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INTERVIEW/031: Dürer und seine Zeit - im Aufbruch muß kein Abbruch liegen ...    Klaus-Rüdiger Mai im Gespräch (SB)


Klaus-Rüdiger Mai über die Rolle der Religion in Europa, seine neue Dürer-Biographie, die gegenwärtige Umbruchsituation und die Notwendigkeit einer neuen Universalität

von Christiane Baumann


Krimis, Sachbücher, Biographien geschrieben aus der Feder eines Autors, geht das? Und ob, der Schriftsteller und Historiker Klaus-Rüdiger Mai bringt alle diese Genres unter einen Hut. Unter dem Pseudonym Sebastian Fleming veröffentlicht er seine historischen Romane, als Nicholas Lessing seine Lambertini-Krimis. Aber das ist noch nicht alles. Mai hat jahrelang als Theaterregisseur gearbeitet, ist nach wie vor als Autor für Film und Fernsehen tätig, aber auch für Radio und Zeitung spitzt er gern die Feder. Universalität kann durchaus als sein Anspruch formuliert werden. So nimmt es nicht wunder, dass er nach seinem Erfolgsbuch "Die Bachs" über die bekannte deutsche Musikerfamilie und seiner viel beachteten Luther-Biographie sich mit seinem neuesten Buch Albrecht Dürer, dem "Universalgenie der Deutschen" [1], nähert.

Christiane Baumann sprach mit Klaus-Rüdiger Mai, der im brandenburgischen Dabendorf als freier Schriftsteller lebt. [2]


Porträt des Autors Klaus-Rüdiger Mai - Foto: © by Olivier Favre

Klaus-Rüdiger Mai alias Sebastian Fleming alias Nicholas Lessing: ein Autor mit vielen Facetten
Foto: © by Olivier Favre


Schattenblick (SB): Herr Mai, Sie haben dieser Tage für Ihren 2013 erschienenen Essay "Lob der Religion" den "Holländischen Preis für das beste religiöse Buch 2015" erhalten, der von einer Jury mit dem Präsidenten der Katholischen Universität Leuwen an der Spitze vergeben wird. Welche Bedeutung hat dieser Preis für Sie?

Klaus-Rüdiger Mai (KRM): Den Essay zu schreiben, lag mir am Herzen, weil ich in ihm pointiert Analysen, Betrachtungen und Überlegungen zur Religion darlegen kann. Auslöser für den Essay war eine Taxifahrt, während der ein geschwätziger Fahrer mir von Richard Dawkins "Gotteswahn" vorschwärmte. Die Arroganz und das erstaunlich niedrige Niveau der Argumentation in diesem Buch verblüfften mich. Dawkins zitiert Douglas Adams: "Genügt es nicht zu sehen, dass ein Garten schön ist, ohne dass man auch noch glauben müsste, dass Feen darin wohnen?" Warum soll ich aber, fragte ich mich, meiner Tochter und ihren Freundinnen den Glauben an Feen nehmen? Deshalb schrieb ich den Essay. Und so finden Sie in der Widmung des Buches, weshalb mir der Essay am Herzen und im Verstand liegt: "Gewidmet meiner Tochter und den Kindern ihrer Klasse, ihrer Schule, allen Kindern, auf dass wir nicht im rasenden Egoismus ihre Zukunft vernichten." Alle europäische Geschichte vor dem 20. Jahrhundert lässt sich nur erzählen, wenn man den Stellenwert der Religion würdigt. Ohne die Kenntnis des Christentums bleiben uns weite Gebiete des Lebens, der Kultur, besonders der Literatur, Musik, bildenden und darstellenden Kunst in Europa verschlossen. Deshalb hat es mich sehr interessiert, nicht als Theologe, der ich ja auch nicht bin, sondern als Historiker, über die Bedeutung der Religion in der Geschichte nachzudenken. In Zeiten des Wandels ist eine kulturelle Erinnerung notwendig, weil sie die Not wenden könnte. Kultur ist die Art und Weise, wie wir leben. Dass dieser Essay ins Niederländische übersetzt wurde, war eine große Freude und Ehre für mich, der Preis ist es überdies.

