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BERICHT/108: 24. Linke Literaturmesse - Leben dritter Klasse ... (SB)


Unionsbürger genießen zwar die sogenannte Freizügigkeit, ihre Mobilität wird aber durch interne Grenzziehungen eingeschränkt, vor allem durch den Ausschluss von sozialen Rechten. Schon seit 2006 sind EU-Bürger, die alleine zum Zweck der Arbeitsuche aufenthaltsberechtigt sind, etwa von Hartz IV ausgeschlossen. Dahinter steht die Annahme, dass Migration den Sozialstaat bedrohe. Sozialbehörden wie Jobcenter und Familienkassen werden so gewissermaßen zur Grenzpolizei. Nützlichkeitslogiken, wie sie auch im Hartz-IV-System angelegt sind, werden auf die Spitze getrieben: Wer nicht erwerbstätig ist, soll auch keinen Anspruch auf existenzsichernde Leistungen haben. Das führt dazu, dass Unionsbürger, die in Notlagen geraten, oft besonders prekäre Jobs annehmen müssen. So wird der Sozialabbau auf perfide Weise fortgeschrieben und der Niedriglohnsektor weiter ausgebaut.
Lisa Riedner [1]


Ob auf dem Bau, in der Fleischindustrie, in der Logistik, in der Gastronomie oder im Reinigungsgewerbe - all diese Sphären profitieren von einer Unterwelt, welche die öffentliche Wahrnehmung systematisch ausblendet, um sich den Glauben an Recht und Ordnung, deutsche Lebensweise und deren Konsumgenüsse nicht verhageln zu lassen. Daß Menschen ein Leben dritter Klasse führen müssen, das mit "prekär" nur unzulänglich umschrieben ist, damit der Laden Bundesrepublik auch auf unterster Ebene und in den finstersten Ecken läuft, will niemand wissen, verortet man solche Zustände doch vorzugsweise weit weg in fernen Weltregionen, aber keinesfalls inmitten unserer Großstädte.

So bleibt auch die bedrängte Situation von osteuropäischen EU-BürgerInnen in der Bundesrepublik hierzulande weitgehend unbeachtet. Gelegentlich wird zwar skandalisiert, daß irgendwo besonders ausbeuterische Arbeitsverhältnisse und neofeudale Abhängigkeiten herrschten, doch verbucht man sie sogleich als extremen Auswuchs ansonsten korrekter Zustände, die mit dieser Volte nur um so entschiedener gerechtfertigt werden. Und sollte es einmal knüppeldick kommen, bleibt als letzter erbaulicher Trost die Gewißheit, allen Widrigkeiten zum Trotz immerhin ein guter Deutscher zu sein.


"Arbeit! Wohnen! Urbane Auseinandersetzungen um EU-Migration"

Bei der 24. Linken Literaturmesse in Nürnberg stellte Lisa Riedner ihr Buch "Arbeit! Wohnen! Urbane Auseinandersetzungen um EU-Migration" [2] vor, das 2018 in der edition assemblage erschienen ist und auf ihrer Doktorarbeit im Fach Kulturanthropologie beruht. Darin verbindet sie wissenschaftliche Forschung mit ihren Organisierungserfahrungen in München mit einer Gruppe, die sich "Initiative Zivilcourage" [3] nennt, wie auch der Gruppe "Workers' Center". Das aktivistische Engagement begann 2009/2010 in Gestalt einer Zusammenarbeit mit Menschen vor allem aus Bulgarien, die in sehr prekären Verhältnissen leben und arbeiten, vor allem auf dem Bau und im Reinigungsgewerbe. Sie stehen teilweise im Bahnhofsviertel auf der Straße, um dort auf Arbeit zu warten. Der selbstorganisierte Arbeitsmarkt für Tagelöhner, ein "Arbeiterstrich", wie es in den Medien heißt, war der Anfangspunkt ihrer Forschung wie auch der Organisierungsprozesse.

