Schattenblick → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT


BERICHT/111: 24. Linke Literaturmesse - Roß und Reiter nennen ... (SB)


Die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen ist in diesem Sinne ein Angebot für gemeinsame Kämpfe. Denn ein Grundeinkommen wird am Ende nur soviel wert sein, wie die Kämpfe, die darum geführt worden sind.
Werner Rätz (im Sammelband "Digitalisierung? Grundeinkommen!") [1]


Fangen wir mit einem Negativbeispiel an. In Finnland bekam eine Gruppe von 2000 zufällig ausgewählten Erwerbsarbeitslosen aus einer Gesamtzahl von 146.000 Personen zwei Jahre lang 560 Euro im Monat als bedingungsloses Grundeinkommen, wobei die Wohnkosten teilweise ausgeglichen wurden. Da die Lebenshaltungskosten dort deutlich höher als in Deutschland sind, lag der ausgezahlte Betrag unter Hartz IV. Forschungsfrage des Projekts war es herauszufinden, was diese Leute auf dem Arbeitsmarkt machen, die keine Bedingungen mehr erfüllen müssen, um dieses Grundeinkommen zu bekommen. Wie wenig Geld man Leuten geben muß, damit sie fleißig Arbeit suchen, lautete im Kern die Fragestellung. Dabei ist erwartungsgemäß herausgekommen, daß sie sehr viel intensiver nach Arbeit suchten als jene, denen man das als Verpflichtung auferlegt hat. Es funktioniert, die Arbeitsverwaltung kann auf diese Weise viel Geld sparen. Es darf nicht so wenig Geld sein, daß die Menschen jede Perspektive verlieren, aber auch nicht so viel, daß sie davon leben könnten.

Die zweifellos drohende Gefahr, daß ein staatlich verordnetes Grundeinkommen solcher Couleur in Verarmung und ein um so schärferes Zwangsregime münden würde, läßt jedoch nicht als einzig konsequenten Schluß eine Absage an das Modell als solches zu. Protagonisten eines emanzipatorischen bedingungslosen Grundeinkommens halten dem entgegen, daß dessen inhaltliche Ausgestaltung darüber entscheide, welchen Interessen damit zur Durchsetzung verholfen wird. Daher lohnt es sich durchaus, die ins Kraut schießende Vielfalt einander ergänzender oder auch widersprechender Konzepte daraufhin zu untersuchen, was die jeweiligen Konsequenzen und welche Forderungen an einen substantiellen Ansatz zu stellen wären.

Um vorab einen Bogen zu schlagen, ließe sich ein bedingungsloses Grundeinkommen nicht als sozialpolitische Ausgleichsmaßnahme, sondern als Menschenrecht denken. Jeder Mensch trägt in irgendeiner Weise zur gesellschaftlichen Produktivität bei, sofern er auch nur annähernd körperlich und psychisch dazu in der Lage ist, und ist damit Teil der Gesellschaft. Begreift man eine den Möglichkeiten einer Gesellschaft entsprechende materielle Absicherung eines jeden Menschen als Menschenrecht, dann ist völlig klar, daß es keine Grundeinkommensmodelle geben kann, die exklusiv sind. Es kann weder ein Grundeinkommen nur für Deutsche geben, noch dauerhaft nur in einem Land. Wenngleich es natürlich Einstiegsszenarien geben wird, die nur erste Schritte auf diesem Weg gehen, müssen sie sich doch an dem menschenrechtlichen Anspruch messen lassen und dürfen ihm nicht von vornherein widersprechen. Deshalb sind einzelne Schritte stets auf ihren emanzipatorischen Inhalt hin zu überprüfen.

