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INTERVIEW/055: Leipzig, das Buch und die Messe - bündeln, leiten, messen ...    Thierry Chervel im Gespräch (SB)


Eindruck, Ausdruck, Buchdruck - Impressionen
Leipziger Buchmesse, 17. bis 20. März 2016

Thierry Chervel über einen Versuchsballon, der immer größer wird, das Segeln in kabbeliger See und wodurch den Zeitungen das Wasser abgegraben wird


Wer nach Perlen taucht, braucht einen langen Atem und sehr viel Geduld. Denn längst nicht hinter jeder Muschelschale verbirgt sich das begehrte Objekt. Solch einen langen Atem kann man der Kultur- und Literaturseite Perlentaucher auf jeden Fall attestieren, ist sie doch seit März 2000 im Internet und stöbert und stochert seitdem unverdrossen nach kleinen Schätzen, die sich manchmal irgendwo zwischen zwei Deckeln verbergen ...

Das Suchgebiet ist riesig und erstreckt sich über Feuilletons in den auflagenstärksten Tages- und Wochenzeitungen, Literaturbeilagen, Bücher, Verlagskataloge, die Welt der Blogs und, und, und. Ein Abstecher auf die Seite perlentaucher.de macht den Besucher selbst zum Perlentaucher in einem riesigen Reich vielfältigster Möglichkeiten, sich mit Literatur auseinander- oder, wenn man möchte, sich über sie mit Gleichgesinnten zusammenzusetzen.


Beim Interview - Foto: © 2016 by Schattenblick

Thierry Chervel
Foto: © 2016 by Schattenblick

Zu den Gründern des Perlentauchers gehört neben Adam Cwientzek, Anja und Niclas Seeliger der Musikwissenschaftler und Journalist Thierry Chervel, der "spiritus rector" jener Website, so Andreas Platthaus von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Er moderierte am ersten Tag der Leipziger Buchmesse 2016 eine nachmittägliche Podiumsdiskussion der "Buchbeschleuniger", zu der auch Chervel geladen war. Der Schattenblick berichtete über die Veranstaltung [1].

Seit dem vergangenen Jahr betreibt Chervel den Meta-Blog Lit 21 [2], der sich bemüht, einen Überblick über die deutsche Blogosphäre zu schaffen. "Ein Versuchsballon", so Chervel. Die literarische Öffentlichkeit zersplittere immer mehr in neue Medien, Blogs oder Internetmagazine. Da selbst das Perlentaucher-Publikum, von dem man es eigentlich nicht erwarte, konservativ sei, habe er einen RSS Reader öffentlich gestellt und damit die verschiedenen Quellen gebündelt.

Im Anschluß an die Podiumsdiskussion zum Thema "Literatur zwischen Feuilleton und Blogosphäre" stellte sich Thierry Chervel dem Schattenblick für einige Fragen zur Verfügung.


Schattenblick (SB): Herr Chervel, Sie betreiben seit 16 Jahren die Internetseite Perlentaucher. Was hat sich im Laufe der Zeit gewandelt?

Thierry Chervel (TC): Als wir mit dem Perlentaucher angefangen haben, war Google in Deutschland noch nicht bekannt. Man hatte noch nie etwas von der Form des Blogs gehört, es gab noch keine sozialen Medien. Es gab zwar schon Handys, aber noch keine Smartphones. Das heißt, eigentlich hat sich die gesamte Öffentlichkeit und Medienlandschaft in dieser Zeit revolutioniert.

SB: Und damit auch der Perlentaucher?

TC: Na ja, wir sind ja eigentlich nur eine kleine Jolle, die versucht, den Kurs zu halten, und darauf achtet, daß sie immer eine Handbreit Wasser unterm Kiel hat. Das ist nicht immer einfach. Die Zeiten waren manchmal auch ein bißchen stürmisch. Wir haben von Anfang an versucht, kulturell und intellektuell interessante Inhalte zu bündeln.

SB: Bei der Veranstaltung zu den Buchbeschleunigern wurden Sie als jemand vorgestellt, der einen Meta-Blog zu den unterschiedlichen Quellen der Literaturkritik betreibt. Nach welchen Kriterien suchen Sie bei dem inzwischen riesigen Angebot die Beiträge aus?

TC: Ich hatte gedacht, das wären vielleicht nur 20 bis 30 Quellen, die in Frage kommen, und war tatsächlich erstaunt über die große Zahl an literarisch relevanten Quellen. Inzwischen sind es schon über 100, und es ist bestimmt immer noch ungerecht, weil es sicherlich viele mehr gibt, die interessant sind und gute Artikel über Bücher schreiben. Wir versuchen natürlich, da offen zu sein, und haben keinen besonders ausziselierten Literaturbegriff. Es soll um interessante Bücher gehen.

SB: Ihre Quellen reichen vom traditionellen Feuilleton bis zu Blogs. Haben Sie sich Schwerpunkte gesetzt? Oder wird alles gleichermaßen gesichtet und bewertet?

TC: Das einzige, was wir sozusagen redaktionell gemacht haben, ist im Grunde genommen, nur die Quellen ausgewählt zu haben. Der Feed kommt automatisch. Wir haben uns die Quellen angeschaut, haben dann die Inhaber um Erlaubnis gebeten, daß wir sie aufnehmen und haben losgelegt. Ich möchte da jetzt keinen großen Unterschied zwischen Radiosendern, Zeitungen und einzelnen Bloggern machen. Eigentlich glaube ich, daß das literarische Publikum daran interessiert ist, interessante Texte über Bücher zu lesen - wo sie herkommen, ist relativ egal.

