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INTERVIEW/139: 24. Linke Literaturmesse - Freiheit, Demokratie und sozialistisches Ansinnen ...    Astrid Schmeda im Gespräch (SB)


Interview am 2. November 2019 in Nürnberg


Foto: © 2019 by Schattenblick

Astrid Schmeda
Foto: © 2019 by Schattenblick

Begriffe wie Résistance - Widerstand - haben häufig weit über das linke Spektrum hinaus einen guten Klang. Im Falle Frankreichs gehört "La Résistance" zum Gründungsmythos der Vierten Republik, die sich 1946 neu konstituierte und ihren Platz im Kreis der westlichen Siegermächte einnahm. Ungeachtet des hohen Stellenwertes, den der wesentlich von linken und kommunistischen Akteuren geleistete Widerstand nach dem Krieg einnahm, blieb der in Westeuropa auflodernde Antikommunismus auch in Frankreich nicht ohne Folgen.

Aus Sicht der alten Welt galt es auf Biegen und Brechen zu verhindern, daß noch mehr Staaten als bereits geschehen sich ihrer Kontrolle entziehen und einen Weg zu Sozialismus und Kommunismus einschlagen. Die Kommunistische Partei Frankreichs, die in der Résistance eine große Rolle gespielt hatte, übernahm dabei eine regulierende Funktion. Sie propagierte - wie viele andere kommunistische Parteien westeuropäischer Staaten - einen als Eurokommunismus titulierten dritten Weg, ausgewiesen als eine Art Symbiose zwischen den bisherigen bürgerlichen Demokratien und sozialistischen Ideen.

All dies ist sattsam bekannt. Wie aber Menschen, die in jener Zeit gelebt, gelitten und gekämpft haben, auf der Basis ihrer eigenen Lebenserfahrungen über die Résistance, die Kommunistische Partei und die weitere Entwicklung Frankreichs gedacht haben mögen, ist eine Frage, die sich mit den Instrumenten historischer Faktenerfassung kaum berühren läßt. Umso wichtiger können Zeugnisse Betroffener sein, gerade weil sie den sogenannten subjektiven Faktor nicht ausblenden und deshalb für spätere Generationen vermittel- und nachvollziehbar machen, was es bedeutet hat, im Widerstand gegen die deutschen Besatzer und die allgegenwärtige Gestapo zu stehen.

Ein solches Dokument ist die Autobiographie der am 30. Oktober 1923 in Saint-Cast-le-Guildo in der Bretagne geborenen späteren Neurophysiologin und Kommunistin Anne Beaumanoir, die in diesem Jahr in deutscher Übersetzung in der Edition Contra-Bass [1] unter dem Titel: "Wir wollten das Leben ändern - Band 1: Leben für Gerechtigkeit. Erinnerungen 1923 bis 1956" erschienen ist [2]. Astrid Schmeda, Lektorin des Verlags, die auch selbst Romane, Erzählungen und Essays schreibt, stellte das Buch auf der 24. Linken Literaturmesse in Nürnberg vor. Dabei bot sich dem Schattenblick die Gelegenheit, mit ihr über "Anne Beaumanoir: Wir wollten das Leben ändern" sowie die heute noch in Sachen Aufklärung über ihre Zeit in der Résistance aktive Französin zu sprechen.


Schattenblick (SB): Astrid, würdest du kurz erläutern, warum du gerade das Buch über Anne Beaumanoir für die Literaturmesse ausgewählt hast?

Astrid Schmeda (AS): Ich würde zunächst gerne ein paar Worte dazu sagen, wie wir darauf gekommen sind, dieses Buch zu machen. Es ist eine Übersetzung aus dem Französischen von Gerd Stange. Dazu muß ich gleich ein bißchen ausholen: Gerd Stange und ich machen den Verlag und leben seit zwanzig Jahren hauptsächlich in Südfrankreich. Deshalb haben wir eine starke Orientierung auf die französische Geschichte, Politik und Literatur, womit wir uns sehr auseinandersetzen. Ein Thema, das dabei von Anfang an, seit wir nach Frankreich gekommen sind, immer eine große Rolle gespielt hat, ist die Résistance und die Zeit der deutschen Besatzung.