Beispielsweise wäre eine Kindergrundsicherung ein solcher Schritt. Gleiches gilt für das Rentenmodell in den Niederlanden und einigen weiteren EU-Ländern. Hingegen würde eine Beseitigung der bisherigen Sozialversicherungssysteme und ihre Ersetzung durch eine Pro-Kopf-Zahlung von 500 Euro, die rein rechnerisch dabei herauskäme, wenn man das Geld der Sozialversicherungssysteme einfach anders verteilt, dem nicht entsprechen. Damit würden viele Leute schlechter gestellt und unter massiven Arbeitsdruck gesetzt. Das käme den Managern des digitalen Kapitalismus entgegen, weil gerade im Clickworking zusätzlich zu den 500 Euro vom Staat zehn Stunden Computerarbeit am Tag ausreichen würden, um gerade noch über die Runden zu kommen. Die Konzerne bekämen ihre Daten, ihre Kunden billige Arbeitskräfte, doch die Empfänger des Grundeinkommens müßten sich von morgens bis abends für ihr Überleben plagen. Das wäre definitiv kein emanzipatorisches Einstiegsmodell.


Buchcover 'Digitalisierung? Grundeinkommen!' - Foto: © 2019 by Schattenblick

Foto: © 2019 by Schattenblick


"Digitalisierung? Grundeinkommen!"

Bei der 24. Linken Literaturmesse in Nürnberg stellte Werner Rätz das Buch "Digitalisierung? Grundeinkommen!" vor, dessen Autor und Mitherausgeber er ist. Der Sammelband ist 2019 in der Edition Kritik und Utopie des Wiener Mandelbaum Verlag erschienen. Rätz war Mitbegründer von Attac Deutschland und gehört dem Koordinierungskreis an. Seine Schwerpunkte sind soziale Sicherungssysteme, Wachstumskritik und Krise des Kapitalismus, wobei er sich schon lange Zeit theoretisch wie praktisch mit dem Grundeinkommen beschäftigt und dazu publiziert hat. Der vorliegende Band stellt eine Deklaration des Grundeinkommens als Antwort auf die Herausforderung der Digitalisierung dar, wobei das Spannungsfeld aus Perspektive eines emanzipatorischen Grundeinkommens untersucht wird.

Die vielfältigen Bewegungen und Ansätze für ein Grundeinkommen sehen sich seit 2015 und in jüngerer Zeit verstärkt mit Stellungnahmen aus den Führungsetagen des globalen digitalen Kapitalismus zugunsten eines bedingungslosen Grundeinkommens konfrontiert. Timotheus Höttges von Telekom hatte in Deutschland Ende Dezember 2015 damit angefangen, die Silicon-Valley-Manager folgten 2016/2017, Ray Kurzweil von Alphabet Google, Elon Musk von Tesla und eine ganze Reihe mehr, auch große Investoren, die weltweit mit sehr viel Geld unterwegs sind. Man konnte sich des Eindrucks kaum erwehren, daß die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens im Silicon Valley geboren sei. Diese Situation fordert natürlich Menschen heraus, die in einer emanzipatorischen Bewegung verankert und als politisch aktive Menschen in der Grundeinkommensszene aktiv sind. Wie viele andere Gruppen hat auch die Attac AG "Genug für alle" immer gesagt, daß das Grundeinkommen eine Richtungsforderung ist. Also eine Vorstellung, die zeigt, wohin sich soziale Politik entwickeln könnte und müßte, daß es sich dabei aber nicht um eine Idee handelt, die hier und heute in ihrer Vollständigkeit umgesetzt werden kann. Ein bedingungsloses Grundeinkommen kann eine emanzipatorische Idee sein, zumindest wenn es die Kriterien erfüllt, die sich die internationale Grundeinkommensbewegung dafür gegeben hat: An Individuen als bedingungsloses Recht vergeben, ohne Nachweis, daß man arm ist, und vor allem in ausreichender Höhe. Denn von der Höhe hängt ab, ob man Zumutungen zurückweisen kann, denen man sich freiwillig nicht stellen will, sowohl im privaten Bereich wie im Erwerbsleben, hob der Referent hervor.