Es begann mit einem Infostand, an dem WerkvertragsarbeiterInnen aus der Türkei über ihre Arbeits- und Sozialrechte in Kenntnis gesetzt wurden. Am selben Ort befand sich der selbstorganisierte Arbeitsmarkt, und so lernten die AktivistInnen Menschen aus osteuropäischen Ländern kennen, die teilweise schon seit vielen Jahren in München lebten, oft obdachlos sind, vielfach undokumentiert arbeiten, häufig von Lohnbetrug betroffen sind und Rassismus sowohl auf der Straße als auch in den Jobcentern und bei verschiedenen Behörden wie auch der Polizei begegnen.

Von 2010 bis heute wird ein bis zweimal in der Woche ein temporäres Workers' Center geöffnet, in dem Menschen einen Freiraum haben, sich einfach aufhalten zu können, ohne gleich Geld ausgeben zu müssen, dabei ins Gespräch kommen und merken, daß individuelle Probleme zugleich kollektive Probleme sind. Sie werden unterstützt beim Einklagen von sozialen Rechten, Vorgehen gegen Diskriminierung und Repression seitens der Polizei. Es wurden Kampagnen organisiert, wie jene gegen das Verbot von Tagelöhnermärkten mit der Initiative "Europa in Bewegung". Wenngleich es nicht gelang, das Gesetzesvorhaben zu verhindern, wurde doch Aufmerksamkeit auf das Thema gelenkt, und verschiedene PolitikerInnen sahen sich genötigt, Statements abzugeben. Zudem hatte die Kampagne einen Organisierungseffekt, weil verschiedene Gruppen zusammenkamen und die Möglichkeit eröffnet wurde, gemeinsam die Arbeit fortzusetzen, so die Referentin.

Weitere Kampagnen richteten sich gegen den Ausschluß vom Kindergeld oder unterstützten den Anspruch auf reguläre Notunterkünfte, die zwar unzulänglich, aber nicht ganz so schlimm wie das Leben auf der Straße sind. In München gab es den Anspruch, in einer sogenannten Kälteschutzeinrichtung untergebracht zu werden, doch wurde er Schritt für Schritt abgeschafft. Es wurden verschiedene Grenzen der Stadtbürgerschaft gezogen, mit denen die Stadt definiert, wer dazugehört und wer nicht. Immer mehr Menschen fielen auch deshalb in Obdachlosigkeit, weil EU-BürgerInnen von Hartz IV ausgeschlossen wurden, also gar keinen Anspruch auf eine menschenwürdige Existenzsicherung mehr hatten, wie sie eigentlich im Sozialstaat vorgesehen ist. Sie fanden sich auf der Straße wieder und wandten sich dann auch an die Stadt, die daraufhin die Grenzen zu dem kommunalen Angebot der Notunterkünfte einschränkte. Gefordert wird nun Erwerbsfähigkeit, das heißt, die Menschen müssen nachweisen, daß sie einen Arbeitsvertrag haben oder Arbeit suchen und Aussicht auf Erfolg haben. Das Kriterium der Staatsangehörigkeit ist demgegenüber zwar nachrangig, aber nach wie vor wichtig, weil deutsche StaatsbürgerInnen Anspruch auf Hartz IV haben und deswegen von den Notunterkünften auch nicht ausgeschlossen werden.


Verschränkung von Wissenschaft und Aktivismus

Die Autorin thematisiert Migration und EU-Bürgerschaft auf kommunaler Ebene in München und untersucht, wie die Stadt Migrations- und Ausgrenzungspolitik betreibt. Sie setzt sich mit aktuellen Debatten um Munizipalismus und Solidarity City auseinander, da wissenschaftlich wie auch in der Bewegung derzeit hervorgehoben wird, daß Städte das Potential haben, inklusiver als Nationalstaaten zu sein, also Menschen willkommen zu heißen und eine progressive Sozialpolitik zu machen. Ohne dies in Abrede zu stellen, führt Riedner doch ein Beispiel an, wie Städte sehr wohl auch repressiv vorgehen können. In bezug auf EU-Migration, also Menschen, die freizügig sind, übernehmen sie vermehrt die Rolle der Grenzpolizei, weil freizügige Menschen an den nationalen Grenzen nicht abgewiesen werden. Grenzen werden zunehmend im Sozialrecht hochgezogen, wenn EU-BürgerInnen nicht erwerbsfähig sind und nicht für nützlich erachtet werden, werden sie zunehmend von sozialen Rechten ausgeschlossen und können, wenn sie nicht erwerbstätig sind, nicht erwerbsfähig sind, keinen Anspruch auf soziale Leistungen haben, die Freizügigkeit verlieren und abgeschoben werden. Es ist wenig bekannt, daß auch UnionsbürgerInnen tatsächlich abgeschoben werden.