Das hatten wir uns vorher gar nicht so überlegt, aber wir sind da sehr schnell hineingekommen, weil uns als in Frankreich lebenden Deutschen die deutsche Vergangenheit sozusagen entgegengebracht wurde. Das hat uns sehr berührt und beschäftigt. Ich habe dann auch viel recherchiert und selber Erzählungen dazu geschrieben und Bücher gemacht. Dann sind wir durch einen befreundeten Journalisten auf einen Ort gestoßen, der heißt Dieulefit und liegt in der Drôme. In seiner Nähe finden seit vielen Jahren Bildungsurlaubsveranstaltungen des Bildungsträgers "Arbeit und Leben" statt. [3]

Dieulefit ist ein besonderer Ort, weil dort während der deutschen Besatzung insgesamt etwa tausend Juden versteckt wurden. Das ist ungewöhnlich und anders als in allen anderen Orten. Eigentlich ist es sonst kaum vorgekommen, daß es keine einzige Denunziation gab. Die in Dieulefit versteckten Menschen sind alle durchgekommen. Das war eine sehr geschlossene Gemeinschaft, was nicht heißt, daß alle Bewohner dieses Ortes auch derselben Seite gestanden hätten. Es gab auch Vichy-Leute, aber die haben aufgrund der Solidarität, die dort herrschte, einfach den Mund gehalten und haben das, auch in den Familien, mitgetragen. So sind wir auf diesen Ort gestoßen, und Anne Beaumanoir lebte da ganz in der Nähe, im nächsten Nachbardorf.


Foto: Anonym Unknown Author, [Public domain] via Wikimedia Commons

Anne Beaumanoir - Aufnahme vermutlich von 1940
Foto: Anonym Unknown Author, [Public domain] via Wikimedia Commons

SB: Kennst du sie persönlich?

AS: Ja. Anne Beaumanoir ist jetzt 96. Dieser Freund von uns, ein Kölner Journalist, hat uns auf sie angesprochen, weil sie regelmäßig in den Seminaren auftritt, um aus ihrer Zeit in der Résistance zu erzählen. Er hat uns auf sie aufmerksam gemacht, weil er wußte, daß ich bereits mehrere Bücher über spannende Frauen gemacht habe, und hat dann gefragt, ob wir nicht auch über sie ein Buch machen wollten. Schon vor 20 Jahren hatte sie ihre eigene Biographie geschrieben, die wir dann zur Grundlage genommen haben. Wir fanden, daß da einiges fehlte. Gerd hat dann mit ihr zusammen daran gearbeitet und das Buch noch einmal neu gestaltet.

Anne Beaumanoir ist eine fantastische Frau mit einem sehr guten Erinnerungsvermögen, was man auch an dem Buch merkt. Sie hat Unglaubliches erlebt und erinnert sich an sehr viele Kleinigkeiten, vor allen Dingen auch an die ganzen Namen usw. In den letzten Jahren ist sie an Schulen sehr aktiv gewesen. Sie besucht Schulklassen, um von ihrer Zeit in der Résistance zu berichten. Gerd ist einmal mitgefahren und hat erlebt, wie sie vor 60 Schülern ihre Geschichte erzählte. Sie tat das sehr engagiert, weil sie den Kindern und Jugendlichen etwas für ihr Leben mitgeben will. Nach einer solchen Konferenz war Gerd nur vom Zuhören ziemlich erledigt, sie aber hatte am selben Tag noch zwei weitere Veranstaltungen. Sie bringt sehr viel Energie für diese Dinge auf. Sie ist, wie ich finde, eine sehr bewundernswerte Frau.

SB: Die Lebensgeschichte von Anne Beaumanoir füllt ein ganzes Buch. Ließe sich das, was sie erlebt hat, dennoch auf einen kurzen Nenner bringen? Was, würdest du sagen, ist das Wesentliche?