Wenn nun die Manager des digitalen Kapitalismus erklären, daß ein Grundeinkommen notwendig sei, weil die Gesellschaft gespalten ist und man nicht weiß, was man mit den Armen machen soll, muß die Linke darauf eine Antwort finden. Die Attac AG hat ihren Diskussionsansatz anderen Gruppen vorgestellt, und sowohl im Deutschen Netzwerk Grundeinkommen als auch bei den parteinahen Netzwerken der Linken, der Grünen und der Piraten gab es großes Interesse daran. In einem Arbeitszusammenhang aus diesen politischen Hintergründen wurde im Mai 2018 in Frankfurt eine Veranstaltung mit dem Titel "Digitalisierung? Grundeinkommen!" durchgeführt, die der Auseinandersetzung mit dieser durch die Manager des digitalen Kapitalismus geschaffenen Situation gewidmet war. Sie haben einen tagespolitischen Druck in die Debatte gebracht, nachdem es zuvor in der Diskussion um das Grundeinkommen im wesentlichen um die unterschiedlichen Vorstellungen gegangen war, was ein Grundeinkommen leisten soll und ob man kleine Teilschritte tatsächlich in politischen Tageskämpfen unterbringen kann. Bei dieser Tagung entstand das sogenannte Frankfurter Manifest, das wie auch die dort gehaltenen Referate im Buch enthalten ist.


Beim Vortrag am Tisch - Foto: © 2019 by Schattenblick

Werner Rätz
Foto: © 2019 by Schattenblick


Aus dem Frankfurter Manifest

Im Frankfurter Manifest heißt es: "Wir verteidigen keineswegs die Arbeit der Menschen gegen die Maschine. Kapitalistische Erwerbsarbeit ist nichts Erstrebenswertes, jeder Teil davon, den uns die Maschinen abnehmen, ist ein weiterer Schritt ins Reich der Freiheit." Es ging also nicht darum, wie häufig in der Digitalisierungsdebatte zu fordern, daß die Arbeitsplätze der Menschen erhalten werden sollen. Allerdings müssen die Menschen ökonomisch abgesichert werden. Untersucht man die bestehenden Arbeitsverhältnisse, so befördert die Digitalisierung im Ergebnis ganz besonders prekäre Formen von Soloselbständigkeit, Honorararbeit, Clickworking und ähnlichem. Zugleich würde ein Grundeinkommen als bloße Geldzahlung die destruktiven Kräfte des kapitalistischen Marktes nicht lindern. Wird man mit einem hohen Grundeinkommen auf dem Markt alleingelassen, während es keine anderen Sozialsysteme und keine öffentliche Infrastruktur mehr gibt, ist ein Grundeinkommen, von dem man sich alles, was im Leben einmal wichtig sein könnte, kaufen muß, keine angenehme Veranstaltung.

Zudem galt es zu prüfen, welche Funktion das Grundeinkommen hat, wenn man es auf die gesellschaftliche ökonomische Realität bezieht, also die Produktivität einer Gesellschaft, die über das hinausgeht, was Menschen an Erwerbsarbeit leisten, da auch Abläufe im Reproduktionsbereich dazu gehören. Und nicht zuletzt läßt die Digitalisierung sowohl erahnen, wie man eine gemeinsame Wissensproduktion digitaler Güter erstellen kann als auch, wie eine digitale Produktion und Vernetzung überhaupt anders stattfinden, also dazu beitragen könnte, wirkliche Bedarfe festzustellen und gesellschaftliche Planung auf einer Ebene realer, artikulierter Bedürfnisse zu organisieren, und damit auch einen Aspekt haben könnte, der ökologisch vorteilhaft wäre. Dabei wird stets betont, daß es anders sein könnte, denn real ist die Digitalisierung, wie sie heute stattfindet, ein Projekt des großen Kapitals und kein emanzipatorisches.


