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INTERVIEW/111: Messe links - vorverurteilt ...    Inigo Schmitt-Reinholtz im Gespräch (SB)


Interview am 3. November 2018 in Nürnberg


Bei der 23. Linken Literaturmesse in Nürnberg stellten die Rechtsanwälte Inigo Schmitt-Reinholtz und Manfred Hörner aus dem Verteidigerkollektiv die von ATIK und der Roten Hilfe herausgegebene neue Broschüre "Der TKP/ML-Prozess in München" [1] vor und gaben einen Überblick über dieses Verfahren. Seit dem 17. Juni 2016 findet vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts München einer der größten politischen Prozesse in der Geschichte der Bundesrepublik statt. Angeklagt sind zehn Genossinnen und Genossen, die nach Auffassung der Bundesanwaltschaft dem Auslandskomitee der Kommunistischen Partei der Türkei/Marxisten-Leninisten (TKP/ML) angehören sollen.

Im Anschluß an die Informations- und Solidaritätsveranstaltung [2] beantwortete Inigo Schmitt-Reinholtz dem Schattenblick einige Fragen.


Stehend nach dem Gespräch - Foto: © 2018 by Schattenblick

Rechtsanwalt Inigo Schmitt-Reinholtz
Foto: © 2018 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Wenn es heißt, dieser Prozeß werde nicht im Gerichtssaal, sondern auf der Straße entschieden - wie definiert die Verteidigung der Angeklagten dann ihre Rolle in diesem Verfahren?

Inigo Schmitt-Reinholtz (ISR): Wir leisten natürlich Widerstand gegen die Vorwürfe der Anklage im Gerichtssaal, und dadurch zieht sich dieser Prozeß auch so lange hin und kann nicht, wie es das Oberlandesgericht vielleicht beabsichtigt hatte, innerhalb eines halben oder Dreivierteljahres durchverhandelt werden. Aber der Druck, der von außen kommt, ist zweifellos ebenso wichtig und beeinflußt meines Erachtens am Ende die Strafzumessung, aber zugleich bereits im Verlauf des Verfahrens, wie über die Anträge, die wir unablässig stellen und die natürlich auch politisch-juristischen Inhalt haben, entschieden wird. Von daher muß klar sein, daß dieser Prozeß nicht im abgeschlossenen Kämmerlein stattfinden darf, weil die deutsche Öffentlichkeit etwa nur begrenzt Interesse daran hätte. Vielmehr ist doch eine relativ breite Öffentlichkeit präsent, die aufmerksam verfolgt, was mit den zehn Angeklagten passiert.

SB: Derartige Mandate in politischen Prozessen zu übernehmen dürfte im Berufsstand der Anwältinnen und Anwälte keine Selbstverständlichkeit sein.

ISR: Es gibt bundesweit eine kleine Zahl von Anwälten, die speziell für Mandanten aus dem linken politischen Spektrum da sind und sie bei Anklagen verteidigen. Dazu gehören alle 20 Verteidiger, die an diesem Verfahren vor dem Oberlandesgericht München beteiligt sind. Wenngleich es noch weitere Anwälte gibt, die solche Mandate übernehmen, ist hier schon ein großer Ausschnitt aus dieser Gruppe präsent.

SB: Wie geht das Verfahren weiter und was bedeutet das für die Angeklagten, die inzwischen aus der Untersuchungshaft freigekommen sind?

ISR: Auch die aus der Untersuchungshaft entlassenen Mandantinnen und Mandanten sind natürlich weiterhin Angeklagte und müssen zu jedem Verhandlungstag erscheinen. Die Haftbefehle sind nicht aufgehoben, sondern nur außer Vollzug gesetzt worden. Sie hängen also wie Damoklesschwerter über diesen sieben Leuten. Ihnen wurden gewisse Auflagen gemacht, wie Wohnsitznahme und regelmäßige Teilnahme am Prozeß, und unter diesen Auflagen durften sie die Justizvollzugsanstalt verlassen. Hintergrund ist offenbar auch eine Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach eine Untersuchungshaft unverhältnismäßig wird, wenn etwa die Hälfte der zu prognostizierenden Strafe abgegolten ist. Wird später eine Strafe verhängt, besteht im Strafvollzug die Möglichkeit einer Halb- oder Zweidrittelstrafe, während der Rest zur Bewährung ausgesetzt wird. Dehnt man die Untersuchungshaft über diesen Zeitraum hinaus aus, haben die Angeklagten diese Möglichkeit nicht mehr. Das wäre nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts unverhältnismäßig, sofern nicht eine besondere Gefahr von den Angeklagten ausgeht, was hier ohnehin nicht zur Debatte steht. Deswegen können wir auch schon in Konturen absehen, wo das Oberlandesgericht am Ende die Margen setzen will.

SB: Das Münchner Verfahren gegen mutmaßliche Mitglieder der TKP/ML stellt insofern eine Steigerung repressiven Vorgehens dar, als erstmals eine Organisation auf diese Weise ins Visier genommen wird, die in Deutschland nicht verboten ist. Schlägt sich diese Verschärfung auch im Umgang mit den Angeklagten wie insbesondere den Haftbedingungen nieder?