AS: Das sind, wie ich finde, eigentlich drei Punkte. Zum einen haben mich ihre Herkunft, ihre Eltern und die Familie, aus der sie stammt, sehr beeindruckt. Sie ist im Norden Frankreichs in einem kleinen Ort geboren und hatte unglaublich liebevolle Eltern. Die Großmutter spielte auch eine Rolle. Sie war Analphabetin. Die kleine Anne findet in dem Moment, in dem sie selbst Lesen und Schreiben lernt, die Großmutter sollte das auch lernen, und dann bringt sie es ihr bei. Die Eltern waren sehr offen eingestellt. Der Vater war später auch im Widerstand, ohne daß die Mutter und die Tochter das wußten. Sie begegneten sich da aber. Anne kam eigentlich durch die Jugendbewegung in eine politische Orientierung hinein.

SB: In welcher Zeit war das?

AS: Das müssen so die 1930er Jahre gewesen sein. Anne ist 1923 in der Bretagne geboren, am Ende des Krieges in Frankreich war sie also 21. Anfang des Jahrhunderts waren die Jugendherbergen entstanden, die, wie wir jetzt in verschiedenen Büchern nachgelesen haben, eine große Rolle in der jugendlichen Aufbruchbewegung spielten, auch, was das Zusammensein der Geschlechter betraf. Die Mädchen trugen dort Shorts und so weiter. Als dann 1939 der Krieg ausbrach, bedeutete das für die Franzosen erst einmal noch eine Stillstandsphase, weil die Deutschen zuerst Polen angegriffen haben. Doch dann, im Juni 1940, haben sie mit einer ziemlichen Geschwindigkeit Frankreich eingenommen und den nördlichen Teil besetzt. Und der südliche Teil wurde von Marschall Pétain regiert, der ja auch Faschist war und mit Hitler zusammengearbeitet hat.


Graphik: Eric Gaba (Sting - fr:Sting) for original blanck mapRama for zones [CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)]

Frankreich 1940 bis 1944 unter deutscher Besatzung - besetzte Nordzone (rosa), bis 1942 unbesetzte und dann ebenfalls besetzte Südzone (lila)
Graphik: Eric Gaba (Sting - fr:Sting) for original blanck mapRama for zones [CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)]

Anne Beaumanoir lebte ja in der Bretagne im nördlichen Teil. Als sie noch Schülerin war, hat sich eine Art Résistance entwickelt, in die sie so nach und nach hineingewachsen ist. Sie wurde von Leuten gefragt: "Möchtest du uns nicht helfen, hier 'mal ein Paket dahin zu tragen und so weiter?" Ich würde sagen - jetzt noch einmal zu deiner ersten Frage -, das Erste ist, daß sie diese offene Familie hatte, ein Zuhause, in dem sie sehr viel Liebe empfangen hat. Daher hatte sie eine gewisse innere Stabilität, ein gesundes Selbstbewußtsein und einen ganz starken Gerechtigkeitssinn. Ich würde sagen, daraus ist dann ihre politische Arbeit erwachsen.

Das Zweite in ihrem Leben war dann die Untergrundarbeit. Sie hat sich eigentlich ohne ein fundiertes parteipolitisches Bewußtsein darauf eingelassen, in kommunistisch orientierten Gruppen mitzuarbeiten. Sie ist sozusagen an der Basis eine Art Läuferin geworden, die hier eine Nachricht bekommt: "Du gehst dahin und triffst dort den-und-den, und der sagt dir ein Stichwort und du sagst dann das und das, und dann tut er dir etwas in die Handtasche und das tust du dann wieder da und da hin usw." Das hat sie über die Kriegsjahre hinweg gemacht und ist natürlich auch in sehr gefährliche Situationen gekommen.

Das prägendste Erlebnis - meines Erachtens waren es zwei während der Zeit der Résistance - war, daß sie eines Abends von einer Frau gesagt bekommen hat: "Du mußt jetzt unbedingt den Obersten in der Résistance sagen, daß da und da eine jüdische Familie festsitzt, die wir versteckt haben. Wir haben gehört, daß in Kürze eine Razzia kommt, die Familie muß jetzt gerettet werden." Anne wußte, daß sich die Obersten in der Résistance da gar nicht drum kümmern, daß die das viel zu gefährlich finden würden. Also sagte sie sich, daß sie jetzt selbst etwas tun müsse. Und sie hat das dann tatsächlich allein gemacht. Sie hat die Leute da herausgeholt, obwohl sie überhaupt nicht wußte, wohin mit ihnen. Sie hat sie sogar noch überreden müssen mitzukommen. Die Hälfte der Familie ist dageblieben, weil sie ihr nicht getraut haben. Die beiden Jugendlichen, die nur wenig jünger waren als sie selbst, haben gesagt: "Wir gehen mit."