Emanzipatorisches Moment kommt nicht von allein

Das Thema Digitalisierung und globale Kapitallogik wird in einem Kapitel von Lisa Spelge und Timo Daum genauer untersucht. Dabei wäre als Ausblick anzumerken, daß die Daten nicht verschwänden, würden Geschäftsmodelle auf der Basis des Privatbesitzes an Daten unterbunden. Es müßten also öffentliche Modelle des Umgangs mit diesen Daten gefunden werden, und selbst wenn auch das gelänge, hätten die Daten nur dann einen gesellschaftlichen Wert, wenn sie nutzbar und zugänglich wären. Der Umgang mit Daten spielt eine immer größere Rolle im Leben der Menschen und muß deshalb in einer zukünftigen Gesellschaft auf jeden Fall organisiert werden. Dabei könnte das Grundeinkommen als eine Form der Absicherung insofern eine Rolle spielen, als es den Menschen Kopf und Zeit freihielte zu prüfen, wie sie in dieser Datenwelt unterwegs sind und wie sie das gestalten wollen, so Rätz.

Bedingungsloses Grundeinkommen müßte eine emanzipatorische Wirkung haben, und die hat es nicht von allein. Wie Ronald Blaschke in seinem Text "Grundeinkommen - was ist das eigentlich?" schreibt, ist das GE deswegen emanzipatorisch, weil es allen Menschen die Freiheit von fremder Herrschaft und Freiheit zur Selbstbestimmung und Fähigkeit zur Entwicklung zugesteht. Diese Universalität sei die höchste Form menschlicher Solidarität, weil sie jedem Menschen Freiheit gewähre. Blaschke versucht auf dreierlei Weise, unterschiedliche gesellschaftliche Sphären zusammenzudenken. Inklusive Sozialsysteme in einer modernen öffentlichen Wohlfahrt müßten eine umfassende BürgerInnenversicherung für Gesundheit, Pflege und Altersversorgung, öffentliche gebührenfreie Infrastruktur inklusive Dienstleistungen für spezifische Förderstrukturen und ein bedingungsloses Grundeinkommen umfassen. Dieses wird also eingebettet in ein System gesellschaftlicher Solidarität und öffentlicher Infrastruktur gedacht. Er fragt zweitens nach der Form, wie man eine universelle Produktivität denken muß, wobei Lohn- und Erwerbsarbeit die eine Ebene ist. Doch Menschen leisten auch in großem Umfang unbezahlte Sorgearbeit sowie Ehrenamt oder bürgerschaftliches Engagement. Ein Grundeinkommen würde dazu führen, daß man im Rahmen dieser unterschiedlichen Tätigkeiten tatsächlich die Wahl hätte, wie man sich dort positioniert und darin auch verändern kann. Zusammengedacht müßte universelle Produktion und Nutzung digitaler Güter so organisiert sein, daß sie alle Individuen, also das ganze Gemeinwesen erfaßt, daß sie das überall tut und daß sie das jederzeit tut.

Aspekte dieses Ansatzes, was ein emanzipatorisches Grundeinkommen leisten müßte, werden auch von Jörg Reiners erörtert, der sich damit beschäftigt, wie und warum das bedingungslose Grundeinkommen der politischen Linken, aber auch der Linkspartei das Utopische zurückgeben könnte. Er moniert, daß es in der Linken keine gemeinsame Vorstellung von Utopie mehr gebe, während das bedingungslose Grundeinkommen ein Element der Wiedergewinnung der Utopie sein könne. Margit Appel beschäftigt sich mit der Frage, was Emanzipation mit Geschlechterverhältnissen zu tun hat und was das Grundeinkommen dabei für eine Rolle spielt.