SB: Das Buch ist ein nachdrückliches Plädoyer für den Glauben. Sie sind Historiker, kennen Wege und Irrwege der Kirchen- und Religionsgeschichte sehr genau. Dennoch insistieren Sie, dass Religion heute mehr denn je gebraucht wird, warum?

KRM: Was wir unter Europa verstehen, findet seinen Grund im Christentum. Als das Römische Reich unterzugehen drohte, weil ihm ein integrativer Wertekanon abhanden gekommen war, wurde das Christentum Staatsreligion und sicherte dem Reich noch weitere zwei Jahrhunderte die Existenz. Dass nach dem Untergang Roms sich in Europa eine neue Gesellschaft herausbildete, lag nicht zuletzt am Christentum, das zum einen die Kontinuität bot, zum anderen Europa verrechtlichte. In den Klöstern erfolgte die Übertragung des antiken Wissens. Ein anderer Weg, auf dem antikes Wissen nach Europa kam, nahm in Konstantinopel seinen Ausgang. Durch das Unionskonzil von Ferrara/Florenz (1438/39) und die Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen 1453 kamen griechische Gelehrte und in ihrem Gepäck viele Texte nach Europa. Es verwundert daher nicht, dass ausgerechnet in Venedig die erste Druckerei entstand, die Editionen griechischer Philosophen brachte, denn dort existierte zugleich die größte Exilgemeinde der Griechen. Den Anfang der Aufklärung sehe ich in Luthers "Von der Freiheit eines Christenmenschen". Von hier führt der Weg zu Descartes und zu Kant, zur Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Um es kurz zu sagen: ohne Christentum keine Aufklärung, keine Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte, keine moderne Wissenschaft und Technik. Was die Verbrechen der Kirche betrifft, existiert hierüber viel Unkenntnis. Kirche war immer Kirche zu ihrer Zeit, das heißt so, wie allgemein in der Zeit gehandelt wurde, wurde auch im Namen des Glaubens gehandelt. Weltliche Feudalherren unterschieden sich nicht von Kirchenfürsten. Glaubensverfolgungen finden wir auch im Islam. Die zeitgenössischen Muslime nannten die Kreuzfahrer Franken, denn sie sahen sie in erster Linie als Konkurrenten im Kampf um Macht und Territorien, und die Allianzen in den Kreuzzügen liefen oft nicht entlang der Konfessionsgrenzen. Jerusalem war eine jüdische und dann auch eine christliche Stadt, bevor sie von den Muslimen erobert wurde. Die Entwicklung im Islam und im Christentum weisen bis ins 15. Jahrhundert viele Parallelen auf. Das Mittelalter ist universell. Erst in der frühen Neuzeit trennen sich West und Ost. Man muss aufpassen, dass man in der Beurteilung der Kreuzzüge nicht einem Mythos des Orientalismus aufsitzt, der politisch inzwischen gern benutzt wird. Europa hat sich nicht gegen, sondern aus dem Christentum entwickelt. Verachten wir das Christentum, verachten wir uns. Ein modernes Europa, das aus seiner reichen Tradition und Kultur lebt, wird es ohne Christentum nicht geben. Diejenigen, die das Christentum für überflüssig halten und sich aufgeklärt dünkend auf die Religion Europas herabschauen, erinnern mich an Hans im Glück aus dem bekannten Grimmschen Märchen.

SB: Druckfrisch erschienen ist Ihre Biographie über Albrecht Dürer, in der Sie ungeheuer plastisch die Bedeutung des Glaubens im Alltag der Menschen des Mittelalters beschreiben. Was hat Sie zu Albrecht Dürer getrieben, ein Jubiläum war es ja offensichtlich nicht?