SB: Ist denn bekannt, was aus denen, die dageblieben sind, geworden ist?

AS: Ja. Es handelte sich dabei um den Vater - die Mutter war schon tot - und um eine junge Frau mit einem Baby, die Frau von einem der Angestellten des Vaters. Die beiden jungen Menschen sind mit ihr gegangen, auch das Baby wurde gerettet und einer jüdischen Organisation übergeben, die sich um Kinder kümmerte. Doch die junge Frau und der Vater sind umgekommen. Sie sind nach der Razzia ins KZ gekommen und sind nicht wiedergekommen. Das Baby wurde in die USA gebracht, ist dort aufgewachsen und glücklich geworden, wenn man das glauben kann, denn es hatte ja eine ganz schrecklich, furchtbare Sache erlebt. Anne hatte klare Anweisungen von der Partei, und die oberste lautete, niemanden aus der Résistance in Gefahr zu bringen. Die oberste Direktive war nicht, auf jeden Fall Menschenleben zu retten, sondern die Organisation nicht in Gefahr zu bringen.

SB: Und die hat sie dann mißachtet?

AS: Ja. Sie hat einfach gefühlt, daß sie das machen muß und hat nicht gezögert. Das finde ich stark. Dazu paßt jetzt die zweite, sehr prägende Geschichte. Sie hat einen Mann getroffen, Roland, der eine Art Vorgesetzter in dieser Résistance-Geschichte war. Sie haben sich gesehen und ineinander verliebt. Liebe unter Genossen war aber verboten, weil das zu gefährlich sei und etwas verraten werden könnte und so weiter. Da haben sie den ersten Ungehorsam gegen die Partei begangen. Sie haben sich geliebt und haben zusammengewohnt, was sie auch nicht durften. Er hatte einen Unterschlupf, sie auch, und sie haben dann bei ihr, wo etwas mehr Platz war, zusammengeschlafen.

Und als Anne dann mit diesen beiden jungen jüdischen Leute auf der Straße stand, hat sie beschlossen, sie zu sich nach Hause zu bringen. Da waren aber schon zwei Leute, die sie einen Tag vorher aufgenommen hatte, weil da auch schon eine Razzia gewesen war. Daher haben sie dann zu sechst in diesem Zimmer gesessen und sie hat überlegt: "Was soll ich machen, was soll ich nur machen?" Und dann war ihr klar, daß ihre Eltern die beiden jungen Leute aufnehmen würden. Die Eltern wohnten aber weit weg. Sie war ja in Paris.

SB: Da hatte sie also wieder einen langen, gefährlichen Weg vor sich?

EG: Sie hat die beiden erst einmal da gelassen. Sie hat das mit ihrem Geliebten, mit Roland abgesprochen. Vorher kam aber noch noch eine andere Geschichte dazwischen, die sie in dem Buch sehr kurz abhandelt, was ich auch ganz typisch finde. Man versteht das kaum. In dem Moment, in dem das alles geschah, war sie nämlich schwanger. Sie spricht sich mit Roland ab und sagt: "In diesem Moment können wir kein Kind bekommen." Sie hatte diese Menschen in ihrem Zimmer und mußte eine Lösung finden und ihren Eltern Bescheid sagen und zwischen all dem ließ sie eine Abtreibung machen. Das erwähnt sie nur so nebenbei - das hat sie wohl selber zu sehr bewegt.