Digitalisierung der Arbeitswelt

Der zweite inhaltliche Schwerpunkt des Buches ist die Frage der Arbeit. Wolfgang Strengmann-Kuhn vom Grünen-Netzwerk Grundeinkommen, sowie Philipp Frey und Sebastian Sevignani, zwei junge Wissenschaftler aus Freiburg und Jena, gehen der Frage nach der Gestaltung gesellschaftlicher Arbeit nach. Strengmann-Kuhn faßt seine Einschätzung so zusammen: Die Digitalisierung ist kein Naturereignis, sondern von Menschen gemacht. Die Frage, ob die Chancen oder Risiken überwiegen, ist nicht dem Zufall überlassen. Der Prozeß der Digitalisierung kann von Menschen gestaltet werden und zwar so, daß letztlich die Gefahr begrenzt und die Chancen genutzt werden. Diese Behauptung widerspricht jenen alarmistischen Einschätzungen wie der Studie Osbornes, die öffentlich so interpretiert worden ist, daß in den nächsten zehn Jahren knapp 50 Prozent der Jobs wegfallen würden. Frey und Sevignani haben diese Studie gründlich auseinandergenommen und sagen, Digitalisierung sei eine Entwicklung der Produktivkräfte menschlicher Tätigkeit, die auf den Aspekt der Informatisierung setzt. Wissen und Erfahrungen werden zu Informationen reduziert, von ihrem Kontext abgelöst und dadurch zwischen Menschen teilbar. Menschliche Erfahrungen können dadurch schnell weitergegeben werden, auf informationeller Ebene modifiziert und mit anderen in Form von Daten und Informationen vorliegenden Wissensbeständen kombiniert und integriert werden und zwar unter Umgehung einer erneuten aneignenden Rückbeziehung auf die sich zwischenzeitlich verändernde Erfahrungswelt. Es geht also darum, daß Informationen die Erfahrungswelt der Menschen darstellen. Sie werden aber in einer Form von dieser Erfahrungswelt gelöst, daß die Verbindung nicht mehr erkennbar ist. In dieser neuen Form als isolierter Datenbestand lassen sie sich mit anderen Wissensbeständen aus der menschlichen Erfahrungsgeschichte kombinieren.

Dieser Ansatz wird in mehreren Texten diskutiert. Frey und Sevignani weisen den Prozeß der Digitalisierung und Informatisierung als einen Vorgang aus, der einzelne Tätigkeiten, die bisher von Menschen gemacht worden sind, durch maschinelle Tätigkeiten ersetzen kann. Es ist kein Prozeß, der Berufe, Arbeitsfelder und Menschen ersetzt und er läßt sich so gestalten, daß er ganze Arbeitsbereiche verändert und völlig neu strukturiert, was in sehr verschieden Richtungen gestaltet werden kann. Sylvia Honsberg, die Bundesfrauensekretärin der IG Bau, Agrar und Umwelt, geht auf das Thema Gewerkschaften ein, Heinz-Jürgen Hörster auf Bildung, Dagmar Paternoga auf Gesundheit, Julia Schramm nimmt zur Gestaltbarkeit der Digitalisierung Stellung: "Dabei ist doch die Digitalisierung kein Hexenwerk und birgt viele Chancen für eine gerechte Gesellschaft."