KRM: Dürer fasziniert mich in seiner Universalität, in seinem geistigen und künstlerischen Reichtum, in seinem unbedingten Drang nach Wissen. Das Zeichnen und das Malen werden ihm zu Mitteln, die Welt zu erkennen, ich nenne das im Buch "zur Wahrheit durchmalen". Gleichzeitig steht Albrecht Dürer - und darin unterscheidet er sich von den anderen deutschen Malern - mitten in der humanistischen Bewegung, wird er als einziger Maler von den Humanisten, die ja alles Leute der Feder, also Gelehrte, Literaten und Dichter waren, als Humanist anerkannt. Conrad Celtis, der König der deutschen Humanisten, rühmt Dürer, dass er Philosophie male. Mit den Humanisten steht Dürer an der Wiege einer deutschen Kultur, die sich erstens als deutsche Kultur empfindet und zweitens direkt über die translatio studii et artium, also über die Rezeption und Fortsetzung antiker Wissenschaft und Kunst, den Bogen zum Altertum, zur Antike schlägt. Zudem interessiert mich die frühe Neuzeit, weil gerade in dieser Zeit unsere moderne Welt entsteht, das Paradigma, das nun zu Ende zu gehen scheint. Stand Dürer am Anfang dieser großen Epoche, scheinen wir am Ende dieser Epoche zu stehen. Unsere und Dürers Zeit verbindet der Epochenwechsel, der Paradigmenwechsel. Es ist ein großer Irrtum zu glauben, dass unsere Welt aus der Renaissance entstanden ist. Es scheint viel mehr so zu sein, dass der Universalismus der Renaissance, die Pansophie und die großen Magier beiseite geschoben wurden durch die Reformation und durch den Rationalismus.

SB: Sie haben für Ihr Dürer-Buch einen beziehungsreichen Untertitel gewählt. "Das Universalgenie der Deutschen" spielt auf Leonardo da Vinci an. Da Vinci war Maler, Bildhauer, Architekt, Schriftsteller, Anatom, Mechaniker, was man eindrucksvoll an seinem letzten Wohnsitz im französischen Amboise nachvollziehen kann. Was hat Dürer in dieser Dimension in die Waagschale zu werfen, worauf stützen Sie eine solche Parallelität?

KRM: Dürer ist nicht weniger universell als Leonardo da Vinci, den er übrigens sehr geschätzt hat. Vergleicht man Leonardos und Albrechts Schriften zur Malerei, finden sich erstaunliche Parallelen. Dürer malte, zeichnete, stach in Kupfer, schnitt ins Holz, experimentierte mit der Kaltnadel, er interessierte sich leidenschaftlich für eine wissenschaftliche Proportions- und Perspektivlehre. Er beschäftigte sich mit Waffen und mit der Festungsbaukunst und mit der Architektur. Er besaß ein großes philosophisches Interesse. Überall leistete er Bedeutendes. Nur seine Dichtungsversuche missglückten. Der Maler, der im Bild eine Welt zu erschaffen hatte, war auch ein wenig wie Gott, das heißt im Malen konnte er Gott erkennen, also die Welt und ihr innerstes Prinzip. Der große Unterschied zwischen Leonardo und Albrecht ist der, dass meines Erachtens Leonardo einen analytischen Genius besaß und Albrecht ein synthetisches Genie war.

SB: Uns trennen mehr als 500 Jahre von Dürer. Wie lässt sich angesichts der Tatsache, dass viele Dokumente verlorengegangen sind, ein solcher universeller Ansatz in einer Biografie nachweisen? Oder anders gefragt: Wie viel Spekulation steckt in einer solchen Herangehensweise?

KRM: Spekulation keine, die durch erzählerische Erfahrung gestützte Suche nach dem Leben sehr viel. Es gibt so etwas wie eine Logik des Lebens, Plausibilitäten. Selbst in der rationalsten Wissenschaft existieren metaphysische Momente, Augenblicke der Entscheidung, die immer auch Intuition enthält. Es gibt keinen großen Wissenschaftler ohne Intuition, dafür aber viele kleine, deren Angst vor der Intuition schließlich zum Revisionismus, zum Obskurantismus führt. Im Grunde ist es Angst vor dem Leben. Sie gleichen dem Mann, der plötzlich nicht mehr gehen kann, weil er sich den Vorgang des Gehens nicht vollständig zu erklären weiß. Das Faszinierende an der biographischen Methode ist, dass man erstens den Menschen in der Geschichte findet und man zweitens zu neuen Ergebnissen zu gelangen vermag, indem die detektivische Recherche und Verknüpfung ein neues Lesen der Quellen ermöglicht. Es gibt beispielsweise eine kleine Stelle in Dürers Tagebuch der Niederländischen Reise, die ein neues Licht auf Agnes Dürer wirft und die trotz aller Sekundärliteratur meines Wissens bisher in ihrer Bedeutung verkannt wurde. Bevor ich aber diese Geschichte erzähle, halte ich inne, denn besser als im Buch kann ich diese Episode hier nicht schildern. Mit Schmunzeln gesagt: dem Leser soll noch etwas zur Lektüre bleiben.

SB: Blickt man auf die Fülle an Sekundärliteratur, Monografien und Einzeldarstellungen, die zu Albrecht Dürer vorliegen, so drängt sich die Frage auf, was wir eigentlich über diesen Künstler noch nicht wissen. Ist dabei der Mensch Dürer bislang zu kurz gekommen?

KRM: Ganz grundsätzlich lässt sich natürlich antworten, dass jede neue Zeit sich wieder und wieder mit so bedeutenden Genien wie Dürer oder Luther auseinandersetzen muss. Es bleibt immer etwas Unerschlossenes, weil jede neue Zeit eine andere Fragestellung und einen anderen Blick besitzt. Was ich versucht habe, übrigens auch bei den Bachs und bei Martin Luther, ist, nicht über die Zeit zu schreiben, nicht auf die Zeit und meine Hauptfigur herabzuschauen, sondern die Zeitreise zu wagen, mich in die Zeit zu versetzen, mit meiner Hauptfigur, mit ihren Augen in die Zeit zu schauen. Da wird es wirklich spannend. Und bei einem Maler wie Dürer bekommt das Bild vom Sehen noch eine tiefere und sehr reizvolle Bedeutung.

SB: Sie haben den Anspruch, Dürers Biografie analog zum Bild zu entwickeln, was ja mehrere Seiten umfasst: die Geschichte der bildenden Kunst, die Geschichte der Dürer'schen Bilder, aber auch das, was uns die Bilder erzählen. Für mich sind Ihre Überlegungen und Schlussfolgerungen mitunter verblüffend, aber stimmig. Damit wagen Sie sich, nachdem Sie mit Ihrem Bach-Buch die Musikwissenschaft auf den Plan gerufen haben, auf das Terrain des Kunsthistorikers. War das eine Gratwanderung für Sie?

KRM: Man muss jede Vorstellung und die wissenschaftliche Diskussion ernst nehmen, aber zugleich darf man sich nicht davon einengen lassen. Fachwissenschaftler neigen mitunter dazu, wenn sie eine Biographie verfassen, nicht Leben zu erzählen, sondern eine Aufsatzsammlung zum Thema zu komponieren. Aber das ist es, worum es in einer Biographie geht: Leben erzählen, Leben finden und Leben erzählen. Und um Leben zu finden, sucht man natürlich besonders gründlich, wo Leben geschieht, bei einem Maler in seinen Bildern, bei einem Komponisten in seinen Kompositionen. Doch Vorsicht: Da das Handwerk des Künstlers in der Übersetzung von Wirklichkeit in Wirklichkeit besteht, darf man keinesfalls die künstlerischen Produkte als monokausale Entsprechungen des Lebens ansehen, sondern muss in der Analyse des Kunstwerkes das Moment des Übersetzens mitdenken, den konkreten Vorgang des Übersetzens verstehen. Im Grunde ist es recht einfach: Ich tauche in diese Welt ein, sehe, wo mich die Recherche hinführt und kümmere mich nicht darum, ob ich dabei in einen Widerspruch zum Stand der "neueren Forschung" geraten könnte, denn die neuere Forschung von heute ist morgen bereits die von gestern. Allerdings begründe ich meine Sicht und auch den Dissens, wenn er auftritt. Der Leser soll entscheiden.

SB: Sie spielen in Ihrer Dürer-Biografie hintergründig mit heutigen Wortschöpfungen wie "Migrationshintergrund", wenn sie für Dürers Vater eine "Migration ohne Hintergrund" aufrollen und das Mittelalter als eine Epoche der Mobilität und des Austauschs beschreiben. Das rüttelt an unserem vorgefertigten Mittelalter-Bild. Wie hat denn vor über 500 Jahren Migration funktioniert?

KRM: Über ein fernes Genie kann ich persönlich nicht schreiben, ich muss mir die Mühe machen, mich zu ihm hinzubegeben. Viele Prozesse oder Phänomene, die wir als modern erachten, sind alt und bekannt. Nehmen Sie die Globalisierung. Insgesamt hat es fünf Globalisierungen gegeben. Nehmen sie die Migration. Seit dem es Menschen gibt, wandern sie. Darunter gibt es sehr große Wanderungsbewegungen. Spannend ist, wie die Kulturen damit umgehen. Das Römische Reich hat 500 Jahre überlebt, weil es ein Limes schützte, der übrigens eine hocheffiziente Einrichtung war. Zusammengebrochen ist es, als es keine allgemein geteilten Werte, keine Dynamik mehr besaß und die Achtung vor Recht und Gesetz, die berühmte römische Tugend, nicht mehr galt, als korrupte Eliten zwar in der Lage waren, sich an der Macht zu halten, nicht aber den Staat zu regieren. Die vielbeschworene römische Dekadenz ist eine Dekadenz der politischen Elite. Übrigens habe ich darüber, wie ein erschlaffter Staat durch die Unfähigkeit korrupter politischer Eliten zugrunde geht, als Sebastian Fleming in meine Roman "Byzanz" geschrieben. Wie nun vor über 500 Jahren Migration funktioniert hat, zeige ich an Albrecht Dürers Vater, der ja ein Einwanderer war.

SB: Sie beschreiben zahlreiche Dürer-Werke ausgesprochen plastisch. Ihr Buch ist sehr schön ausgestattet und enthält auch eine Auswahl an Holzschnitten, Kupferstichen und Bildern. Was war Ihnen bei der Auswahl, die ja immer auch Beschränkung bedeutet, wichtig?

KRM: Der Fluch der guten Tat, ja natürlich. Man muss Kriterien aufstellen, um auszuwählen. Ohne Kriterien gerät man in die Konfusion. Aber es bleibt auch mit Kriterien noch ein hartes Abwägen. Dem Verlag bin ich sehr dankbar, dass er das Buch so schön gestaltet hat - und dass wir gemeinsam in der Bildauswahl so weit gegangen sind, wie wir konnten. Die Kriterien, die bei jedem einzelnen Buch und in der Gesamtheit abzuwägen waren, bestanden im Folgenden: erstens wie prominent wird das Bild besprochen und wie leicht oder schwer ist es zugänglich, zweitens: der Leser erwartet zu Recht nicht nur die unbekannteren, sondern auch das eine oder andere sehr populäre Bild, schließlich will man Dürer nicht nur entdecken, sondern auch wiedererkennen und drittens soll auch Verblüffendes dabei sein. Und all das muss im rechten Maße sein.

SB: Ein Buch zu schreiben, ist immer ein Abenteuer. Was hat Sie bei Ihren Recherchen und beim Schreiben selbst überrascht?

KRM: Dürer, der Mensch Dürer, dass der Weg zu ihm auffindbar ist, Agnes Dürer, von der man so wenig weiß, und dennoch, auch hier sind die Wege nicht verschlossen, wie sehr die Welt um 1500 miteinander vernetzt war. Wie viel man doch voneinander wusste. Es ist eine faszinierende Welt, eine offene, freizügige und tolerante Welt, ein Welt, in der Frauen viel mehr Rechte als später besaßen. Diese Welt endet mit der Reformation und der Konfessionalisierung, mit der Neuzeit. In dieser Welt lebte die Chance auch zu einer anderen Entwicklung Europas.

SB: In historischen Romanen wie "Die Kuppel des Himmels" über Donato Bramante, unter ihrem Pseudonym Sebastian Fleming erschienen, der Romanbiographie über Martin Luther "Prophet der Freiheit" und nun auch in Ihrem Dürer-Buch kreisen Sie um die großen gesellschaftlichen Umbrüche am Ausgang des Mittelalters an der Schwelle zur frühen Neuzeit. Worin besteht für Sie das Faszinosum gerade dieser Epoche, das, worüber es sich immer wieder zu schreiben lohnt?