Riedner zeichnet die Prozesse der Grenzziehung oder der differenzierten Inklusion, also von Einschluß und Ausschluß, gegenüber UnionsbürgerInnen auf kommunaler, nationaler und EU-europäischer Ebene zwischen 2010 und 2015 nach. Gleichzeitig entwickelt sie eine theorie-analytische Perspektive, indem sie auf verschiedene Begriffe und Debatten Bezug nimmt, die sowohl in der Wissenschaft als auch in den sozialen Bewegungen der Linken relevant sind, wie Ausbeutung und Überausbeutung, Prekarisierung, postliberaler Rassismus, Urban Citizenship, Munizipalismus, Neoliberalismus und verschiedene weitere. Sie versucht also, ganz konkrete Geschichten mit dem Nachzeichnen von politischen Entwicklungslinien und theoretischen Debatten und Analysen zu verknüpfen. Ein Kapitel ist einer feministisch-epistomologischen Perspektive gewidmet, aus der ein Ansatz engagierten aktivistischen Forschens erwächst, der das Wirken im Forschungsprojekt ernst nimmt und sich positioniert. Die Autorin nennt diesen Ansatz "Konflikt als Methode" und geht davon aus, daß er für Ansätze militanter Untersuchung informativ sein könnte, wie es sie in sozialen Bewegungen gibt.

Der Begriff des Tagelöhnermarkts wird dekonstruiert, indem dargestellt wird, was dort tatsächlich passiert, wie das mit diesem Begriff festgeschrieben wird und welche Effekte dieser rassistische Blick hat, der die Tagelöhner als die "anderen" darstellt und ausgrenzt. Wie die Referentin jedoch betont, sei der Tagelöhnermarkt nicht nur eine Ausbeutungstechnologie, sondern auch eine Strategie des Widerstands.

In weiteren Kapiteln des Buches folgen Arbeitsverhältnisse, eine Analyse der Medienberichte und die Sicherheitspraktiken wie Polizei- und Zollkontrollen. Die Autorin geht auf Obdachlosenpolitik und umkämpfte Stadtbürgerschaft, multiple Grenzziehungen und die Aushandlung vor dem Europäischen Gerichtshof ein, bei dem es um den sozialen Anspruch nicht erwerbstätiger EU-BürgerInnen und die Annahme geht, daß Migration den Sozialstaat bedroht. Das letzte Kapitel ist dem Thema Rassismus und Jobcenter gewidmet und stellt dar, wie die Ausländerbehörde immer mehr zu einer Aktivierungsinstanz wurde, deren MitarbeiterInnen mit Abschiebungen drohen, damit Menschen Arbeit finden und sich integrieren. Zum Schluß bindet Riedner die Analysen von München zurück auf aktuelle Entwicklungen in Europa und geht auf den Brexit wie auch die Debatte in der Linkspartei um Nationalprotektionismus ein.