Fragen sozialökologischer Transformation

Welche Transformationsmöglichkeiten hin zu einer gerechteren Gesellschaft wären mit der Digitalisierung verbunden und was kann das Grundeinkommen dabei für eine Rolle spielen? Steffen Lange und Tilmann Santarius gehen dieser Frage der sozialökologischen Transformation nach und erörtern, was dort die wesentlichen Schritte wären. Ein Block identischer Interviews mit den drei Politikerinnen Katja Dörner (Grüne), Katja Kipping (Die Linke) und Simone Lange (SPD) beantwortet jeweils drei Fragen zur digitalen Transformation. Katja Dörner: "Selbstverständlich gibt es eine Vorstellung von Gestaltungsaufgaben gerade und besonders mit Blick auf Digitalisierung und die damit verbundenen Chancen und Herausforderungen. Das würde ich auch für die Mehrheit der PolitikerInnen behaupten. Leider haben die Bundesregierungen der letzten Jahre wichtige Zeit verschenkt, und es gibt weiterhin keine vernünftige Koordination mit Blick auf die Digitalisierung. Insbesondere was die soziale Sicherung betrifft, kann ich keinen Veränderungswillen bei der Großen Koalition erkennen, da sind die gesellschaftlichen Debatten um einiges weiter." Katja Kipping. "Nimmt man die Versprechen der Demokratie ernst, dann sollten die Bürgerinnen und Bürger entscheiden. Die Praxis sieht oft anders aus. Diejenigen, die sich einflußreiche Lobbyisten leisten können, und große Plattformen mit faktisch monopolartiger Stellung haben deutlich mehr Einfluß. Wer mehr Demokratie, wer wirklichen Einfluß der Bürgerinnen und Bürger möchte, muß auch bereit sein, die Macht der Lobbyisten und Konzerne radikal einzuschränken." Simone Lange: "Sowohl Digitalisierung als auch bedingungsloses Grundeinkommen bedürfen klarer Konzepte mit klaren Aussagen, wessen Interessen damit künftig gestärkt werden sollen. Ein bedingungsloses Grundeinkommen als leicht zu nutzende Abstellprämie von ArbeiterInnen, damit Konzernvorstände ihre Gewinnmaximierung vorantreiben können, lehne ich ab. Ich wünsche mir ein Grundeinkommenskonzept, das Umverteilung realisiert und die Vermögensgüter unserer Gesellschaft gleichmäßiger verteilt. Deshalb ist es zwangsläufig notwendig, neben der Umgestaltung der Einkommensströme gleichzeitig auch für die Umgestaltung der Vermögensverteilung zu sorgen, oder kurz gesagt, ein Grundeinkommen ersetzt nicht die politische Verpflichtung, durch entsprechende Steuerpolitik für Vermögensausgleich zu sorgen."

Das Buch schließt mit einem Beitrag von Werner Rätz: "Digitalisierung? Grundeinkommen! - das ist eine Notwendigkeit, die erklärt werden muß."


Wie soll das Grundeinkommen finanziert werden?

Die Finanzierungsfrage kommt unvermeidlich, weil man sich ein Grundeinkommen auf Anhieb nicht vorstellen kann. Rätz hob indessen hervor, daß man je nach Finanzierungsmodell höchst unterschiedliche Ergebnisse bekommt. Man könnte, wie Götz Werner es vorschlägt, alle direkten Steuern abschaffen und nur eine Mehrwertsteuer auf sämtliche Waren erheben, um davon das Grundeinkommen zu finanzieren. Das wäre sozial höchst ungerecht, weil die deutlich steigende Mehrwertsteuer die ärmeren Leute relativ höher belastet. Dieses Problem könnte man aber mit unterschiedlichen Hebesätzen lösen: Wichtige Gebrauchsgüter für alle steuerfrei, teuere Konsumgüter wie eine Hochseejacht 1000 Prozent. Einzuwenden bleibt dennoch, daß man die Vermögensverteilung, die im Unterschied zum Einkommen über gesellschaftliche Macht entscheidet, darüber nicht ändern kann. Mit diesem Finanzierungsmodell verliert man also jegliche Instrumente, darauf Einfluß zu nehmen. Eine Finanzierung über Ökosteuer wäre in einzelnen Elementen möglich, komplett hätte man jedoch den alten Zielkonflikt, ob man möglichst hohes Steueraufkommen oder möglichst hohe Steuerungswirkung erzielen möchte. Ein weiterer Ansatz wäre, jedes Einkommen zu besteuern und daraus das Grundeinkommen zu finanzieren. Allerdings hätte dann jeder das Gefühl, daß seine Steuern höher als das Grundeinkommen sind, obwohl das nicht stimmt. Vor allem aber würden je nach Modell 10 bis 25 Prozent der Bevölkerung damit belastet, das Grundeinkommen für alle zu finanzieren, und sich folglich mit Händen und Füßen dagegen wehren. Denkbar wäre, die Hälfte aus den Unternehmensgewinnen zu finanzieren. Dann werden die Unternehmen jedoch versuchen, ihre Gewinne dort zu verbuchen, wo es kein Grundeinkommen gibt. Je nach Finanzierung sind also die Wirkungen vollkommen verschieden, und das muß konkret diskutiert werden, forderte der Referent.