Und dann fährt sie zu ihren Eltern. Die sind einverstanden, daß sie die beiden jungen Leute zu ihnen bringt. Dann verabredet sie mit ihrem Vater, daß er sie abholt, und fährt wieder zurück. Doch bevor der Vater losfahren kann, wird er selbst zum Verhör geholt. Die beiden jungen Leute warten in Paris, doch es kommt niemand. Annes Mutter wartet auf ihren Mann, doch auch der kommt nicht. Und da sagt sich die Mutter: "Dann muß ich hinfahren und die jungen Leute holen." Sie fährt also los und das klappt dann auch.

Man kann sich vorstellen, daß diese Ereignisse in der Résistance eine zentrale Rolle in Anne Beaumanoirs Leben gespielt haben, auch wenn sie später noch lange Zeit weitergekämpft hat bis nach dem Krieg mit Algerien. Ich hatte den Eindruck, daß die Rettung der beiden jungen Leute für sie eine zentrale Geschichte war. Dann kam noch hinzu, daß, nachdem dies passiert und der Parteileitung dadurch auch deutlich geworden war, daß sie und Roland zusammen sind, sie den Befehl von oben bekamen, sich zu trennen. Sie werden in ganz verschiedene Gegenden geschickt.

SB: Du sprichst von der KP Frankreichs?

AS: Ja. Sie werden also voneinander getrennt. Sie sieht ihn nie wieder, denn er wird umgebracht.

SB: Weiß man, wer für seinen Tod verantwortlich ist? Haben die Nazis ihn getötet?

AS: An einer Stelle sagt sie, es seien französische Milizen gewesen. Sie läßt es ein bißchen offen, sagt aber auch, daß sie sich vorstellen könne, daß es die Kommunisten selber waren, weil er nicht genehm war, nicht so stromlinienförmig. Vielleicht hat es da auch noch ganz andere Sachen gegeben, aber das läßt sie wie gesagt offen. Auf jeden Fall ist das für sie eine sehr prägende Geschichte gewesen. Sie war zwanzig Jahre alt, es war eine große Liebe, eine ganz besondere Beziehung, die sie - wie sie das beschrieben hat - "bis jetzt in ihrem Herzen" trägt. Welche Lehre sie aus dem, was sie da erlebt hat, gezogen hat, dazu möchte ich eine kleine Passage aus dem Buch vorlesen aus der Zeit nach der Befreiung. Paris war ja schon im Juli 1944 befreit, als der Krieg noch weiterging:

Es hatte die Résistance gegeben. Ich war 20. Ich kam nach fast zwei Jahren Abwesenheit nach Hause. Wir saßen bei Tisch. Meine Mutter weinte jedes Mal, wenn ich mich an sie wendete. Sie, sonst so geschwätzig, redete nicht. Auch mein Vater blieb schweigsam. Das war bei Oma nicht der Fall. Aufgedreht, verjüngt, lustig, wie so oft. Ich hatte ihnen zwei wichtige Dinge zu sagen. Das erste: mein Eintritt in die Kommunistische Partei. Ich hoffte auf ihre begeisterte Zustimmung. Das war nicht wirklich der Fall. Mama - selbst Kommunistin, jedenfalls glaubte ich das - kommentierte nur, "fast alle im Untergrund waren Kommunisten oder sind es geworden." Mein Vater beschränkte sich auf ein: "Nicht alle!" Oma ging dazwischen: "Du hast recht. Das sind die Besten. Ich jedenfalls habe sie alle angehört, ich - weißt du - ich gehe auf alle Versammlungen." Ich bat um den Segen meines Vaters. Ich bekam ihn gemischt. "Ich kann dazu nichts sagen. Jeder macht seine Erfahrungen. Ich für meinen Teil beobachte schon seit langem die Kommunisten. Manchmal helfe ich ihnen. Aber in ihre Partei eintreten, nein!" Meine zweifelnde Miene brachte ihn dazu weiterzureden. "Sieh mal, das sage ich Mama oft, wenn man genau hinschaut, ist die Hälfte von ihnen damit beschäftigt, die andere Hälfte auszuspionieren." Ich war fassungslos, am Boden zerstört. Wie oft habe ich nicht seitdem die Gelegenheit gehabt, an diese so scharfsichtigen Erklärungen zurückzudenken. Sie hatten mich von absoluter Ja-Sagerei bewahrt.