KRM: Erstens in der großen Umbruchsituation, dem großen Paradigmenwechsel und zweitens in der Alternative. Europa stand am Scheideweg, eine andere Entwicklung wäre möglich gewesen. In der Geschichte existiert keine Zwangsläufigkeit, keine Alternativlosigkeit. Geschichte ist eigentlich nur ein anderer Ausdruck für die beständige Auseinandersetzung großer und kleiner Kräfte, das, was man in der Renaissance Fortuna oder Nemesis nannte, je nach dem.


Klaus-Rüdiger Mai überreicht ein signiertes Buch - Foto: © by Günter Krawutschke

Im Ratssaal Fermignano
Foto: © by Günter Krawutschke

SB: Sie haben mit Ihrem Luther-Buch eine in Deutschland zu Unrecht vernachlässigte Gattung, die Romanbiografie, belebt und in die Diskussion gebracht. Beim Dürer lassen Sie die Gattung offen. Dennoch gehen Sie den eingeschlagenen Weg aus meiner Sicht weiter, verknüpfen Sie Biographie und Roman, Authentizität und Fiktion, spielerischer und weisen anders als beim Luther Quellen aus, mit denen Sie sich argumentativ auseinandersetzen, kommentieren. Einerseits also mehr erzählerische Freiheit und andererseits dezidiert ausgewiesene wissenschaftliche Fundierung?

KRM: Im Zen Buddhismus heißt es: Offene Weite - nichts von heilig. Die erzählerische Freiheit ist nicht die trügerische Freiheit des Romanautors, sie ist das Ergebnis wissenschaftlicher Fundierung. Ich habe nichts hinzu erfunden. Alles ist nachprüfbar. Genrebezeichnungen sind etwas für Marketingspezialisten, nicht aber für Schriftsteller. Wissenschaft richtig betrieben, engt nicht ein, sondern befreit. Was wir benötigen, ist eine neue Universalität. Wir sind inzwischen Opfer unseres Expertentums geworden, dessen Expertise sich übrigens immer stärker verringert. Unser Spezialistentum beginnt, uns blind zu machen. Natürlich wird die Welt komplexer, aber umso wichtiger ist es, bei der Untersuchung der Spektralfarbe eines Sterns den Himmel nicht zu vergessen. Dafür gibt es übrigens einen so sehr einfachen wie schönen deutschen Ausdruck: Wir sehen den Wald vor Bäumen nicht mehr. Ich plädiere leidenschaftlich dafür, wieder den Wald vor Bäumen zu entdecken. Komm, ins Offene, sagt Hölderlin.

SB: Da ich passionierte Krimi-Leserin bin, zum Schluss noch eine Frage in eigener Sache: Wann wird der Autor Mai als Nicholas Lessing mal wieder einen Lambertini-Krimi vorlegen?

KRM: Lassen wir uns überraschen! Damit meine ich auch WIR.


Anmerkungen:

[1] Demnächst erscheint im Schattenblick eine Rezension zu Klaus-Rüdiger Mais neuestem Buch "Dürer. Das Universalgenie der Deutschen". Berlin Propyläen-Verlag 2015.

[2] Klaus-Rüdiger Mai:

Werkauswahl:
- 2005 Biographie über Benedikt XVI.
- 2005 Biographie über Michail Gorbatschow
- 2006 "Geheimbünde. Macht, Mythos und Wirklichkeit" (in 12 Sprachen übersetzt)
- 2008 "Vatikan. Geschichte einer Weltmacht im Zwielicht"
- 2008 "Sein Blut komme über uns". Lambertini-Krimi-Reihe (Nicholas Lessing)
- 2009 "Arminius". Roman (Sebastian Fleming)
- 2009 "Und stehe auf von den Toten". Lambertini-Krimi-Reihe (Nicholas Lessing)
- 2010 "Die Kuppel des Himmels". Historischer Roman (Sebastian Fleming)
- 2013 "Die Bachs: Eine deutsche Familie".
- 2013 "Lob der Religion". Essay.
- 2014 "Luther. Prophet der Freiheit"

Mehr Informationen unter:
www.klaus-ruediger-mai.de

23. November 2015


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