder Foucault, die sich der Kultur zuwenden, weil sie die Arbeiterklasse integriert wähnen. Die Klasse kämpfe jedoch weiter, auch wenn es sich um demobilisierte Auseinandersetzungen handelt. So zeugten die Kita-Streiks, die IG-Metall-Tarifrunde für eine 28-Stunden-Woche, der Charité-Streik oder die Organizer bei Amazon von anhaltendem Widerstand. Er schlage dennoch vor, weiter in der Geschichte zurück bei Dickens oder der Theoriebildung der Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg nachzuforschen, als sich die Klasse zu organisieren begann.

Wie Enno Stahl einwandte, finde er nichts Schlimmes dabei, sich mit Niederlagenliteratur zu befassen. Auch wenn dies Melancholie auslöse, bleibe die Utopie doch am Leben und die Idee arbeite weiter. Seien es nicht gerade die Stimmen der einzelnen, die die Geschichte überdauern, indem sie von einzelnen gehört und wieder aufgenommen werden? Erasmus Schöfer hielt die Frage für entscheidend, ob der Widerstand erlahme oder nicht. Er könne immer wieder Zeichen aufflammenden Widerstands erkennen und rate Autorinnen und Autoren, diesen gemeinsam darzustellen, um so eine Wirkung in der Gesellschaft zu erzielen.

Zuspruch fand die Anregung aus dem Publikum, sich im Kontext eines postkolonialen Diskurses verstärkt jenen Menschen zuzuwenden, die wie Geflohene keine Stimme haben, jedoch im Sinne eines transnationalen Klassensubjekts einzubeziehen seien. Norbert Niemann verwies auf einige großartige Texte über die Situation geflohener Menschen, die im seit Jahrzehnten formierten Literaturbetrieb ausgeblendet würden. Es herrschte Einigkeit darüber, daß diese Menschen ihre eigene Geschichte schreiben sollten, dabei jedoch unterstützt werden könnten, wie das bereits in manchen Projekten der Fall sei. Wie Stefan Schmitzer warnend anmerkte, würden schreibende Flüchtlinge perfiderweise häufig vereinnahmt und in identitäre Diskurse eingebunden.

Abschließend plädierte Ingar Solty dafür, die semiautobiographische Neigung, aus dem eigenen Milieu heraus zu schreiben, zu überwinden. Die starke Engführung auf urban-akademische Mittelklassen thematisiere die Tragödie des Leistungsträgers und dessen sozialen Abstieg, doch schreibe kaum jemand aus den nach wie vor existierenden Klassenverhältnissen heraus. Es fehle am Austausch mit politisch Aktiven, die in der Arbeiterklasse organisiert und an deren Kämpfen beteiligt sind. Auch werde heute kaum noch darüber geschrieben, was in den Kiezen stattfindet. Er widerspreche der Auffassung, daß die Arbeitermilieus nicht mehr existierten, weswegen man darüber auch nicht mehr schreiben könne. Erforderlich sei vielmehr, den Blick auf neu entstehende Auseinandersetzungen zu richten.


Königskerze vor Förderturm - Foto: © 2018 by Schattenblick

Wachstum gestern und heute
Foto: © 2018 by Schattenblick


Fußnote:


[1] "Laokoon oder Über die Grenzen der Sprache." Rede anläßlich der Entgegennahme des Lessingpreises der Freien und Hansestadt Hamburg am 23. April 1965. In: Rapporte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1968. S. 187.


Berichte und Interviews zum Symposium "Richtige Literatur im Falschen 2018" im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT

BERICHT/071: Richtige Literatur im Falschen - Besinnung auf den Klassenkampf ... (SB)
BERICHT/080: Richtige Literatur im Falschen - Industrieästhetik ... (SB)
INTERVIEW/090: Richtige Literatur im Falschen - getrennt arbeiten, vereint schlagen ...    Hans-Jürgen Urban im Gespräch (SB)


8. August 2018


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