Daß genug Reichtum in dieser Gesellschaft da ist, um alle Menschen anständig zu versorgen, dürfte unstrittig sein. Die Frage der Finanzierung ist folglich jene, welche politischen Konflikte man führen will und welche man sich auch zu gewinnen zutraut. Es gelte zu diskutieren, von wem man dieses Geld haben will, weil es seine gesellschaftliche Macht zu beschränken gilt. Unsere Antwort: Zur Hälfte aus den Unternehmensgewinnen und zur anderen aus sämtlichen Einkommen, die es in diesem Land gibt, nach dem Prinzip der Bürgerversicherung, das heißt vom ersten bis zum letzten Cent werden Beiträge auf die Einkommen bezahlt, so der Referent.


Ein Angebot für gemeinsame Kämpfe

Wie Werner Rätz abschließend unterstrich, wird das Grundeinkommen nicht eines schönen Tages plötzlich vom Bundestag beschlossen, vielmehr muß es Schritte in Richtung einer Verwirklichung geben, um die man kämpfen kann: Kindergrundsicherung, gut ausgebaute Gesundheitsversorgung, öffentliche Mobilität - dafür treten viele Menschen ein, die mit dem Grundeinkommen nichts am Hut haben. Es ist jedoch ein Angebot, diese konkreten Schritte gemeinsam zu gehen auch mit denen, die am Ende gar nicht bei einem Grundeinkommen landen wollen. Die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen ist in diesem Sinne ein Angebot für gemeinsame Kämpfe. Denn ein Grundeinkommen wird am Ende nur soviel wert sein, wie die Kämpfe, die darum geführt worden sind. Wird es uns geschenkt, erfüllt es diese Voraussetzung nicht. Ein Einzelhändler wie Götz Werner hat neben seiner persönlichen ethischen und moralischen Motivation, die gar nicht in Abrede gestellt werden soll, natürlich auch ein unternehmerisches Interesse daran, daß die Leute viel Geld in der Tasche haben, um bei ihm kaufen zu können. Sein Modell würde diese Interessen umsetzen. Ein Grundeinkommen, das uns die Digitalmanager schenken, würde deren Interessen umsetzen. Wenn es aber unsere Interessen umsetzen soll, müssen wir es erkämpfen, so Rätz.

Was in der Diskussion um das bedingungslose Grundeinkommen wie beim gesamten Diskurs um einen Transformationsprozeß letztendlich auf der Strecke bleibt, ist die Frage gesellschaftlicher Macht und Verfügungsgewalt, die mit Verweis auf Vermögensverhältnisse allenfalls marginal gestreift wird. Wie das Zwangsinstrument Hartz IV zeigt, geht es nicht nur um Verelendung und Ausgrenzung für überflüssig erklärter Menschen, sondern nicht minder um deren Kontrolle in einem Sanktionsregime, das entschiedenem Widerstand den Zahn ziehen soll. Die Klassengesellschaft läßt sich nicht ökonomistisch auf eine Frage ungleicher Verteilung reduzieren, bleibt die Konsolidierung und Fortschreibung der Herrschaft doch das zentrale Moment dieser gesellschaftlichen Verhältnisse, die umzuwälzen das Zwangsarsenal des Gewaltmonopols auf den Plan ruft. Der erhoffte schrittweise Übergang in eine bessere Gesellschaft bleibt daher ein Konzept, das es mit aller gebotenen Skepsis auf den Prüfstand zu stellen gilt.