Arbeitskampf von Migrantinnen im Reinigungsgewerbe

Der im Buch beschriebene Arbeitskampf mehrerer bulgarischer Frauen im Reinigungsgewerbe betrifft den Niedriglohnsektor und die migrantisch geprägten Teile des Arbeitsmarktes. Die relative Entrechtung migrantischer Lohnabhängiger schwächt ihre Verhandlungsstärke gegenüber den ArbeitgeberInnen. Dies trifft zwar ganz besonders aufenthaltsrechtlich illegalisierte Personen, doch auch EU-BürgerInnen haben weniger Rechte als InländerInnen. Ihr Zugang zu sozialen Leistungen wird zunehmend erschwert. Bulgarische und rumänische StaatsbürgerInnen durften zudem bis zum 1. Januar 2014 nur mit Arbeitserlaubnis arbeiten, ihre ArbeitnehmerInnenfreizügigkeit war noch eingeschränkt. Die Ausschlüsse von MigrantInnen gehen aber über das Rechtliche hinaus und sind tief in rassistischen Praktiken verwurzelt. Insbesondere die Einsprachigkeit der Behörden in einer mehrsprachigen Gesellschaft führt zu erschwerten Bedingungen. Dazu kommen weitere Formen des institutionellen Rassismus, die MigrantInnen tendentiell schnell des Sozialschmarotzens, der Wegnahme von Arbeitsplätzen etc. verdächtigen. Schon die polizeiliche Anmeldung, die Voraussetzung für ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis, wird EU-MigrantInnen oft verweigert. Es ist aber nicht nur die MigrantInnen betreffende Entrechtung und die rassistische Sonderbehandlung, hinzu kommt eine Reihe politischer Instrumente zur Liberalisierung der Arbeitsmärkte, die allesamt zur einer Verschärfung von Ausbeutungsverhältnissen führen. Der Ausbau des Niedriglohnsektors durch die Förderung von flexiblen Arbeitsverhältnissen in Form von Leiharbeit, Minijobs, Scheinselbständigkeit und Werkverträgen sowie der Abbau von Arbeitsrechten und die neoliberale Umstrukturierung des Sozialwesens zur aktivierenden Workfare-Politik, Stichwort Hartz IV, verunsichern Arbeits- und Lebensverhältnisse, erhöhen Profitspannen und betreffen einen Großteil der Bevölkerung.

In diesem Kontext arbeiteten die bulgarischen Frauen knappe sechs Wochen in einem Münchner Gymnasium als Reinigungskräfte. Sie waren direkt bei einem großen Unternehmen sozialversicherungspflichtig dokumentiert angestellt und putzten Klassenräume, Büros, Toiletten und Gänge. Dabei arbeiteten sie solange, bis die vorgegebene Fläche gereinigt war, und vermerkten die Stundenzahl auf einem Notizzettel. Das Arbeitsverhältnis endete wegen einer Auseinandersetzung um die Höhe der Lohnzahlungen, da das Unternehmen weniger Stunden abgerechnet hatte, als auf den Stundenzetteln vermerkt war. Vereinbart war der tarifliche Mindestlohn von 9,31 Euro pro Stunde brutto. Gezahlt wurde aber nicht pro gearbeiteter Stunde, sondern für eine festgesetzte pauschale Stundenzahl pro Fläche. So wurden an neun Tagen nur vier Stunden abgerechnet, während die Frauen jeweils sechs Stunden notiert hatten. Zudem erhielten sie für die ersten drei Tage und die letzte Woche überhaupt keine Bezahlung, so daß zwei der Frauen von 166 notierten Stunden nur 96 ausgezahlt wurden. Auch die rechtlich zustehenden Zuschläge für Nacht- und Feiertagsarbeit wurden nicht beglichen. Das Unternehmen hatte also unter dem Deckmantel von Probezeit bzw. unbezahlter Vorableistung und durch versteckte Akkordarbeit Lohnkosten eingespart.

Die Frauen ließen sich das nicht gefallen und baten Riedner um Unterstützung, die daraufhin beim Arbeitgeber anrief und das Geld einforderte. Ihre GesprächspartnerInnen wirkten durchweg sehr hilfsbereit und versicherten, sie würden die Angelegenheit klären. Sie schickten die Lohnabrechnungen, auf deren Grundlage Geltendmachungen und schriftliche Zahlungsaufforderungen erstellt wurden. Die versprochene Stellungnahme wurde jedoch Woche für Woche hinausgeschoben, so daß die Frauen schließlich beschlossen, vor Gericht zu gehen.


Zwei Welten vor dem deutschen Arbeitsgericht

Die Passage über die Verhandlung vor dem Arbeitsgericht führt in aller Deutlichkeit vor Augen, daß dort zwei Welten aufeinandertrafen. Es ging um 2374 Euro vorenthaltenen Lohn, auf die vier bulgarische Reinigungsarbeiterinnen ihren ehemaligen Arbeitgeber verklagt hatten.

"Mit einem Mal ging alles sehr schnell. Der Richter legte kurz den Klageinhalt dar und bat den Arbeitgeber um Stellungnahme. Dieser, ein weißer Mann um die 60 Jahre, erklärte mit ruhiger Stimme, er könne sich die Forderungen nicht erklären: "Weil wir nachweisen können, daß wir jede gearbeitete Stunde gezahlt haben." Sein nüchterner und eloquenter Auftritt würde auf mich wohl glaubhaft wirken, wäre ich nicht von der Darstellung der Klägerinnen überzeugt und wüßte, daß ein solcher Betrug gängige Praxis in der Reinigungsbranche ist. Das Verhalten des Unternehmers (...) wurde kontrastiert von Geflüster, Kichern und Handyklingeln im Zuschauerraum. Wir flüsterten uns Kommentare zu über den Unternehmer und die Objektleiterin. Immer wieder versuchte ich mit einigen Worten, das Geschehen zu übersetzen. Dann wandte sich der Richter verärgert an uns im Zuschauerbereich und erklärte, es handele sich um ein Gerichtsverfahren und die Zuhörenden hätten sich still zu verhalten. Ich übersetzte, was er gesagt hatte, und wir verstummten. Erst nach kurzem, abwartendem Schweigen unter dem strafenden Blick des Richters verstand ich, daß er eine Antwort erwartete. Ich sagte in verhalten herausforderndem Ton: "Ja, verstanden", und kam mir dabei vor wie in der Schule.

Im Gegensatz zu unserem offensichtlich unpassendem Benehmen brachte (...) sein kulturelles Kapital ganz im Sinne der impliziten Verhaltensregeln des Gerichtssettings zur Geltung. Er lehnte die Forderungen der Klägerinnen nicht nur rundweg ab, sondern stellte auch mit verschiedenen Mitteln ihre Glaubwürdigkeit infrage. Die Stundenzettel seiner ehemaligen Angestellten nannte er Notizen, die sehr durcheinander sind. Sie hätten zudem den Hausmeister verärgert, weil sie während der Arbeitszeit herumgesessen seien. Dann bezeichnete er sie als verschworenen Familienclan und nannte wie nebenbei ein Beispiel, durch das deutlich wurde, was er inhaltlich mit der Bezeichnung "Clan" verband. Seine Firma hätte eine der Frauen weiter beschäftigen wollen, um ihr noch eine Chance zu geben. Diese habe aber abgelehnt mit der Begründung, sie könne sich ihrer Familie, sprich ihrem Clan, nicht widersetzen, sie müsse sich diesem beugen. Zum Ende der Verhandlung kündigte der Richter entgegen der Ersteinschätzung der Anwältin an, zu einer Beweisaufnahme einzuladen, da keine Einigung in Sicht sei. Er war sichtlich verärgert. Eine der zwei Parteien machte sich hier der Falschaussage schuldig, und er werde nicht zögern, dieses strafrechtlich zu verfolgen. Nach etwa 15 Minuten war der Gerichtstermin beendet.

Danach trafen sich die Klägerinnen, ihre Begleiterinnen und die Anwältin zu einem kurzen Gespräch im Eingangsbereich des Gerichtsgebäudes. Die Anwältin schätzte die Lage sehr kritisch ein, da der Arbeitgeber und die Objektleiterin glaubwürdig aufträten und die Klägerinnen wenig belastbare Beweise hätten. Außerdem hätten wir uns durch unser auffälliges Verhalten im Gerichtssaal beim Richter jetzt schon unbeliebt gemacht. Wenn die Frauen ihre Anklage nicht glaubhafter machen könnten, als der Arbeitgeber seine Verteidigung, müßten sie nicht nur mit einer Niederlage und dem Verlust des ausstehenden Lohns rechnen, sondern gar mit strafrechtlichen Konsequenzen. Die Klägerinnen waren erbost, denn (...) habe dreist gelogen. Er habe sie beleidigt und beschämt. Sie würden die Klage auf keinen Fall fallenlassen."


Kampf um kollektive Strukturen und Handlungsmacht

Die Autorin hatte die Klägerinnen, die sie seit gut drei Jahren kannte, im Rahmen ihrer Tätigkeit für die "Initiative Zivilcourage" beim Gerichtstermin begleitet. Wie sie berichtet, ging diese Beziehung weit über eine beratende und unterstützende Funktion hinaus: "Wir haben in den letzten Jahren zusammen gelacht, getanzt und geweint." Die Frauen halten eng zusammen und unterstützen sich gegenseitig im Alltag. Ihre Wohnverhältnisse schwanken zwischen Obdachlosigkeit und höchst beengten Arrangements, die extrem überteuert sind und nicht selten eine Gegenleistung für Sex und/oder Care-Arbeit für Männer darstellen. Sie arbeiten meist in kurzfristigen Gelegenheitsjobs, die von Perioden der Arbeitssuche unterbrochen sind. Ihr soziales Netzwerk setzt sich vor allem aus alten Freundinnen, Kolleginnen und Verwandten aus Bulgarien zusammen. Der selbstorganisierte Arbeitsmarkt auf den Straßen des Münchner Bahnhofsviertels ist einer ihrer Treffpunkte. "Ich bin voll tiefer Bewunderung für die Frauen, die sich trotz der widrigen Umstände ihren Kampfgeist und ihr Lachen erhalten haben", unterstrich die Autorin.

Gleichzeitig bleibe ihre Beziehung aufgrund der verschiedenen Lebenswelten aber auch eine ungleiche. Die Frauen führen seit Jahren ein transnationales Leben zwischen Bulgarien und Deutschland. Sie sind Anfang der 90er Jahre erstmals nach München gekommen, lebten teilweise illegalisiert, teils bekamen sie über Arbeitsverhältnisse eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis und sind nun als UnionsbürgerInnen freizügig. Ihr Kampf für ein besseres Leben stellt zugleich eine Grundlage der Ausbeutung ihrer Arbeitskraft dar. Ihre Flexibilität und Hartnäckigkeit kann gleichzeitig als Anpassungsfähigkeit, als Widerstand und als Praxis des Escape aufgefaßt werden, die sich nicht nur gegen die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse wehrt, sondern gleichzeitig zu ihr beiträgt.

Während sie Forderungen nach einem selbständigen und abgesicherten Leben und sozialen Rechten erhoben, ließen sie sich in ihren alltäglichen Kämpfen nicht aufhalten. Durch ihre gegenseitige reproduktive Unterstützung im Alltag, ihre Flexibilität bei der Arbeitssuche und ihre territoriale Mobilität erfüllten sie zum einen die unternehmerische Nachfrage nach billiger, flexibel verfügbarer Arbeitskraft, ließen sich aber nicht auf diese reduzieren. Genausowenig erfüllten sie das Wunschbild des EU-europäischen Mobilitätsregimes, in dem mobile UnionsbürgerInnen gut ausgebildet sind und arbeiten, während Personen ohne formelle Ausbildung und Arbeitsplatz in den von Austerität und Krise gebeutelten Herkunftsländern bleiben.

Wenngleich eine operaistische Perspektive stets Gefahr laufe, zu beschönigen und zu romantisieren, und selbst in linken Kreisen ein Verbot des Tagelöhnermarkts teilweise Zuspruch fand, setzten sich die MigrantInnen doch vehement für den Tagelöhnermarkt ein, weil dieser für sie eine Handlungsmöglichkeit darstellt. Er ist die einzige kollektive Struktur in diesen sehr vereinzelten Arbeitsverhältnissen. Die Menschen werden ausgebeutet, können aber nicht vollkommen darauf reduziert werden, sondern haben darin auch Handlungsmöglichkeiten. Es sei nicht zielführend, diese Verhältnisse ausschließlich auf den Raubtierkapitalismus zu reduzieren und den ArbeiterInnen jede Handlungsmacht abzusprechen, betonte Lisa Riedner. Es gehe darum, sich mit diesen Widersprüchen und Konflikten auseinanderzusetzen, wie sie konkret stattfinden.


Fußnoten:

[1] www.jungewelt.de/artikel/353166.ausbeutung-von-eu-binnenmigranten-sozialbehörden-werden-zur-grenzpolizei.html

[2] Lisa Riedner: Arbeit! Wohnen! Urbane Auseinandersetzungen um EU-Migration - Eine Untersuchung zwischen Wissenschaft und Aktivismus, edition assemblage Münster 2018, 368 Seiten, 18,00 EUR, ISBN 978-3- 96042-039-2

[3] www.inizivi.antira.info


Berichte und Interviews zur 24. Linken Literaturmesse in Nürnberg im Schattenblick unter:
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19. November 2019


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