Das Buch im Großformat - Foto: © 2019 by Schattenblick

Foto: © 2019 by Schattenblick

SB: Du hast erwähnt, daß die Zeit im Untergrund für Anne Beaumanoir sehr prägend gewesen ist. Könntest du das ein bißchen erläutern?

AS: Dazu lese ich am besten noch eine Stelle aus dem Buch:

Nichts hatte sich geändert und alles war anders. Es war so, daß ich anders war, vom Untergrund gezeichnet, den ich für eine ernst zunehmende psychologische Prüfung halte, deren unauslöschliche Auswirkung auf die Persönlichkeit ich noch nicht ermaß. Studentin der Geisteswissenschaften zu sein, wie deine Einschreibung bestätigt, oder Sekretärin zu sein, wie deine Arbeitsbescheinigung anzeigt, wenn du vorhast Arzt zu werden, einen Personalausweis und eine Zuteilungskarte auf den Namen Louise Bonnand zu haben, bevor du Anne Leveneur heißen wirst, um dann Anne Rivière zu werden, wohingegen die einzigen Menschen, die sich direkt an dich wenden, ein anderes Pseudonym gebrauchen, das verlangt eine zerebrale Geschwindigkeit, die ebenso erschöpfend wie destabilisierend ist. Keine Adresse zu haben, außer einer fiktiven und befristeten, hilft nicht dabei, sich neue Orientierungspunkte zu schaffen. Man wird sein eigener Schatten. Allein auf der Welt in einer feindlichen Welt ist jede Geste ein Sieg gegen die Angst, verhaftet und gefoltert zu werden und, noch schlimmer, zu reden.

SB: Deine bisherigen Schilderungen haben anklingen lassen, daß Anne Beaumanoir zwar der Kommunistischen Partei beigetreten ist, aber doch Konflikte mit ihr hatte. Wie hat sich dieses zwiespältige Verhältnis weiterentwickelt?

AS: Auch dazu möchte ich sie am liebsten selbst sprechen lassen:

Von außen betrachtet, kann man das Leben im Widerstand, sei es ganz oder teilweise im Untergrund, als eine Abfolge von starken Gefühlen, von Entdeckungen, außergewöhnlichen Begegnungen, bereichernden Wanderjahren in neuen Freundschaften betrachten. Nichts davon stimmt. Jedenfalls nicht für die Soldateska und vor allem nicht, wenn sie sich in Gruppen kommunistischer Zugehörigkeit engagiert. Von jeglicher freien Diskussion ausgeschlossen und unter dem Verbot eigener Initiative war der Basisaktivist mehr noch der Beraubung seiner selbst ausgesetzt, er beneidete die Unerreichbaren, die Strategien des Widerstands entwickelten und über die Möglichkeit nachdachten, wie man die bessere Zukunft vorbereiten könnte. Diese schleichende Bewegung in die Entblößung des Selbst inhalierte sich tatsächlich in unserer Gesellschaft, die durch Sicherheitsvorschriften komplett von der Außenwelt abgeschlossen war und wahrscheinlich auch durch ein hinterhältiges Mißtrauen der oberen Ränge der KP jungen Intellektuellen gegenüber, die sich der Partei im Verlauf des nationalen Kampfes gegen die Nazibesatzer angeschlossen hatten. Es brauchte dafür mehrere Jahre, etwa zehn in meinem Falle, daß diese aus der Résistance geborenen Kommunisten sich Fragen über die Politik der Partei während dieser finsteren Jahre stellten.

Anne Beaumanoir erzählt in dem Buch auch, wie sich in ihr - das war in Lyon - schleichend das Gefühl entwickelte, zum Roboter gemacht zu werden, am Rande der Gesellschaft, aber auch ihrer selbst zu leben. Das hat mich sehr berührt. Es hat mir sehr viel deutlich gemacht, wie sie dieses Roboterhafte des Untergrundaktivisten beschreibt und herausfindet, was das mit ihr macht, wie sie Fähigkeiten verliert, nämlich selbst zu denken, zu entscheiden und überhaupt zu wissen, worum es eigentlich geht.