SB: In der Veranstaltung fiel auch das Stichwort "Medienkrise". Das ist sicherlich ein unerschöpfliches Thema. Was ist Ihre Vorstellung, wie es zu der sogenannten Medienkrise gekommen ist?

TC: Die Zeitungskrise ist dadurch entstanden, daß Zeitungen ein bestimmtes Geschäftsmodell hatten, das einerseits auf Verkauf, andererseits auch auf Anzeigen und da besonders auf Rubrikenanzeigen basierte. Zeitungen waren Organisatoren des Marktes, sie organisierten lokale, regionale und manchmal sogar nationale Märkte. Denken Sie nur an die F.A.Z., die bis ungefähr zum Jahr 2000 den Stellenanzeigenmarkt dominierte. Sie hatte jeden Samstag hundert Seiten mit Stellenanzeigen, und eine Seite kostete 30.000 bis 40.000 Euro. Die Rubrikenanzeigen waren eine Art Lizenz zum Gelddrucken. Die Zeitungen waren eine Art Filter, durch die das ging. Dadurch konnten sie die Preise definieren. Durch das Internet mit Ebay, Google, Amazon und so weiter haben sie das verloren. Mit anderen Worten, dadurch ist ganz schlicht und einfach das Geschäftsmodell für Information weggefallen.

Die kommerziellen Fernsehsender dagegen können nicht mit den Zeitungen verglichen werden, weil sie keine Informationsmedien sind. Sie vermitteln Unterhaltung, dafür gibt es nach wie vor ein funktionierendes Geschäftsmodell, das auf Werbung basiert. Aber wiederum Informationsmedien allein auf Werbung basieren zu lassen, halte ich für ein sehr schwieriges Kunststück.

SB: Bei der Diskussion vorhin konnte man den Eindruck gewinnen, daß eine Frage eher vermieden wird: Was macht eigentlich die Qualität von Rezensionen aus? Woran machen Sie fest, ob Sie eine Rezension für gut halten?

TC: Ich fand, das hatte Sieglinde Geisel [3] eigentlich ganz gut gesagt: daß man versucht zu begreifen, was einer begreift. Viele Buchrezensionen sind oft sehr, sehr nacherzählend gehalten, und wenn man den Klappentext gelesen hat, hat man das Gefühl, daß man schon die Hälfte der Kritik gelesen hat. Eine gute Kritik ist eine, die sich auch formal mit einem Buch auseinandersetzt, nicht nur inhaltlich und nicht nur nacherzählt.

SB: Sehen Sie eine Möglichkeit, mit dem Perlentaucher einen zukünftigen Trend und die Literatur zu beeinflussen?

TC: Nein, das glaube ich nicht. Da sind wir bescheidener. Der Perlentaucher versucht, ein bißchen widerzuspiegeln, worüber in der Literatur und Kultur diskutiert und worüber geschrieben wird. Wir haben auch eigene Artikel, damit versuchen wir natürlich, Einfluß zu nehmen. Aber eigentlich nicht direkt auf dem Feld der Literatur. Wir sind eher an Debatten beteiligt - Islamdebatte, Internetdebatte oder ähnliche Themen. Aber wir haben ja sozusagen außer einer Krimikolumne gar keine eigenen Buchkritiken, sondern stellen dar, was die anderen machen, und versuchen, eine Art von Portal zu sein.

SB: Herr Chervel, vielen Dank für das Gespräch.


Viele Menschen und viel Werbung in der riesigen Glashalle, dem zentralen Bau der Leipziger Buchmesse - Foto: © 2016 by Schattenblick

Tauchparadies Buchmesse
Foto: © 2016 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] http://schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbrb0042.html

[2] https://lit21.de/

[3] Sieglinde Geisel, Journalistin und Autorin, die ebenfalls zu der Podiumsdiskussion "Die Buchbeschleuniger" auf der Leipziger Buchmesse geladen war.


Die Berichterstattung des Schattenblick zur Leipziger Buchmesse finden Sie unter INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT:

BERICHT/041: Leipzig, das Buch und die Messe - alte Animositäten ... (SB)
http://schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbrb0041.html

BERICHT/042: Leipzig, das Buch und die Messe - es wächst zusammen, was nie verschieden war ... (SB)
http://schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbrb0042.html

INTERVIEW/048: Leipzig, das Buch und die Messe - der rote Faden Lesespaß ...    Kerstin Libuschewski und Julia Lücke im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbri0048.html

INTERVIEW/049: Leipzig, das Buch und die Messe - zielgeführt und aufgeklärt ...    Christian Linker im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbri0049.html

INTERVIEW/050: Leipzig, das Buch und die Messe - fast nach zwölf ...    Prof. Hans Joachim Schellnhuber im Gespräch (SB)
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INTERVIEW/051: Leipzig, das Buch und die Messe - Klassenbesinnung ...    David North im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbri0051.html

INTERVIEW/052: Leipzig, das Buch und die Messe - Renaissance und Verjüngung ... Steffen Haselbach im Gespräch (SB)
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INTERVIEW/053: Leipzig, das Buch und die Messe - an der Oberfläche ...    Torsten Casimir im Gespräch (SB)
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INTERVIEW/054: Leipzig, das Buch und die Messe - Koloniale Karten neu gemischt ...    Gerd Schumann im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbri0054.html

7. April 2016


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