ISR: Die Haftbedingungen entsprechen jenen, die stets in Verfahren nach 129a und 129b zur Anwendung kommen. Es läuft das gesamte Programm ab, das bereits 1976/77 im Rahmen des "Deutschen Herbstes" mit RAF-Gefangenen eingeführt worden ist. Die Strafprozeßordnung wurde damals bezüglich dieser Verfahren ganz erheblich verschärft, und die meisten dieser Regelungen sind nach wie vor in Kraft. Wie es Erhan Aktürk vorhin geschildert hat, wird ein ganzer Trakt freigeräumt, um die Bedingungen der Isolationshaft zu schaffen. Kein Kontakt zu anderen Gefangenen, auch der Hofgang wird allein absolviert, der Verteidigerverkehr ist beschränkt und weitere Maßnahmen mehr.

SB: Isolationshaft war in der Vergangenheit ein Thema, das sehr kontrovers thematisiert wurde. Damals wurde sie unter sogenannte weiße Folter gefaßt. Ist das heute überhaupt noch ein Gegenstand öffentlicher Wahrnehmung und Auseinandersetzung oder wird es als selbstverständlich hingenommen?

ISR: In der Öffentlichkeit ist dieses Thema ziemlich durch, weil die RAF-Verfahren eine gewisse Testphase darstellten, was erlaubt und was nicht erlaubt ist. Damals haben die Verteidiger erheblichen Druck gemacht und sind immer wieder vor das Bundesverfassungsgericht gezogen. Inzwischen sind durch die Rechtsprechung Leitplanken eingezogen worden, was erlaubt, noch erlaubt oder nicht mehr erlaubt ist. Anhand dieser Leitplanken wird das jetzt als Paket an Maßnahmen durchgezogen.

SB: Die Gefangenen sind sicher nicht grundlos auf verschiedene Städte in Bayern verteilt worden. Gibt es zwischen den verschiedenen Orten eine Verbindung, was die Solidarität mit den Inhaftierten betrifft?

ISR: Die Verteilung erfolgte natürlich gezielt. Was die Solidarität betrifft, war sie in einigen Fällen stärker, in anderen weniger stark. Es kommt sehr darauf an, wo die Leute jeweils einsitzen. Unser Mandant Dr. Sinan Aydin war anfangs in Kaisheim inhaftiert. Ich möchte Kaisheim nicht zu nahe treten, aber es liegt ungefähr dort, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Dort war nicht viel los. In München, Nürnberg und Augsburg ist es anders, das ist wirklich unterschiedlich.

SB: Bei politischen Prozessen gegen kurdische und türkische Linke ist es um die solidarische Präsenz auf der Straße vor den Gefängnissen oftmals nicht allzu gut bestellt. Habt ihr auch die Erfahrung gemacht, daß innerhalb der deutschen Linken Gleichgültigkeit oder gewisse Vorbehalte anzutreffen sind?

ISR: Eigentlich nicht. Wobei man natürlich klären müßte, was noch unter links fällt. Die 129a-Gesetzgebung ist ja unter einer sozial-liberalen Regierung beschlossen worden. Da gibt es sicher Teile, die sich selbst als links begreifen, die ich aber nicht mehr unter Linke zählen würde. Aber unter denjenigen, die ich als links bezeichne, ist durchaus Solidarität anzutreffen, wobei es eben immer einige gibt, die sich mehr engagieren, und andere, die das nicht in diesem Maße tun. Aber insgesamt gesehen wird der Prozeß solidarisch begleitet.

SB: Unter den türkischen und kurdischen Linken werden durchaus ideologische Kontroversen ausgetragen. Kommen diese Auseinandersetzungen oder unterschiedlichen Auffassungen auch unter den politischen Gefangenen zum Tragen oder überwiegen die Gemeinsamkeiten angesichts staatlicher Angriffe?

ISR: Wenn man es auf den Punkt bringt, hat vielleicht jeder Mensch seine eigene politische Meinung, und es gibt engere und weniger enge Beziehungen zwischen verschiedenen Gruppen. Das ist bei den Gefangenen nicht anders. Auch unter den Angeklagten gibt es engere und weniger enge Kontakte, aber grundsätzlich kämpfen sie es alle gemeinsam durch. Sollte es hier und da unterschiedliche Auffassungen geben, werden sie jedenfalls in der Prozeßsituation begraben, so daß alle auf einer Linie sind.

SB: Was wäre mit Blick auf die Solidarität mit den Angeklagten und insbesondere den Gefangenen vordringlich und wünschenswert?

ISR: Zum Prozeß kommen, fast jeden Monat findet vor dem Oberlandesgericht München auch eine Demonstration statt, entsprechende Veranstaltungen organisieren und besuchen, Leute auf dieses Thema ansprechen, den Gefangenen schreiben und manches mehr.

SB: Vielen Dank für dieses Gespräch.


Transparent 'Freiheit für alle politischen Gefangenen!' - Foto: © 2018 by Schattenblick

Foto: © 2018 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] Rote Hilfe e.V. und ATIK (Hg.): Der TKP/ML-Prozess in München, 2018, Broschüre A4, 31 Seiten, 2,00 Euro
zu beziehen über: literaturvertrieb@rote-hilfe.de

[2] http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbrb0090.html


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