Astrid Schmeda spricht, neben ihr das Buch - Foto: © 2019 by Schattenblick

Das Roboterhafte des Untergrundaktivisten ...

Foto: © 2019 by Schattenblick

SB: Haben diese Empfindungen und Erlebnisse sie dazu bewogen, mit der KP zu brechen?

AS: Sie ist danach noch weiter in kommunistischen Zusammenhängen tätig gewesen. Mit der Partei hat sie nicht sofort gebrochen. Sie sagte ja, zehn Jahre hätte sie gebraucht. Ich glaube, 1956 ist sie ausgestiegen. So lange hatte sie noch in verschiedenen, vor allen Dingen in Jugendorganisationen gearbeitet. Was vorher eigentlich Untergrund gewesen und jetzt eben Parteipolitik geworden war, hat sie immer mehr abgestoßen, die ganzen Intrigen und was es sonst immer noch so gibt wie in jeder Partei. Dann hat sie einen Mann kennengelernt, den sie auch geheiratet hat. Sie ist Medizinerin geworden und in der Forschung tätig gewesen. Eines Tages bekam sie aus Moskau eine Einladung, dort zu arbeiten. Sie beschreibt dann auch, welche Erfahrungen sie in der Zeit, wie viele andere auch, die nach Moskau oder in die Sowjetunion gegangen sind, gemacht hat.

SB: Das müßte in den 1950er Jahre gewesen sein?

AS: Genau. Anfang der 50er. 1956 hat sie in Rußland den Aufstand in Ungarn mitbekommen und die Reaktionen der Russen, der Leute, die sie da kennengelernt hatte, auf den Einmarsch sowjetischer Truppen. Sie ist dort Menschen begegnet, die gar nicht glauben konnten, daß das tatsächlich russische Soldaten waren, die da einmarschiert sind. Das müssen irgendwelche Soldaten gewesen sein, die einfach ohne Befehl dahingegangen sind, wurde vermutet. Ich glaube, das war für Anne Beaumanoir ein Punkt zu sagen: "Jetzt ist Schluß, das kann nicht meine Richtung sein." An dieser Stelle hört das Buch auf, ihr Tagebuch geht jedoch weiter.

SB: Wird denn der weitere Text auch noch veröffentlicht?

AS: Ja. Wir fanden es gut, daraus zwei Bücher zu machen, weil es sonst ein zu dicker Wälzer geworden wäre. Und es sind auch wirklich zwei Geschichten. Der zweite Band wird noch herausgekommen, Gerd Stange ist schon dabei, ihn zu übersetzen. Dabei geht es um Algerien. Anne Beaumanoir hat sich auf die Seite der Unabhängigkeitsbewegung gestellt und ist dafür von Frankreich aus in den Knast gekommen. Sie konnte fliehen, ist nach Algerien gegangen und dort Gesundheitsministerin geworden. Als dort der Terror einsetzte, mußte sie abermals fliehen. Sie durfte lange Zeit nicht zurück nach Frankreich, weil sie dort noch unter Strafe stand. Sie hat dann in der Schweiz gelebt, bis sie, ich glaube unter Mitterand, wieder nach Frankreich kommen durfte.

Das ist der spätere Teil ihrer Lebensgeschichte, die jetzt noch kommt. Es ist ein anderes Thema, aber natürlich auf gewisse Weise derselbe Strang. Der erste Band heißt ja "Wir wollten das Leben ändern. Leben für Gerechtigkeit". Der zweite wird dann heißen: "Leben für Freiheit". Das sind die beiden Begriffe, die bei ihr eine große Rolle gespielt haben.

SB: Vielen Dank, Astrid, für das lange Gespräch.


Fußnoten:


[1] http://www.contra-bass.de/

[2] Wir wollten das Leben ändern. Band 1: Leben für Gerechtigkeit. Erinnerungen 1923 bis 1956, Edition Contra-Bass, Hamburg, 2019, ISBN 978-3-943446-41-8.

[3] https://www.arbeitundleben.de/


Berichte und Interviews zur 24. Linken Literaturmesse in Nürnberg im Schattenblick unter:
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5. Dezember 2019


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