Fußnoten:


[1] Werner Rätz, Dagmar Paternoga, Jörg Reiners, Gernot Reipen (Hg.): Digitalisierung? Grundeinkommen!, Mandelbaum Verlag Wien 2019, 200 Seiten, 14,00 EUR, ISBN: 978385476-685-8


Berichte und Interviews zur 24. Linken Literaturmesse in Nürnberg im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT:

BERICHT/098: 24. Linke Literaturmesse - kritisch schreiben kritisch lesen ... (SB)
BERICHT/099: 24. Linke Literaturmesse - schließlich die geballte Faust ... (SB)
BERICHT/100: 24. Linke Literaturmesse - nicht einfach nur ein Klassenkampf ... (SB)
BERICHT/101: 24. Linke Literaturmesse - Verbotsopportunismus ... (SB)
BERICHT/102: 24. Linke Literaturmesse - türkische Motive ... (SB)
BERICHT/103: 24. Linke Literaturmesse - fehlt nur das Recht auf das Völkerrecht ... (SB)
BERICHT/104: 24. Linke Literaturmesse - Berufsverbote gestern und heute ... (SB)
BERICHT/105: 24. Linke Literaturmesse - fremd, schwach und verdrängenswert ... (SB)
BERICHT/106: 24. Linke Literaturmesse - zur Protestkundgebung gegen den Deutschen Genderkongress ... (SB)
BERICHT/107: 24. Linke Literaturmesse - nicht zurückzudrehen ... (SB)
BERICHT/108: 24. Linke Literaturmesse - Leben dritter Klasse ... (SB)
BERICHT/109: 24. Linke Literaturmesse - der bewaffnete Kampf in Griechenland ... (SB)
BERICHT/110: 24. Linke Literaturmesse - Berlin, die Stadt der Häuserkämpfe und Wohnungsnöte ... (SB)
INTERVIEW/122: 24. Linke Literaturmesse - ein 68er erinnert sich ...    Thorwald Proll im Gespräch (SB)
INTERVIEW/123: 24. Linke Literaturmesse - vereint gegen Klimafolgen und System ...    Klara Beck und Alina Nüßing im Gespräch (SB)
INTERVIEW 124: 24. Linke Literaturmesse - Edition Mezopotamya ...    Martin Birkner im Gespräch (SB)
INTERVIEW/125: 24. Linke Literaturmesse - Türkei und Kurdistan von unten ...    Max Zirngast im Gespräch (SB)
INTERVIEW/126: 24. Linke Literaturmesse - Dialektische Infragestellung ...    Gunnar Schedel im Gespräch (SB)
INTERVIEW/127: 24. Linke Literaturmesse - altes und neues anarchisches Selbstverständnis ...    Kura und Peter im Gespräch (SB)
INTERVIEW/128: 24. Linke Literaturmesse - deutsche Rapgeschichte von davor ...    Kutlu Yurtseven im Gespräch (SB)
INTERVIEW/129: 24. Linke Literaturmesse - ob ich zum Kampf geboren bin ...    Michael Csaszkóczy im Gespräch (SB)
INTERVIEW/130: 24. Linke Literaturmesse - die Konfrontation setzt sich fort ...    André Scheer im Gespräch (SB)
INTERVIEW/131: 24. Linke Literaturmesse - die rechte Sicht auf Frauenpower ...    Paul B. Kleiser im Gespräch (SB)
INTERVIEW/132: 24. Linke Literaturmesse - Straße frei für morgen ...    Peter Wahl im Gespräch (SB)
INTERVIEW/133: 24. Linke Literaturmesse - es gibt das Problem der Männergewalt ...    Lena Becker im Gespräch (SB)
INTERVIEW/134: 24. Linke Literaturmesse - Widerspruchstheoreme ...    Lisa Riedner im Gespräch (SB)


26. November 2019


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang