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INTERVIEW/074: Zukunft, Literatur, Gesellschaft - Kraft der Straße am Reformismus erstickt ...    Christina Kaindl im Gespräch (SB)


Korporatismus hat die Arbeiterbewegung geköpft

Interview am 19. Mai 2016 im Brecht-Haus in Berlin-Mitte


Die Politikwissenschaftlerin und Psychologin Christina Kaindl steht in der Tradition eines an Gramsci orientierten Marxismus. Sie kam über ihr Engagement in politischen Theorie- und Wissenschaftsdebatten zur Rosa-Luxemburg-Stiftung, wo sie der Redaktion der Theoriezeitschrift "Luxemburg" angehört, und ist derzeit Leiterin des Bereichs Strategie- und Grundsatzfragen der Bundesgeschäftsstelle der Partei Die Linke.

Im Rahmen der zweiten Schriftstellertagung "Richtige Literatur im Falschen?" war Christina Kaindl zusammen mit dem Literaturwissenschaftler Armen Avanessian, Herausgeber der akzelerationistischen Reader, Referentin der Auftaktveranstaltung, einer Podiumsdiskussion zum Thema "Futuring oder Akzeleration? Revolutionäre Realpolitik oder forcierte technologische Evolution".

Im Anschluß an die Podiumsdiskussion beantwortete sie dem Schattenblick einige Fragen zu Formen der Herrschaft, der Schwäche der deutschen Linken, Entwicklungsphasen des Kapitalismus und der Bewertung elektronischer Medien.


Vor einer Hinweistafel zum Bertold-Brecht-Archiv - Foto: © 2016 by Schattenblick

Christina Kaindl
Foto: © 2016 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Wir haben heute Abend zum Auftakt der Tagung "Richtige Literatur im Falschen?" viel über Zukunft, Transformation und Technologien gesprochen, aber kaum über Herrschaft. Ist die Herrschaftsfrage vernachlässigt worden?

Christina Kaindl (CK): Ich wollte zeigen, daß sich mit der Transnationalisierung des Kapitalismus auch die Herrschaftsformen verändern - nicht nur technologisch, sondern auch hinsichtlich der Frage, wie Macht und Gegenmacht strukturiert sind. Die Europäische Union z.B. ist eine transnationale oder supranationale Herrschaftsstruktur, die viele Demokratieeffekte ruhigstellt, insbesondere beim "machtlosen" europäischen Parlament und durch Möglichkeiten nicht gewählter Institutionen, in die demokratische Willensbildung einzelner Staaten bis hinein in deren Haushaltspolitik einzugreifen, bei der Flüchtlings"krise" wurde sogar diskutiert, in die Grenzsicherung einzelner Mitgliedsstaaten zu intervenieren. Solche neuen Herrschaftsformen müssen wir in unsere Überlegungen einbeziehen. Das wird oft als "Postdemokratie" angesprochen, ich rede lieber von Aushöhlung der Demokratie, der Entleerung bestimmter demokratischer Institutionen. Oft wird zu wenig beachtet, dass Demokratie nicht nur eine politische Form ist, sondern auch einer sozialen Grundlage bedarf. Der starke Begriff von sozialer Demokratie und Sozialdemokratie drückt das aus, nämlich eine für die Menschen erlebbare soziale Demokratisierung der Verhältnisse zu erreichen. Diese soziale Demokratie ist, wie man an den Zahlen sozialer Ungleichheit leicht ablesen kann, rückläufig.

SB: Deutschland hat eine Vormachtstellung in Europa erlangt, während hierzulande an der sozialen Front Friedhofsruhe herrscht. Welche Entwicklungen haben Ihres Erachtens maßgeblich dazu beigetragen, diesen Zustand der Stärke nach außen und Befriedung im Inneren herbeizuführen?

CK: Geschichtlich hat das - von der grundsätzlichen Unterbrechung linker Traditionen im Faschismus abgesehen - viel mit einem ausgeprägten Korporatismus im Fordismus zu tun, der Organisationen wie die Gewerkschaften oder die Sozialverbände gestärkt, aber gleichzeitig die Kampffähigkeit an der Basis geschwächt hat. Stuart Hall [1] spricht in diesem Zusammenhang davon, daß die Arbeiterbewegung im Korporatismus durch die Integration in ein relativ kompromißfähiges und funktionierendes System - funktionierend in Anführungsstrichen - geköpft worden sei. Dieses System hat nicht nur die Interessen vieler Menschen materiell aufgenommen, sondern auch ihrem verständlichen Interesse Rechnung getragen, sich nicht jeden Tag mit Politik befassen, kämpfen und streiken zu müssen. Auch aus diesem Grund war die Delegation an machtvolle Organisationen für viele Menschen wichtig. Das führte einerseits zu einer Schwächung der Kampffähigkeit und hat natürlich andererseits sehr viel mit genau der Hegemoniestellung Deutschlands zu tun, die vor allem auf die Exportstrategie der letzten fünfzehn Jahre zurückzuführen ist. Es gibt auch heute einen schmelzenden und durch Prekarität stärker durchlöcherten Kern von Belegschaften in der Exportindustrie, die durchaus wissen, daß ein Zusammenhang zwischen der Exportstärke und einer relativen Sicherheit besteht, widersprüchlicherweise also zwischen ihren viel zu niedrigen Löhnen und den Exportvorteilen der Unternehmen, bei denen sie beschäftigt sind. Gleichzeitig würde ich aber den Eindruck der "Friedhofsruhe" nicht teilen. Denn in anderen Bereichen, die nicht im Zentrum der Exportstrategie stehen, bewegen sich viele Menschen: beim Streik der Erzieher_innen, im Einzelhandel, bei den Massenprotesten gegen TTIP usw.

SB: Die Diskussion auf dem Podium kreiste nicht zuletzt um die Frage, ob wir es mit einer Fortsetzung bekannter Formen von Kapitalismus und Verwertung oder mit völlig neuen Formen zu tun haben, die innovative Herangehensweisen erfordern. Wie würden Sie diesen Zwiespalt einschätzen?

CK: Ich bin der Auffassung, daß man die inneren Perioden oder Transformationen des Kapitalismus in dem Sinne ernst nehmen muß, daß es sich für viele Menschen im Neoliberalismus ganz anders als im Fordismus lebt. Zum Teil überdauern die Erwartungshaltungen noch, weil viele Menschen aus der Geschichte des Fordismus die Erwartungen an eine planbare Biographie und an die Vorstellung ableiten, daß es ihren Kindern einmal besser gehen wird. Diese Vorstellungen leben fort, obgleich sie systematisch verletzt werden. Was die Umstrukturierung sowohl der Produktivkräfte als auch der Formen, wie gelebt wird, betrifft, heißt es bei Gramsci, daß die Produktionsweise mit der Lebensweise zusammenpassen müsse und die Veränderung von beiden Seiten kommen könne. Man kann es mit Blick auf die Generation der 68er so sehen, daß damals viele Menschen nicht mehr in dieser sehr ehernen Struktur einer stark segmentierten, fremdbestimmten Arbeit zugunsten von sozialer Sicherheit und Planbarkeit leben wollten. Die Veränderungen des Neoliberalismus und des finanzgetriebenen Kapitalismus haben dann die Planbarkeit auf eine ganz andere Weise enteignet. Die Leute haben sich nicht vorgestellt, daß sie eines Tages nicht mehr wissen, wovon sie im Alter leben wollen. Sie haben sich vorgestellt, daß sie in zehn Jahren vielleicht nicht mehr am Band oder im Büro stehen, sondern etwas ganz anderes machen, das mehr mit Kreativität zu tun hat. Aber das hat nicht geklappt.

SB: Die neuen Kreativen in der IT-Branche transportierten die Hoffnung, sie würden die Welt und alle Verhältnisse ändern. Stattdessen haben sie uns Google und Facebook beschert. Ist die heute Abend vorgetragene Auffassung der Akzelerationisten, man müsse die Algorithmen zu eigenen Zwecken der Gesellschaftveränderung nutzen, unter diesen Voraussetzungen nicht etwas problematisch?

CK: Einerseits bieten die neuen Kommunikationsformen, die Vernetzung, die Entzerrung von Zeit und Raum viele Möglichkeiten. Allein schon die Frage, wie man sich in einem internetmäßig vernetzten Kommunikationsraum gesellschaftliche Planung neu vorstellen könnte, läßt ganz andere Möglichkeiten zu. Wenn wir in der politischen Debatte an Planung denken, kommen bei den Leuten immer sofort Bilder auf, daß es in der DDR zu wenig rote Hosen gegeben oder sonst etwas gefehlt habe.

Anstelle einer Zurichtung des Konsums entlang bestimmter Notwendigkeiten sind heute ganz andere Formen von Demokratisierung, von Bedarfsfeststellung, von Planung vorstellbar. Wenngleich ich mir da nicht so sicher wäre, daß die Algorithmen entscheidend sind, geht es meines Erachtens schon darum, in diesen Formen und Technologien die Widersprüche aufzuspüren und für sich arbeiten zu lassen, um die Dinge vorwärtszutreiben - wobei das natürlich nicht bedeuten kann, auf dem gleichen Pfad immer weiterzumachen, es bedeutet nicht, ein emphatisches Verhältnis zu diesen technischen Entwicklungen zu haben. Mit den Widersprüchen arbeiten setzt voraus, dass wir nicht glauben, dass die neuen Technologien von allein die Welt besser machen werden. Walter Benjamin schreibt, dass aller Fortschritt in der Katastrophe gründet. Wir können uns also nicht einfach auf den Fortschrittsglauben draufsetzen. Die Veränderungen müssen die Strukturen der Gesellschaft insgesamt erreichen und verändern - nicht nur die technologischen.

SB: Könnte man die Frage nach einer wünschenswerten Zukunft dahingehend stellen, was alles auszuschließen ist, weil man es nicht haben möchte?

CK: Aber wie löst man das Demokratieproblem, weil ja die Leute ganz unterschiedliche Dinge nicht möchten. Heute Abend haben einige der Anwesenden angedeutet, daß sie bereit wären, aufs Internet zu verzichten, was für viele andere ganz undenkbar wäre. Das Lebensgefühl, gleichzeitig mit Leuten auf der ganzen Welt sprechen zu können, ist nicht nur eine Facebook-Erfindung, sondern funktioniert, weil es eine enorme Attraktivität hat. Und daran hängt in hohem Maße das Bewußtsein, daß wir alle in einer Welt leben. Selbst mit der fortschreitenden Aufklärung haben die Menschen lange Jahre bis in den Fordismus hinein noch so gelebt, als ob es irgendwo auf der Landkarte eine Grenze gibt, jenseits derer die Löwen hausen. Das ist vorbei, wenn die Bewegungen quer über den Globus springen und viele Leute wissen, wo die Flüchtlinge herkommen, die vor ihrer Tür stehen, und wie diese Dinge zusammenhängen. Das ist erst einmal ein Vorteil und bietet viele Möglichkeiten.

SB: In einer Studie des wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung zur Transformation ist unter anderem von einem Zusammengehen mit der Zivilgesellschaft die Rede. Ist der Transformationsbegriff Ihrer Partei ein anderer als der dieses Gremiums?

CK: Die Transformationsvorstellung der Stiftung Wissenschaft und Politik, die ja eine sehr regierungsnahe Institution ist, hat stark mit dem zu tun, was ich mit Transformation innerhalb des Kapitalismus gemeint habe. Wenngleich er durchaus soziale Verbesserungen und Fortschritte einschließt, ist es doch ein anderer Transformationsbegriff als unserer. Ein "Zusammengehen mit der Zivilgesellschaft" kann auch angestrebt werden, um die Lücken des neoliberalen Sozialstaates zu füllen. "Die" Zivilgesellschaft ist ja von denselben Widersprüchen durchzogen, wie der Staat auch. Für uns geht es darum, (dort) Verbündete zu finden, mit denen wir die Kräfteverhältnisse verschieben können: nach links, in Richtung mehr soziale Gerechtigkeit, Überwindung von Neoliberalismus und Kapitalismus.

SB: Vor wenigen Tagen haben sich zwischen drei- und fünftausend Kohlegegner in der Lausitz versammelt und dort zeitweise eine Grube besetzt. Wie werden solche Bewegungen zumeist jüngerer Leute von der Linkspartei wahrgenommen und welche Formen der Zusammenarbeit haben sich etabliert?

CK: Ich würde sagen, daß nicht wenige Leute der LINKEN auch in der Lausitz vorne mit dabei waren. Es gibt in Brandenburg allerdings auch LINKE, die den Kohleausstieg nicht in gleicher Weise befürworten. Grundsätzlich ist es so, daß DIE LINKE in Bewegungen wie der gegen TTIP, bei Blockupy und vielen anderen ohnehin vertreten ist, so daß es Überschneidungen gibt und Zusammenarbeit auf verschiedene Weise und unterschiedlichen Ebenen stattfindet.

Das hat auch eine konzeptionell-strategische Seite. Wir leben nicht mehr in einer Zeit, in der wir eine Avantgarde-Partei haben, wären oder auch nur wünschen. Wir sprechen von einer "verbindenden" Partei, was an Antonio Gramsci anknüpft. Das habe ich vorhin in der Diskussion gemeint, als ich von einer gesellschaftlichen Partei sprach, die man sich als Anklingen von Gegenmacht vorstellen muß. Daher ist es der Ansatz der LINKEN, mit möglichst vielen dieser Gruppen und Organisationen Verbindung aufzunehmen. Praktisch und im strategischen Austausch mit sozialen Bewegungen und Gewerkschaften.

SB: Frau Kaindl, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnote:

[1] Der Soziologe Stuart McPhail Hall zählte zu den wichtigsten Intellektuellen marxistischer Orientierung und galt als einer der führenden Kulturtheoretiker Großbritanniens. Er war einer der Begründer und Hauptvertreter der Cultural Studies und gab antikolonialistischen und antiimperialistischen Bewegungen wichtige Impulse.


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25. Juli 2016


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